Indiens Guerilleros verlieren an Terrain
IM bevölkerungsreichen Nordosten Indiens brechen seit der Unabhängigkeit des Landes immer wieder Unruhen aus. Allein in den letzten zwölf Monaten sollen durch Aktivitäten der Guerilla mehr als tausend Menschen ums Leben gekommen sein. Durch eine außenpolitische Öffnung Indiens geraten die Gruppen jedoch zunehmend unter Druck. Am 19. Mai hat der neue indische Premierminister Inder Kumar Gujral allen bewaffneten Gruppierungen im Nordosten Verhandlungen ohne Vorbedingungen angeboten – eine geschickte Geste, die Neu-Delhi eine Verbesserung des geopolitischen Umfelds eingetragen hat.
Von ROBERT BRYNIKI *
Der indische Nordosten grenzt im Norden an Bhutan und Tibet, im Osten an Birma und im Süden und Westen an Bangladesch. Er besteht aus sieben Bundesstaaten mit insgesamt 30 Millionen Einwohnern; davon leben allein 22 Millionen in Assam. In der Region sind verschiedene Ethnien ansässig – Tibet-Birmanen, Khmer, Südinder, indische Kastenangehörige und Migranten aus Bangladesch. Sie stellt zugleich für Indien die Verbindung zur Welt jenseits des Himalaya dar, zu China und vor allem zu Südostasien.
Der Nordosten war von Mongoleneinfällen weitgehend verschont geblieben. Erst im 19. Jahrhundert wurde er dann von den Briten direkt an Indien angegliedert. Eine Reihe politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen, die die Engländer in der Folgezeit nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ trafen, schürte die Unruhe zwischen den einzelnen Ethnien. Dies galt vor allem für Assam, wo die alteingesessenen Hindu-Eliten fürchteten, ihre führende Rolle an bengalische Einwanderer abtreten zu müssen, die von den Kolonialherren in der Verwaltung eingesetzt wurden. Und da die einheimische Bevölkerung, die einer animistischen Religion angehörte, sich weigerte, in den Teeplantagen der Engländer zu arbeiten, importierten die Briten zudem mittellose Bevölkerungsgruppen aus anderen Teilen Indiens als Arbeitskräfte. Diese Maßnahme sollte die Spannungen zwischen den Gemeinschaften zusätzlich schüren.
Die ethnische Mischung wurde nach der Unabhängigkeit des Landes noch explosiver. Nach den Unruhen in Ost-Pakistan Ende der sechziger Jahre suchten die dort ansässigen Hindus Zuflucht in Indien, und 1971 trafen Millionen muslimischer Wirtschaftsflüchtlinge aus dem neu entstandenen Bangladesch im indischen Nordosten ein. Zwischen den Jahren 1979 und 1985 wurde Assam von einer umfassenden Protestbewegung erschüttert, die sich gegen die Anwesenheit von „Ausländern“ richtete. Die Spannungen zwischen den Gruppen eskalierten und forderten Tausende Menschenleben, vor allem unter den Bangladeschern. 1985 unterzeichneten Vertreter der führenden Organisationen, die die Bewegung in Assam anführten, ein Abkommen mit dem damaligen Premierminister Radschiw Gandhi. Demnach sollten nur jene Einwanderer ausgewiesen werden, die nach 1971 angekommen waren und als Ausländer galten. Dieses Abkommen wurde aber niemals wirklich umgesetzt, so daß die „Ausländerfrage“ ungelöst blieb.
Unterdessen wurde die Region Jahr für Jahr von den Überschwemmungen des Brahmaputra verwüstet, dessen Fluten Menschen, Vieh und Pflanzungen mit sich fortreißen, wenn ihn der Monsunregen – der heftigste in ganz Indien – anschwellen läßt. Die Ausbeutung der wenigen natürlichen Ressourcen wie Teakholz, Tee und vor allem Erdöl ist seit der indischen Unabhängigkeit in der Hand weniger Privilegierter, die im allgemeinen nicht aus dem Nordosten stammen. Die einheimische Bevölkerung wird so um die Erzeugnisse ihres Landes gebracht, diese koloniale Wirtschaftsform bringt ihr kaum einen Vorteil. Andererseits wird immer deutlicher, welche ökologischen Schäden die Abholzung der Wälder und die Erdölförderung zur Folge hat. Daß diese Situation den Behörden vor Ort wie auf Bundesebene gleichgültig blieb, begünstigte die Entstehung bewaffneter Separatisten-Bewegungen, die der indischen Regierung Imperialismus oder Kolonialismus vorwarfen.
