Eine Großmacht regionalisiert sich
DIE jüngsten Parlamentswahlen in Kanada vom 2. Juni brachten eine regelrechte Balkanisierung der politischen Landschaft. Die drei großen Parteien erfuhren nur regionale Unterstützung. Die liberale Regierungspartei Jean Chrétiens, die in Ottawa mit knapper Mehrheit wiedergewählt wurde, errang 103 ihrer 155 Sitze in der Provinz Ontario; der Bloc Québécois (44 Sitze) ist nur in der Belle Province vertreten, und die ultraliberale Reformpartei gewann nur einen Sitz außerhalb ihrer Hochburg, den Westprovinzen. Noch komplizierter wird das ganze, wenn im Jahr 1999 in den Northwest Territories das autonome Nunavut-Territorium und später vielleicht innerhalb der Provinz Quebec das Nunavik-Territorium geschaffen werden, die das gemeinsame Heimatland der Inuit bilden würden, eines der über die ganze Arktis verstreut lebenden „ersten Völker“ Kanadas.
Von PHILIPPE BOVET *
Am 1. April 1999 wird es soweit sein: Dann wird sich ein Teil der derzeitigen Northwest Territories (NWT) abspalten und das Nunavut-Territorium1 bilden. Obwohl Brian Pearson von 1965 bis 1985 in Iqaluit das Amt des Bürgermeisters innehatte, beteiligte er sich am 11. Dezember 1995 ohne besondere Begeisterung an der Abstimmung darüber, ob „seine“ Stadt die Hauptstadt des Nunavut-Territoriums werden soll. Pearsons Karriere ist typisch für einen Qallunaat (wie die Weißen in der Inuktitut-Sprache genannt werden2 ): Er kam Ende der vierziger Jahre auf die Baffin-Halbinsel, um beim Bau von Militäranlagen mitzuwirken. Seither hat er sich dort niedergelassen. Er ist ein typischer Vertreter jener alten Garde von Europäern, die den arktischen Regionen zu lange – und erfolglos – westliche Entwicklungsmodelle aufgedrückt haben und sich nicht recht mit den in diesem Teil Kanadas stattfindenden Veränderungen abfinden können.
Die ersten regelmäßigen Beziehungen zwischen dem Westen und den „Eskimos“ entstanden Ende des 19. Jahrhunderts mit der Ankunft der Walfänger und der ersten Missionare, mit den Niederlassungen der Hudson's Bay Company (die seit 1670 in der kanadischen Arktis präsent ist) und schließlich mit der berittenen Bundespolizei. Zu radikalen Veränderungen kam es jedoch erst im Zweiten Weltkrieg: Die US Army errichtete von Alaska bis Grönland eine Reihe meteorologischer Stationen und Luftstützpunkte, darunter die Basis Frobisher Bay, das heutige Iqaluit. Während des kalten Krieges wurde diese Präsenz noch durch einen Gürtel von 22 Stützpunkten verstärkt, die jeweils in fünf Kilometer Entfernung von einer menschlichen Siedlung entstanden und in den darauffolgenden fünf Jahren zusätzlich 25000 Personen in die Region brachten.3
Daneben zogen die Amerikaner noch weitere Projekte auf kanadischem Territorium durch, etwa den Alaska Highway, der den Nordwesten der USA mit Alaska verbindet. 1942 lebten 15000 Amerikaner in den NWT und im Yukon Territory. Ein Jahr später waren es bereits 33000. „Die Amerikaner haben sich einfach bedient, ohne zu fragen“, erläutert Jim Bell, Journalist bei den Nunatsiaq News, dem Wochenblatt von Iqaluit, das zweisprachig auf englisch und (in Silbenschrift) in der Inuktitut-Sprache erscheint. Die Regierung in Ottawa führt Umsiedlungen durch, um den Einfluß seines südlichen Nachbarn einzudämmen und ihre eigene Präsenz in der Arktis zu unterstreichen. 1953 wurden sechs Familien aus Inukjuak (nördlich von Quebec) am 75. nördlichen Breitengrad angesiedelt. Drei ließen sich in Resolute Bay (Qausuittuq), drei in Grise Fjord (Ausuittuq) nieder, der nördlichsten Siedlung des nordamerikanischen Kontinents.
Die 1870 aus den Stützpunkten der Hudson's Bay Company entstandenen Northwest Territories wurden mehrmals aufgeteilt; 1870 entstanden die Provinz Manitoba und 1898 das Yukon-Territorium, aus denen 1905 wiederum zum Teil die Provinzen Alberta und Saskatchewan hervorgingen. 1912 wurden die östlich der Hudson Bay gelegenen Gebiete der Provinz Quebec angegliedert. Jahrzehntelang war es Kanada relativ gleichgültig, was sich nördlich seines 60. Breitengrades abspielte. Louis Saint-Laurent, Premierminister von 1948 bis 1957, räumte 1953 ein, Kanada habe „seine riesigen Nordgebiete achtzig Jahre lang ohne jegliche politische Phantasie lediglich administriert“4 .
