12.09.1997

Werde autonom!

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Werde autonom!

WIR sind auf der Suche nach Handwerkszeug. Das derzeit zu beobachtende zaghafte Wiedereinsetzen des staatsbürgerlichen Handelns im eigentlichen Sinne des Wortes sollte Anlaß sein, den Gedanken von Cornelius Castoriadis, einem Philosophen der politischen Radikalität, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der soeben erschienene Band V der „Carrefours du labyrinthe“ mit dem Titel „Fait et à faire“ (1) kommt zur rechten Zeit, um vor dem Hintergrund der politischen Notwendigkeiten im Europa von heute ein Bild von der Philosophie dieses Autors zu zeichnen.

Von ROBERT REDEKER *

Cornelius Castoriadis ist eine der stärksten intellektuellen Persönlichkeiten im Frankreich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach seinen scharfsinnigen, warnenden Analysen des kommunistischen Systems und seiner Bürokratie in den fünfziger Jahren, die eine Zeit nicht der Isolierung, sondern, wie er treffend sagt, der Einsamkeit waren, wurde er ab der Mitte der siebziger Jahre zu einer zentralen Größe.

Der Grieche Castoriadis kam 1945 nach Frankreich, zur gleichen Zeit wie das griechische Dreigestirn der französischen Intelligenz, Kostas Papaioannou, Kostas Axelos und Nicos Poulantzas, und war von Beginn an (1949) bis zum Schluß (1965) die treibende Kraft hinter der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie, in der er manchmal auch unter Pseudonym schrieb2 . Von 1970 an erschienen seine in Socialisme ou Barbarie veröffentlichten Beiträge zur Arbeiterbewegung und der bürokratischen Gesellschaft in mehreren Bänden in der „Collection 10/18“. Ende der siebziger Jahre schrieb er, wie auch Miguel Abensour, Marcel Gauchet, Claude Lefort (der ebenfalls von Socialisme ou Barbarie her kam) und Pierre Clastres für die Zeitschrift Libre.

Neben seinem Meisterwerk „Gesellschaft als imaginäre Institution“, das 1990 auf deutsch erschien, hat Cornelius Castoriadis einige bedeutende Bücher geschrieben, die in der 1978 begonnenen Reihe „Les Carrefours du labyrinthe“ zusammengefaßt sind; deren fünfter Band mit dem Titel „Fait et à faire“ („Getan und noch zu tun“) ist soeben erschienen.

„Fait et à faire“ gibt sich als Bilanz. Wie in jedem einzelnen Absatz, den dieser Autor während der letzten dreißig Jahre verfaßt hat, ist auch hier alles enthalten. Der Leser mag, gelangweilt von bestimmten Seiten und eingelullt von der ermüdenden Wiederkehr bestimmter Formulierungen, einwenden, daß Castoriadis sich häufig wiederholt, daß er immer wieder „in die gleiche Kerbe haut“. Damit allerdings täte man ihm Unrecht in einer Zeit, in der die philosophische Produktion sich durch ethisch-subjektiv-kantianische Manieriertheiten mit besonderer Vorliebe für die Bioethik auszeichnet. Es hieße vor allem, zu vergessen, daß sein Stil von einem begrenzten Fundus von Grundbegriffen ausgeht und spiralförmig verläuft (er beginnt stets wieder von neuem, zitiert sich selbst, vertieft, meditiert ...). Und es hieße auch, nicht gebührend zu würdigen, in welchem Maße wir es hier mit expressivem Denken zu tun haben.

Bei diesem völlig eigenständigen politischen Denker entwickelt sich eine stark strukturierte Philosophie klassischen Stils. Castoriadis gibt uns ein Instrumentarium an die Hand, um zu protestieren, Barrikaden zu errichten, über den Sozialismus der Zukunft nachzudenken und darüber, wie die Welt und das politische Leben zu verändern sind. Die geistlosen Albernheiten vieler anderer hingegen, mit denen die Philosophie gepflastert ist (etwa bei Luc Ferry und Alain Renaut), führen uns wieder in die ebenso abgestandenen wie lauen Wasser des Kantschen Konformismus (eines entproblematisierten und zugleich dogmatisierten, mit anderen Worten gründlich mißverstandenen Kant). Mit einigen wenigen anderen, wie beispielsweise Henri Maler, Daniel Bensaid und Etienne Balibar, bildet Cornelius Castoriadis trotz seiner Schwächen eine Ausnahme in den armseligen Gefilden der zeitgenössischen Philosophie.