Zum Zeitpunkt der indischen Unabhängigkeit wurde der Nordosten in vier große Staaten aufgeteilt: Assam, Manipur, Tripura und die „Agentur der nordöstlichen Grenze“ (Nefa). Bei dieser summarischen Aufspaltung wurde keinerlei Rücksicht auf die vielen einheimischen Populationen genommen, die abgeschieden in den Hügeln über dem Tal des Brahmaputra leben. Die Entstehung von Autonomiebestrebungen nach der indischen Unabhängigkeit war auch eine Folge dieser Isolation.
Die Nagas, die aus verschiedenen tibetisch-birmanischen Stämmen bestehen, riefen bereits 1947 eine Separatistenbewegung ins Leben. Diese wurde aber zunächst von der Armee niedergeschlagen, die zur „Befriedung“ der Gebiete an der birmanischen Grenze entsandt worden war. Da es in der Folge aber immer wieder zu Ausschreitungen kam, wurde den Nagas schließlich im Jahre 1963 die Bildung von Nagaland zugestanden, einem autonomen Staat innerhalb der indischen Union. Mit dieser halbherzigen Maßnahme will sich jedoch der radikale Flügel der Naga-Guerilla, der sich 1975 im Sozialistischen Nationalrat von Nagaland (NSCN) zusammenschloß, nicht zufriedengeben. Die zugleich maoistische und christliche Bewegung wird von Pakistan – bis zu Beginn der achtziger Jahre auch von China – unterstützt und aus dem birmanischen Heroinhandel finanziert.
Auf die sprunghafte Zunahme der separatistischen Bewegungen in den siebziger und achtziger Jahren reagierte die Zentralregierung mit den bekannten Mitteln: Zunächst wurden die bewaffneten Aufstände militärisch niedergeschlagen und dann autonome Staaten geschaffen. So entstanden 1972 Meghalaya, 1986 Mizoram und 1987 Arunachal Pradesch, Gebiete, in denen die Situation seither relativ friedlich blieb. Andernorts waren die Befriedungsmaßnahmen der indischen Behörden jedoch weniger erfolgreich. So vor allem bei den radikaleren bewaffneten Gruppierungen, wie der Armee zur Befreiung des Volkes (PLA) und der Vereinigten Nationalen Befreiungsfront (UNLF) in Manipur, bei den Freiwilligen Nationalen Kräften (TNVF) und den Streitkräften aller Tiger (ATTF) in Tripura sowie bei der Vereinigten Befreiungsfront (ULFA) in Assam.
In Assam fordern die politischen Parteien der Bodo die Bildung eines eigenen, von Assam unabhängigen Bodo-Staates. Zwei radikalere, bewaffnete Gruppierungen, die Sicherheitskräfte der Bodo (BSF) und die Befreiungskräfte der Bodo-Tiger (BLTF), haben in den letzten Jahren mit einem ethnischen Säuberungsprojekt von sich reden gemacht. Ihr Ziel ist es, die gesamte Nicht-Bodo-Bevölkerung vom Südufer des Brahmaputra zu vertreiben. Massaker und Mordanschläge, wie am 30. Dezember letzten Jahres, als eine Bombe der BLTF in einem Zug dreißig bis dreihundert Menschen tötete1 , zeigen allmählich ihre Wirkung: Zehntausende, vor allem Bangladescher, wurden von ihrem Land vertrieben und drängen sich in Lagern zusammen, in denen seit Sommer 1996 Hunderte Kinder an Unterernährung gestorben sein sollen.