Mit der Gründung von Nunavut steigert Kanada sein internationales Ansehen: Zum ersten Mal revidiert eine Großmacht, zudem noch ein Mitglied der G8, ihre inneren Grenzen, um den Forderungen der autochthonen Bevölkerung nachzukommen. Ein Beispiel, das in Südafrika und Australien mit großem Interesse verfolgt wird. „Dieses Volk, das in der kanadischen Politik fast gar keine Rolle spielt, hat sein Ziel mit einer ungewöhnlichen Beharrlichkeit verfolgt“, erläutert Michèle Therrien, Dozentin für Inuktitut am Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco) in Paris, der einzigen Universität in Europa außer Dänemark (dem Grönland untersteht), wo diese Sprache gelehrt wird: „Die Inuit haben ständig wiederholt, daß sie eine Sprache, eine Kultur und ein Territorium besitzen. Sie stellen sich positiv dar und bestehen darauf, sie hätten eine besondere Art und Weise zu essen, mit ihren Kindern umzugehen und zu träumen, und eine besondere Beziehung zu den Tieren, die sie nicht nur als jagdbares Wild ansehen.“
Mit Flugverbindung nach Grönland
DIE ersten Verhandlungen zwischen der kanadischen Regierung und den Inuit – mit ihrem Delegationsleiter John Amagoalik, dessen Familie nach Resolute Bay umgesiedelt wurde – fanden 1974 statt. Sie führten zur Schaffung der Nunavit Implementation Commission (NIC), deren Bericht „Spuren unserer Schritte im Neuschnee“ einige besonders innovative Punkte beinhaltet. Die künftige Territorialregierung soll multi-ethnisch sein, ihre Zusammensetzung die Gesamtbevölkerung abbilden: Wenngleich die Bewohner von Nunavut zu 80 Prozent Inuit sind, werden die Südkanadier nicht ausgeschlossen. Die Regierung wird stark dezentralisiert.
In Anbetracht der Entfernungen zwischen den 27 Gemeinden – die über drei Zeitzonen verstreut liegen – müssen die Abgeordneten mit gutem Beispiel vorangehen und bei der Ausübung ihrer Funktion Mobilität und Flexibilität zeigen: Jeder Abgeordnetensitz wird von zwei Personen bekleidet, von denen die eine weiblich und die andere männlich sein muß, weshalb sie bei den Wahlen auf zwei verschiedenen Listen aufgestellt werden. (Dieser kühne Vorschlag wurde allerdings von der gegenwärtigen Verwaltung der NWT nicht bestätigt; am 26. Mai stimmten bei einem Referendum im zukünftigen Nunavut-Gebiet 57,4 Prozent der Wähler gegen diese Verfassungsbestimmung.) Ein weiterer Vorschlag der NIC sieht vor, für öffentliche Ausschreibungen autochthone Unternehmen zu bevorzugen.
Obwohl in dem NIC-Bericht Iqaluit als Hauptstadt empfohlen wurde, um die Kosten einer Abstimmung einzusparen, hat die Regierung der NWT lieber ein Referendum durchgeführt. Iqualit, das 4000 Einwohner5 und eine ausgebaute Infrastruktur hat (zu der ein Flughafen, Hotels und eine funktionierende Verwaltung gehören) blieb mit 61 Prozent der Stimmen gegen den Mitbewerber Kangitliniq (Rankin Inlet) siegreich. Das weit im Osten gelegene Iqaluit besitzt in Zeiten, da sich die Kontakte zu den andern Ländern des Polarkreises entwickeln, eine strategisch günstige Position. Einmal wöchentlich gibt es bereits ein Flugzeug nach Grönland. An der Westküste von Kalaallit Nunaat (wie Grönland in der Sprache der Inuit heißt) entstehen derzeit sieben Flughäfen. Für Reisen zwischen beiden Ländern sind keinerlei Visa erforderlich.