Woher rührt die starke Anziehungskraft, die sein Denken ausübt? Wagen wir eine Hypothese. In diesem Denken lassen sich drei Seiten erkennen, eine politische, eine psychoanalytische und eine philosophische. Jede steht zwar unweigerlich für sich selbst, bringt aber auch die beiden anderen zum Ausdruck.

Die politische, die philosophische und die psychoanalytische Dimension sind ineinander verschlungen, im Denken von Castoriadis gibt es keine inneren Abgrenzungen. Deshalb ist sein politischer Diskurs untrennbar mit seinem psychoanalytischen und seinem philosophischen Denken verbunden. Diese völlig komplementäre Struktur, in der sich die verschiedenen Seiten des Denkens ausdrücken, ist emblematisch für die Originalität des Ansatzes von Castoriadis in der Geschichte der zeitgenössischen Philosophie.

Weit entfernt von der banalen Vorgehensweise, die einzelnen Elemente seines Denkens nach und nach vorzulegen, drückt sich das gesamte Denken von Castoriadis in jedem einzelnen seiner Elemente aus. Im Verlauf dieses expressiven Denkens trifft man auf die Entdeckung, gewissermaßen die Kreation, von Castoriadis: den Begriff der „radikalen Anschauung“, von Aristoteles geahnt, doch rasch verschleiert, und dann von Kant mit seiner „transzendentalen Anschauung“ erkannt. Castoriadis warnt: „Ich verwende den Begriff ,Anschauung‘ nicht im überkommenen Sinne.“

Für eine neue Radikalität

WAS ist diese radikale Anschauung, der Mittelpunkt, um den das ganze Denken von Castoriadis kreist? Man mag ihm zugestehen, daß die Anschauung das ist, was in der gesamten Geschichte der Philosophie verborgen bleibt, zumindest bis Gaston Bachelard (von dem in diesem Buch nirgends die Rede ist) und Castoriadis selbst. Die Anschauung darf nicht mit der Fähigkeit, Bilder zu sehen, in Beziehung gebracht werden, wie es die Philosophen allzu oft getan haben. Übrigens ist die Anschauung für Castoriadis keine Fähigkeit. Oft birgt sie andere als visuelle Dinge: „Die Anschauung par excellence ist die des Komponisten.“

Das Visuelle ist auch im sozialen Imaginären nicht vorhanden: Die von letzterem erzeugten Verhaltensregeln sind weder sichtbar noch hörbar, sie sind bedeutungsfähig. Im allgemeinen zeichnen sich die philosophischen Anschauungsbegriffe durch äußerste Armut aus (Descartes), wenn sie nicht gar von Widerwillen gekennzeichnet sind (Pascal). Aristoteles gibt eine Reihe interessanter Grundzüge vor, die von Castoriadis erwähnt werden, mehr aber auch nicht. Letztlich ist Kant derjenige, der der Entdeckung der radikal kreativen Rolle der Anschauung am nächsten kommt, indem er ihr unter der Bezeichnung „transzendentale Anschauung“ einen Platz im Funktionieren des transzendentalen Ichs zuweist, „aber diese Rolle, den Merkmalen eines gesicherten Kennens übergeordnet, besteht in der immerfort unbeweglichen Produktion von Formen, die ein für allemal vorgegeben sind“. Auch Heideggers problematischstes Werk, „Kant und das Problem der Metaphysik“3 , von dem er sich später gewissermaßen lossagte, eröffnet großartige Perspektiven, die ohne Folge bleiben.

Castoriadis stellt die Frage vollkommen neu. Die radikale Anschauung ist die Aktivität, durch die jedes Lebewesen sich seine eigene, jeweils einzigartige Welt schafft. Beim Menschen erschafft diese radikale Anschauung außerdem die „imaginären sozialen Bedeutungen“, das Fundament des Gemeinschaftslebens, der Religionen, der Institutionen, des Rechts und so weiter. Genauer gesagt: „Die radikale Anschauung des Menschen und das instituierende soziale Imaginäre kreieren, und sie kreieren ex nihilo“. Ebenso ex nihilo prägt diese Anschauung die lebensbezogenen, psychischen und soziopolitischen Strukturen der menschlichen Existenz. Castoriadis stellt die philosophische Vulgata auf den Kopf: Die politischen, juristischen und moralischen Gebilde sind keineswegs Produkte der Vernunft, sondern von der Anschauung geschaffen (wobei auch die Vernunft selbst der Anschauung entspringt).