Um den verschiedenen separatistischen Tendenzen entgegenzuwirken, bedient sich die indische Regierung seit 1956 eines Gesetzes, das die Armee mit Sonderbefugnissen ausstattet. Demnach ist es den 200000 in der Region stationierten Soldaten erlaubt, in einem Bundesstaat, der zur „Unruhezone“ erklärt wird, willkürlich und ohne Auftrag Durchsuchungen vorzunehmen, Menschen zu verhaften und sie zu töten. Zudem heißt es explizit, daß ein Soldat für Handlungen, die er im Rahmen der Sonderbefugnisse begangen hat, nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Unter diesen Umständen ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Soldateska seither mit Folterungen, Massenhinrichtungen, Plünderungen, Vergewaltigungen und anderen Übergriffen über den Nordosten hergefallen ist.2
Obwohl der militärische Druck seit Anfang der neunziger Jahre verstärkt worden ist, stellen die Untergrundbewegungen einen ernstzunehmenden Machtfaktor dar. Die bewaffneten Aktionen der NSCN (7000 Kämpfer) in Nagaland, der ULFA (2000 bis 5000 Kämpfer) in Assam und der BSF (600 bis 700 Kämpfer) im Bodo- Gebiet lassen die Region nicht zur Ruhe kommen. Diese Guerillatruppen werden von Pakistan unterstützt, verfügen über Stützpunkte in Bangladesch, Birma und Bhutan, haben aber ebenso in Bangkok und, vor allem der NSCN, wohl auch in Taiwan und Japan ihre Hintermänner. Diese zunehmend transnationalen Aktivitäten sind für Neu-Delhi beunruhigend. Denn das Gebiet, in dem sie durchgeführt werden, wurde 1962 teilweise von den Chinesen besetzt, nachdem diese die MacMahon-Linie nicht als Grenze zwischen Indien und China anerkannt hatten.
Birma wird zur Falle
NACHDEM sich in den letzten Jahren die indisch-chinesischen Beziehungen verbessert haben, hat die Volksrepublik ihre Unterstützung der aufständischen Bewegungen in Nagaland, Mizoram und Manipur eingestellt. Die Hilfe hatte vor allem darin bestanden, daß den Guerilleros in Yunnan Trainingslager zur Verfügung gestellt wurden. In gleicher Weise führt die derzeitige Annäherung zwischen Neu-Delhi und Rangun dazu, daß die Naga-Rebellen ihr wertvolles Rückzugsgebiet in Birma verlieren.
Anfang der neunziger Jahre bezog die indische Regierung unter dem damaligen Premierminister Narasimha Rao eine „flexiblere“ Position gegenüber Birma – nachdem Indien zuvor das demokratische Lager um Aung San Suu Kyi unterstützt hatte. Hintergrund dieses Meinungswandels, der für die Aufständischen in dem Gebiet entscheidende Folgen haben sollte, war einerseits die Absicht, die Junta in Rangun zum militärischen Eingreifen gegen die bewaffneten Separatistengruppen zu bewegen, die von Birma aus operierten. Aber auch der wachsende chinesische Einfluß auf die Generäle in Birma dürfte eine Rolle gespielt haben. Neu-Delhi fürchtete, China könne erneut die birmanischen Inseln Haingyis und Cocos nutzen, die in der Nähe der indischen Stützpunkte in Vishakaptanam und der Andamanen- Inseln liegen. Also entschloß sich Indien, seinerseits der Diktatur in Birma Avancen zu machen. Diese Bemühungen fanden ihren sichtbaren Ausdruck in der Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern auf dem Landweg. Für die Rebellen im indischen Nordosten könnte sich Birma damit vom einstigen Refugium in eine Falle verwandeln.3
Eine gemeinsame Operation indischer und birmanischer Streitkräfte, die im April 1995 stattfand, bestätigt diese Vermutung. Damals wurde eine Gruppe von 250 Aufständischen, die aus Mitgliedern des Nationalen Sozialistischen Rats in Nagaland (NSCN), der (maoistischen) Armee zur Befreiung des Volkes (PLA) in Manipur und der Vereinigten Befreiungsfront in Assam bestand, vom indischen Geheimdienst aufgespürt, als sie über Mizoram nach Indien zurückkehren wollten, nachdem sie in Cox's Bazaar (Bangladesch) eine Waffenlieferung übernommen hatten. Die indischen Truppen leiteten daraufhin die Operation „Golden Bird“ ein, töteten 50 Aufständische und machten 40 Gefangene in Mizoram. Rebellen, die über die Grenze zu fliehen versuchten, liefen den Soldaten der birmanischen Streitkräfte in die Arme.
Auch in Bangladesch sind die Zufluchtsstätten für nordindische Rebellen gefährdet. Seit Ende der siebziger Jahre hatten aufständische Nagas, Mizos, Manipuris und Assamer dort Unterschlupf gefunden, vor allem im Gebiet der Chittagong-Berge, wo sie zwar nicht von der Regierung, jedoch zumindest von der Armee eine gewisse Unterstützung erhielten. Von indischer Seite wird sogar behauptet, die Geheimdienste von Pakistan und Bangladesch hätten Ende der achtziger Jahre bei der Ausbildung von Rebellengruppen in Bangladesch zusammengearbeitet.