Die Präsenz der Dänen auf Grönland geht ununterbrochen bis ins Jahr 1721 zurück. 1979 – zwanzig Jahre vor der Gründung von Nunavut – erlangte das Land seine innere Autonomie. Tatsächlich sind die grönländischen Inuit politisch emanzipierter als ihre kanadischen Nachbarn.6 „Das Schulsystem entstand in der kanadischen Arktis praktisch erst um 1955“, erläutert Jo Kunuk, 36, heutiger Bürgermeister von Iqaluit, der mit einer Grönländerin verheiratet ist. „Meine 55jährige Mutter ist nie zur Schule gegangen, meine gleichaltrige Schwiegermutter hingegen ist Krankenschwester.“ Einige Kanadier kritisieren die Autonomie für Nunavut als verfrüht; sie vergleichen den Zustand der Region mit dem viel entwickelteren Grönland und glauben, daß die Beamten in Yellowknife auf die billige Tour einige unlösbare soziale Probleme loswerden möchten: etwa die extreme Abhängigkeit von öffentlichen Subventionen und die hohe Arbeitslosigkeit. In diesen einsamen Gebieten gibt es sämtliche Drogen von Haschisch bis Crack; Alkoholmißbrauch und Gewalt in der Ehe gehören zum Alltag, und entsprechend Institutionen wie die Anonymen Alkoholiker und ein paar Frauenhäuser sowie Verkaufsbeschränkungen für Alkohol.
Doch es gibt auch weniger pessimistische Beobachter. Auch sie reden von Fehlern, aber sie betonen, daß die Gründung von Nunavut den Inuit endlich die gewünschte größere Eigenverantwortung überträgt. Jonathan Pallug, stellvertretender Bürgermeister und Finanzberater von Kangigtugaapik, ehemals Clyde River, wurde vor 39 Jahren in einem traditionellen Lager geboren. Die Angehörigen seiner Familie waren Jäger. Als Heranwachsender erlebte er den Übergang vom Hunde- zum Motorschlitten; heute geht er mit Fax, CD-ROM und Internet wie selbstverständlich um: „Nunavut stellt für uns ein neues Fenster dar, ich bedaure nur, daß es nicht schon früher da war.“ Schon weil es unmöglich ist, genügend Flüge und Unterkünfte für Studenten oder Absolventen der Erwachsenenbildung zu finanzieren, wird in diesem Landesteil ganz selbstverständlich auf modernste Unterrichtsmittel zurückgegriffen, ein Zugang zu den Bibliotheken der großen US-amerikanischen Universitäten via Internet ist schon ebenso Realität wie das Fernstudium über gebührenfreie Zugangsnummern.
Die Schwächen des künftigen Nunavut sind jedoch nicht zu übersehen. Insbesondere fehlt eine Mittelschicht, auch wenn es im Lande eine Inuit- und eine westliche Intelligenzija gibt. Viele Südkanadier kommen nur für die Dauer ihres meist mehrwöchigen Arbeitsvertrages, wobei sie Überstunden machen und auch an den Wochenenden arbeiten. Nur wenige der Qallunaat aus dem hohen Norden, sagen die Inuit, verbringen hier ihren Lebensabend. Dabei muß man berücksichtigen, daß die sehr komplexe Kultur der Inuit sich Fremden nur schwer erschließt7 und die Vermittlungsversuche bisher nie die gewünschten Ergebnisse zeitigten, zumal nicht bei den Beamten.
Die Inuit hingegen wußten sich immer anzupassen, ob als Walfänger oder in der Armee – ein Beweis dafür, daß ihre Identität keineswegs starr ist.8 Sie beziehen sich auf eine äußerst komplexe Spiritualität, die ihnen ein Leben in Harmonie mit Umwelt und Natur ermöglicht. „Seit über zwanzig Jahren beobachte ich diese Gesellschaft und bin betroffen von dem ewig düsteren Bild, das man von ihr malt“, kommentiert Michèle Therrien, „Es entspricht nicht der Realität. Natürlich gibt es Familiendramen, aber die kollektiven Projekte tragen mittlerweile Früchte; von Alaska bis Grönland finden sich Beweise dafür, daß sie recht hatten, an ihre Zukunft zu glauben.“
Kenn Harper, ein Lehrer aus dem Süden Kanadas und Autor mehrerer Studien über die Inuit9 , hat seinen ständigen Wohnsitz in Iqaluit. Er, der als einziger Weißer der NIC angehört, gibt sich optimistisch. „Wir hoffen, daß es uns gelingt, in dieser Region ein neues, großzügiges Projekt zu realisieren.“ In Kanada ist man noch weit entfernt davon, die Folgen der Gründung von Nunavut zu ermessen. Quebec, das sich seinerseits mit den Fragen des Nunavik-Territoriums (siehe Kasten) auseinanderzusetzen hat, wird jedenfalls sein Monopol einer „eigenständigen Gesellschaft“ verlieren. „Kanada schläft noch“, meinte vor eineinhalb Jahren John Amagoalik, der „Vater“ von Nunavut, als Antwort darauf, warum wohl so wenige kanadische Journalisten nach Iqaluit angereist waren, um über das Referendum zu berichten. Dabei ging es immerhin um keine geringere Frage als die Entscheidung über die künftige Hauptstadt von Nunavut ...
dt. Andrea Marenzeller
* Journalist