Wirtschaftswachstum und Proteste
AM 6. Juli fanden in Mexiko Wahlen statt, die als historisch eingeschätzt wurden: Erstmals sollten die Bewohner von Mexiko-Stadt ihre Regierung selbst wählen. Der seit 68 Jahren regierende Partido Revolucionario Institucional (PRI) fiel dabei auf weniger als 40 Prozent der Wählerstimmen – eine historische Niederlage. Die Wahlen fanden in einem krisengeschüttelten Land statt, in dem das soziale Klima immer gereizter geworden ist. Für die Mehrheit der Bevölkerung bringt das mit Kanada und den USA abgeschlossene Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) keine Vorteile, und der von der Regierung gefeierte Wirtschaftsaufschwung geht an ihr spurlos vorüber.
Von CARLOS ACOSTA *
Seit den achtziger Jahren bricht die mexikanische Wirtschaft regelmäßig alle sechs Jahre zusammen – also praktisch bei jedem Regierungswechsel. Die Bevölkerung, rund 93 Millionen Einwohner, hat die ewigen Krisen satt und nutzte die Wahlen am 6. Juli, um einige Rechnungen zu begleichen. Gründe dafür gibt es genug: massive Arbeitslosigkeit, kümmerliche Löhne, bankrotte Betriebe, erdrückende Überschuldung, wachsende öffentliche Unsicherheit, Verschlechterung der gesundheitlichen Indikatoren, der Ausbildung und der Wohnverhältnisse charakterisieren die Situation im Land. Kurz, ein Zustand der Zerrüttung, der sich in einem alarmierenden Anstieg der Kriminalität und in der auffälligen Zunahme öffentlicher Proteste äußert.
Wie nie zuvor hallen die Straßen der Hauptstadt wider von endlosen Märschen und Demonstrationen, mit denen bessere Lebensbedingungen gefordert werden. Alle sind mit dabei: Arbeiter, Bauern, Lehrer, Mütter, Erwerbslose, Freiberufliche, Transportunternehmer, Indigenas, Kleinunternehmer, die durch die Marktöffnung ruiniert wurden, Obdachlose aus den Vororten.
Das Bild widerspricht dem Eindruck, den die diversen Regierungen im In- und Ausland zu vermitteln versucht haben. Ihnen glaubt jedoch zumindest im Land selbst kaum noch jemand. Die Verärgerung erklärt sich zu einem großen Teil aus den ständigen Täuschungsmanövern, denen sich die Mexikaner ausgesetzt sahen. Noch gut ist ihnen in Erinnerung, zu welchen Extremen es in dieser Hinsicht Carlos Salinas de Gortari gebracht hat, der das Land vom 1. Dezember 1988 bis zum 30. November 1994 regierte. Im letzten Jahr seiner Amtszeit stand Mexiko am Rande des Zusammenbruchs: Die zapatistische Guerilla war aufgetaucht, der Präsidentschaftskandidat der PRI, Luis Donaldo Colosio, wurde ermordet und zwei bekannte Unternehmer entführt. Angesichts der katastrophalen Zustände ließ Salinas seine wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen spielen, um den Beitritt zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu „erzwingen“. Es war ein geschicktes Manöver, mit dessen Hilfe er der Welt und seinen Landsleuten zeigen wollte, daß sein segensreiches Wirken von den schwerwiegenden Ereignissen, die das Land in Angst und Schrecken versetzten, nicht beeinträchtigt wurde.
Kurz vor Ende seiner Regierungszeit – der Generalsekretär der PRI, José Francisco Ruiz Massieu, war gerade ebenfalls einem politischen Mord zum Opfer gefallen – präsentierte Salinas eine schönfärberische Bilanz seiner Arbeit. In Interviews, die er in nationalen und ausländischen Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern gab, zeichnete der sich äußerst geschickt vermarktende Salinas ein farbenfrohes Bild von einem Mexiko, das einzig in seiner Phantasie existierte, für das ihm jedoch die Mexikaner, wie er zu sagen pflegte, noch Generationen lang dankbar sein müßten.