Diese wenig bekannten Kontakte verliefen wohl nicht immer erfolgreich. So hat sich die Vereinigte Befreiungsfront in Assam (ULFA) ungeachtet der eindringlichen Forderungen Pakistans fast stets geweigert, zivile oder strategisch bedeutende Ziele anzugreifen, um Indien zu schwächen. Während sich die Rebellion im Nordosten immer stärker kriminalisiert, vor allem mittels Erpressungen im großen Stil und Drogenhandel, hat bisher mit Ausnahme der Bodos keine Gruppierung zivile Ziele angegriffen.
Als im Juni 1996 Sheikh Hasina Wajed, die Tochter des Staatsgründers Mujibur Rahman, in Bangladesch an die Macht kam, sollte sich die Situation ändern. Die neue Premierministerin macht kein Geheimnis aus ihrer positiven Einstellung gegenüber Indien. Bereits 1993 hat der Waffenstillstand, den die Regierung in Dakha mit der von Indien unterstützten Rebellengruppe Shanti Bahini unterzeichnete, dazu beigetragen, daß die Beziehungen zwischen beiden Ländern wieder in friedlichere Bahnen gelenkt wurden, nachdem sie seit dem Staatsstreich von 1975 und dem Sturz der proindischen Regierung von Mujibur Rahman eher getrübt waren. Darüber hinaus ist Sheikh Hasina bestrebt, eine endgültige Klärung der Rechte am Flußwasser des Ganges herbeizuführen, von dem die Bewässerung Bangladeschs in der Trockenzeit abhängt. Im Januar dieses Jahres hat Indien, das die Wasserführung des Flusses mittels eines Systems von Staudämmen kontrolliert, ein Abkommen mit Bangladesch unterzeichnet, wonach das Land in den Monaten März bis Mai Zugang zum indischen Stausee von Farakka erhalten soll. Unter diesen Umständen dürfte Bangladesch künftig entschlossener gegen die Aktivitäten nordindischer Rebellengruppen auf seinem Territorium vorgehen.
Die Bewegungen der Aufständischen stellen fest, daß ihr militärisches Aktionsgebiet schrumpft und die Unterstützung aus dem Ausland nachläßt. Doch der bewaffnete Kampf geht weiter, denn weder Birma noch Bangladesch sind in der Lage, den Nachschub an Waffen zu unterbinden, die aus Hongkong, Kambodscha oder Thailand kommen. Im Laufe der letzten Jahre scheinen Kontakte zwischen Aufständischen im indischen Nordosten und hartnäckigen Rebellengruppen in anderen Gebieten Südasiens entstanden zu sein. Der NSCN und in geringerem Maße auch die ULFA sollen sich mit den Tamilischen Tigern (LTTE) in Sri Lanka oder Separatistengruppen im Pandschab wie der Khalistan Commando Force (Sikhs) zusammengeschlossen haben. Inzwischen sind gewalttätige Aktionen auf indischem Staatsgebiet jedoch stets von Appellen an die öffentliche Meinung und an die Medien begleitet, wobei lokale Menschenrechtsorganisationen oder Einrichtungen der UNO als Mittler gewählt werden.
Die Aufständischen im indischen Nordosten haben sich für ihre Forderungen vor allem an die 1995 gegründete Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen für indigene Völker gewandt, die 1995 gebildet wurde und Vertreter der wichtigsten Organisationen für die Verteidigung der Rechte von Minderheitenvölkern auf der ganzen Welt einlädt. So reisten im August 1996 Vertreter des NSCN aus Nagaland, der ULFA aus Assam und der UNLF aus Manipur nach Genf.
Für all diese Bewegungen ist jetzt die internationale Öffentlichkeit das Gebiet, das es zu erobern gilt. Einige von ihnen, an vorderster Stelle die ULFA, die zu den am wenigsten kompromißbereiten Gruppen zählt, verlangen von der UNO die Annerkennung ihres Rechts auf Selbstbestimmung. Eine andere Organisation, die Befreiungskräfte der Bodo-Tiger, zeigte sich jedoch kriegsmüde und unterzeichnete kurz nach ihrer spektakulären Aktion vom 30. Dezember 1996 einen Waffenstillstand mit den Behörden in Assam.
Die politische Öffnung der indischen Regierung setzt ermutigende Zeichen. Dennoch fällt es schwer, an eine baldige Befriedung der Region zu glauben.
dt. Erika Mursa
* Journalist