Mexiko sei, wie er betonte, nicht nur im Inneren stabilisiert, sondern nehme „in der neuen Weltlage eine gute Position ein und unterscheidet sich damit grundlegend von den Ländern, die durch ein verzögertes oder überstürztes Vorgehen oder durch die falsche Wahl der Mittel angesichts der globalen Herausforderungen Schiffbruch erlitten haben“. Wirtschaftlich habe Mexiko „die schwere Krise, durch die im vergangenen Jahrzehnt die Erwartungen so vieler Menschen bitter enttäuscht wurden, unter Kontrolle gebracht“. Auch auf politischer Ebene seien neue Freiräume für die Opposition eröffnet sowie die bestehenden Freiheiten ausgebaut worden, und die Wahlen seien friedlich verlaufen. Auf sozialem Gebiet sei das Justizsystem verbessert worden, die Armut habe sich verringert, und die Stabilität sei gesichert. Zum Stand der auswärtigen Beziehungen meinte Salinas: „Mexiko ist auf allen bedeutenden Gipfeltreffen vertreten und genießt die Anerkennung und den Respekt der internationalen Gemeinschaft.“
Über das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) mit den USA und Kanada, das Salinas als sein großes Werk betrachtet, auch wenn dessen Inkrafttreten am 1. Januar 1994 vom Beginn des bewaffneten Aufstands in Chiapas überschattet wurde, äußerte sich der Präsident mit den Worten: „Die Mexikaner werden nicht mehr gezwungen sein zu emigrieren, um Arbeit zu finden. Die Arbeitsplätze werden dorthin kommen, wo sie leben. Es ist uns gelungen, allein im ersten Jahr nach Inkrafttreten des Abkommens Zehntausende von Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen.“ Auf all dies war Carlos Salinas stolz.
Sein Nachfolger Ernesto Zedillo sollte den angeblichen Erfolg freilich anders interpretieren. Schon bei der feierlichen Amtsübergabe am 1. Dezember 1994 zeichnete der neue Präsident ein Bild der mexikanischen Realität, das all jene überraschte, die seinem Vorgänger zugehört hatten: „Nach wie vor herrscht im ganzen Land Armut.“ Die Hoffnungen der Bürger seien durch die „Gewalt in Chiapas“ und durch die „zutiefst ungerechten“ Lebensbedingungen, durch das weiterhin herrschende Elend und die Verwahrlosung, „die diese Gewalt hervorgebracht haben“, überschattet worden. „Der wirtschaftliche Fortschritt ist nicht bis in das Heim aller Mexikaner gedrungen.“ Weiter meinte er: „Die Fortschritte im Bereich der demokratischen Rechte sind ungenügend. Es besteht kein Gleichgewicht zwischen der Machtfülle des Präsidenten und den anderen politischen Instanzen der Union.“ Soweit Zedillo am ersten Tag seiner Präsidentschaft.
Kapitalflucht und Spekulation
IN den darauffolgenden zwei Wochen jedoch schien es dann, als wolle Zedillo die Politik seines Vorgängers fortsetzen, denn sein Wirtschaftsprogramm für 1995 verfolgte dieselben Strategien und setzte dieselben Prioritäten. Drei Wochen nach Amtsantritt mußte seine Regierungsmannschaft allerdings mit starken Spekulationen auf den Finanzmärkten fertigwerden, die zum einen auf die mit jedem Regierungswechsel verbundene natürliche Verunsicherung zurückzuführen waren, vor allem aber auf die Ankündigung der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN), sie wolle ihre Operationen ausweiten. Aufgrund der Ereignisse, die das ganze Jahr über das Land erschüttert hatten – politische Morde, Entführungen und Guerilla –, war die Kapitalflucht zu einem Dauerzustand geworden. Nun kam mit der Spekulation ein neuer Krisenfaktor hinzu. Die Reserven der Zentralbank schrumpften von über 24 Milliarden Dollar Anfang 1994 auf rund zehn Milliarden Dollar im November, und mit der Spekulation drohte der letzte Rest zu schwinden.
Am 20. Dezember 1994 wurde infolge einer stillschweigenden Kurskorrektur die mexikanische Währung von 3,47 auf 4 Pesos gegenüber dem Dollar abgewertet. Die Regierung hatte ursprünglich ein sanftes Vorgehen beabsichtigt, doch die Reaktionen waren heftig: Seit 1987 war es nie zu so dramatischen Veränderungen der Wechselkurse gekommen. Die Spekulation gegen die nationale Währung setzte nun erst recht ein. Um nicht den letzten Rest an Geldreserven zu verlieren, beschloß die Regierung eine Freigabe des Wechselkurses. Der Dollar schnellte daraufhin sprunghaft in die Höhe (von 4 auf 6 Pesos pro Dollar), und innerhalb von wenigen Stunden hatte die nationale Währung praktisch die Hälfte ihres Wertes eingebüßt.
So nahm das Unheil seinen Lauf: Es kam zu Finanzturbulenzen, die mexikanischen Aktien an der New Yorker Börse brachen zusammen, die in Dollar verschuldeten Unternehmer waren empört, an der mexikanischen Wertpapierbörse herrschte Hochspannung; es kam zu „Panikkäufen“, die Waren in den Kaufhäusern mußten mit neuen Preisen versehen werden, Importgüter wurden unterschlagen, und vor allem die mexikanischen Arbeiter reagierten wütend, da ihre Löhne an Kaufkraft verloren hatten. Noch vor Ablauf seines ersten Monats im Amt war Ernesto Zedillo bereits diskreditiert und hatte seinen Vertrauensvorschuß bei der nationalen und internationalen Wirtschaft verloren.
Der „Tequila-Effekt“ erschütterte die Wirtschaft der lateinamerikanischen Länder und bedrohte die finanzielle Stabilität des ganzen Kontinents. Im Rahmen eines von der US-amerikanischen Regierung und von internationalen Institutionen vermittelten Hilfsprogrammes flossen über 50 Milliarden Dollar nach Mexiko – noch nie zuvor war ein so hoher Betrag aufgebracht worden, um ein Land aufzufangen. Die plötzliche Pesoabwertung aber hatte nicht nur das Ausland alarmiert, sondern stürzte vor allem das Land selbst in ein Chaos. Die Zinsen schnellten daraufhin in die Höhe, die Inflation stieg, und die Wirtschaft brach zusammen. Betriebe gingen in Konkurs, und eine Million Arbeiter standen auf der Straße. Das Wirtschaftsprogramm Zedillos für 1995 war gescheitert und mußte durch ein Strukturanpassungsprogramm ersetzt werden, das zu den drastischsten zählt, die je auf der Welt beschlossen wurden.
1995 war ein düsteres Jahr: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging um 7 Prozent zurück, die Inflation explodierte (51 Prozent gegenüber 7 Prozent im Jahr davor), die Kapitalreserven der Finanzinstitutionen schmolzen dahin, Unternehmen wie Privathaushalte erstickten in Schulden, und die Verheißungen, durch die Nafta würden die Löhne steigen und neue Arbeitsplätze geschaffen, waren vergessen. All das nur wenige Wochen, nachdem der Bevölkerung verkündet worden war, Mexiko müsse nicht länger im Vorzimmer zur „ersten Welt“ schmoren, sondern dürfe sich nunmehr dank eigener Verdienste mit gutem Recht als Teil derselben betrachten.
Jetzt waren Mexiko und seine Regierungsverantwortlichen unsanft wieder auf dem Boden der Realität gelandet. Der Präsident mußte persönlich das offizielle Geschichtsbild korrigieren. In aller Öffentlichkeit gab er zu, daß Mexiko weder ein reiches Land sei, noch über eine stabile Wirtschaft verfüge, daß nur geringe Fortschritte erzielt worden seien, nach wie vor große Ungleichheiten bestünden, daß das Land mit zahlreichen Infrastrukturproblemen zu kämpfen habe, die Regierung über keinerlei Mittel verfüge, die Lage „ernst und dringlich und das Lebensniveau der Bevölkerung unvermeidlich in Mitleidenschaft gezogen“ sei.
Zedillo beteuerte, Präsident Salinas habe ihm eine höchst krisenanfällige Wirtschaft hinterlassen, die von zahlreichen, im Laufe der Zeit akkumulierten Ungleichgewichten geprägt sei. Salinas konterte, die Regierung habe sich bei der Entwertung „dumm“ angestellt. Unabhängig von den verschiedenen Einschätzungen hat die Krise die Nerven der Mexikaner aufs äußerste belastet. Nicht nur, weil unter ihren Folgen alle Schichten der Bevölkerung zu leiden haben und sie die Auswirkungen der vergangenen Krisen noch verstärken, sondern weil die Regierung seither unablässig öffentliche Erklärungen abgibt und Kampagnen führt, nur um zu erklären: Dem Land geht es besser denn je.
Und tatsächlich: Die mexikanische Wirtschaft weist inzwischen wieder ausgezeichnete Ergebnisse vor. Das BIP ist 1996 um 5,1 Prozent gewachsen, die Inflation nur noch halb so hoch wie 1995, die offizielle Arbeitslosenrate ging zurück, die Wechselkurse sind stabil; die Löhne sinken zwar weiterhin, aber langsamer; der Staatshaushalt ist ausgeglichen, die Auslandsverschuldung unter Kontrolle. Auch die Nafta scheint ein Erfolg zu sein. Die Exporte in die USA sind in den ersten drei Jahren um 83 Prozent gestiegen. Laut Auskunft des Staatssekretärs für Handel und industrielle Entwicklung hat Mexiko allein im Jahr 1996 mehr in dieses Land exportiert als Frankreich und Großbritannien zusammen, als die gesamten Länder Lateinamerikas oder als Süd- Korea, Hongkong und Taiwan zusammen.
Arbeit in der Schattenwirtschaft
DIE Konjunkturkurven sprechen von Aufschwung. Gut sieht es auch für einzelne exportorientierte Unternehmen aus: Auf 300 vorwiegend transnationale Unternehmen konzentrieren sich 70 Prozent der gesamten Exporte.
Doch für die Mehrheit der Bevölkerung haben diese Daten keinerlei Bedeutung. Innerhalb von fünfzehn Jahren haben die Löhne 72 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt. Der politische Kurs zwingt jahraus, jahrein Millionen von Mexikanern dazu, illegal in die USA zu emigrieren. Zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen klafft ein tiefer Graben.
Vor wenigen Jahren war der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Nafta eine vielversprechende Zukunft in Aussicht gestellt worden. Selbst die recht unglaubwürdigen offiziellen Arbeitslosenzahlen zeigen jedoch, wie wenig der große Markt im Hinblick auf neue Arbeitsplätze gebracht hat. Mitte 1993 gab die Regierung die Zahl der absoluten Arbeitslosen (ohne eine einzige Arbeitsstunde in der Woche) mit 819132 Personen an. Zwei Jahre später waren es 1667416 Menschen. Im gleichen Zeitraum wurden nur 993576 neue Arbeitsplätze geschaffen, während die Nachfrage unter Einschluß der neuen, auf den Arbeitsmarkt strömenden Generationen bei einer Million Stellen im Jahr liegt. 1996 erreichte die offizielle Arbeitslosigkeit einen Stand von 2,1 Millionen Menschen.
Diese Angaben gelten jedoch nicht für die Schattenwirtschaft, in der laut Internationaler Arbeitsorganisation 60 Prozent der mexikanischen Arbeitsplätze angesiedelt sind. Die restlichen 40 Prozent verteilen sich auf die Großbetriebe (18 Prozent) und den Staat (22 Prozent). Diese Zahlen werden durch die „Gruppe assoziierter Ökonomen“ bestätigt, ein angesehenes Wirtschaftsforschungsinstitut, auf das sich auch die Regierung stützt: Die Zahl der städtischen Arbeitsplätze wird für 1996 mit 21,6 Millionen angegeben, davon entfallen 12,7 Millionen (61 Prozent) auf die Schattenwirtschaft.
Der Wirtschaftswissenschaftler David Ibarra, der unter Präsident José López Portillo von 1979 bis 1982 Finanzminister war und heute Berater der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) ist, hält fest: „Zwischen 1992 und 1996 gab es im formellen Sektor nur einen geringen Zuwachs von 26000 neuen Arbeitsplätzen, während im informellen Sektor mehr als 2,6 Millionen Menschen untergekommen sind.“
Doch das Problem sitzt tiefer, denn auch diejenigen, die eine Stelle haben, verdienen nur sehr wenig. Von den 35,2 Millionen Personen, die 1996 einen Arbeitsplatz hatten, erhielten 11,55 Prozent gar keinen Lohn, 19,37 Prozent verdienten weniger als den Mindestlohn, der bei 26,45 Pesos pro Tag (etwa fünf Mark) liegt, weitere 29,5 Prozent erhielten das Ein- bis Zweifache des Mindestlohns, 25,18 Prozent das Zwei- bis Fünffache und nur 9,55 Prozent mehr als das Fünffache des Mindestlohns.1 Mindestens 31 Prozent aller Beschäftigten oder 11 Millionen Menschen verfügen also nicht über ein ausreichendes Einkommen, um sich entsprechend dem Warenkorb, dessen Wert einem zweifachen Mindestlohn entspricht, mit dem Grundbedarf zu versorgen.
Zu den Reallohnverlusten, die die Mexikaner zwischen 1982 und 1993 hinnehmen mußten (67 Prozent), ist durch das Inkrafttreten der Nafta, die Krise und die gezielten Gehaltskürzungen (um die Nachfrage zu dämpfen und die Inflationsgefahr abzuwenden) eine weitere Reallohneinbuße von 19 Prozent hinzugekommen. Nach Angaben der Bank von Mexiko (der Zentralbank) betrug der reale Mindestlohn (in neuen Pesos gemessen) im Januar 1982 40,81 Pesos pro Tag, im April 1997 jedoch nur noch 11,36 Pesos. Das entspricht einem Rückgang von 72 Prozent in einem Zeitraum von knapp fünfzehn Jahren. Da nimmt nicht weiter wunder, daß das Vertrauen in die Regierung geschwunden ist.
dt. Birgit Althaler
* Journalist, Proceso, Mexico-Stadt.
Fußnote:
1 Instituto nacional de estadística, geografia y informática (Inegi)