Allgemein erfindet die radikale Anschauung in den drei Bereichen Leben, Psyche und Gesellschaft ein jedes Mal eine „Eigenwelt“, die sich durch innere Geschlossenheit auszeichnet.

Die entfunktionalisierte radikale menschliche Anschauung schafft Formen, die Bedeutungen und Institutionen zugleich sind – das soziale und politische Imaginäre wirkt bald instituierend, wenn es neue Gesetze, neue Institutionen absondert, bald instituiert, wenn es festgelegt ist in Gesetzen, Verordnungen und etablierten Institutionen.4 In den meisten Gesellschaften ist es unvorstellbar, die grundsätzlichen imaginären Bedeutungen (zumeist religiöser Art), die dieser Gesellschaft als Grundlage dienen, in Frage zu stellen: Das Denken ist dort zwar möglich (es gibt ja ein christliches Denken, oder ein islamisches Denken), das Nachdenken (das „Zurückkommen auf“) erweist sich jedoch als ausgeschlossen (es kann kein christliches Nachdenken oder islamisches Nachdenken geben).

In der sozialgeschichtlichen Dimension jedoch trat zum ersten Mal bei den Griechen durch die gleichzeitige Erfindung der Philosophie und der demokratischen Politik, zum zweiten Mal dann mit dem modernen Europa nach Jahrhunderten des christlichen Obskurantismus, eine besondere imaginäre Kreation in Erscheinung, das „Autonomieprojekt“, das eine uneingeschränkte Fähigkeit voraussetzt, Grundsätze in Frage zu stellen beziehungsweise über sie nachzudenken.

Die Politik, die Psychoanalyse und die Philosophie haben die Aufgabe, dieses Autonomieprojekt zu vertiefen, um es bis zur vollständigen Verwirklichung im öffentlichen Raum voranzutreiben.

Was ist Autonomie? Darauf antwortet Castoriadis: „Die Autonomie ist die Selbstsetzung einer Norm, ausgehend von einem tatsächlichen Lebensinhalt und bezogen auf diesen Inhalt.“ Genauer: „Autonomie ist für uns die Fähigkeit einer Gesellschaft oder eines einzelnen, absichtlich und ausdrücklich zu handeln, um das eigene Gesetz, das heißt die eigene Form, zu ändern.“ Heute scheint diese Vorstellung Gemeinsamkeiten mit der Freudschen Psychoanalyse aufzuweisen, wie auch mit der Politik, wenngleich sie dort vor sich hin dämmert.

„Werde autonom!“, dies ist der praktische Imperativ, der nach Ansicht von Castoriadis die drei Felder Politik, Psychoanalyse und Philosophie beherrscht.

Die Politik verfolgt das Ziel, mit Hilfe der radikalen Anschauung Institutionen zu schaffen, die verinnerlicht werden und es danach einem jeden ermöglichen, sich Zugang zur „Autonomie“ zu verschaffen. Castoriadis zufolge halten diese Institutionen zusammen, „weil sie jeweils ein Magma an imaginären sozialen Bedeutungen verkörpern. Es hat niemals eine rein funktionale Gesellschaft gegeben, und es wird sie nie geben.“

Es scheint, als sei der Wunsch nach Autonomie bei den politischen Wesen, die wir sind, seit rund zwanzig Jahren eingeschlafen und als hätten wir unsere spezifische Andersartigkeit gegenüber anderen Lebewesen, unsere Politikfähigkeit, vergessen; als seien wir einem neuen anthropologischen Typ des Individuums auf den Leim gegangen, und zwar dem des „allgemeinen Konformismus“; wir sind in eine neue Kapsel eingeschlossen, die des Wirtschaftsimperialismus, dessen noch nie dagewesene Barbarei Viviane Forrester5 so treffend beschrieben hat. Für Castoriadis ist die Freiheit „nur um den Preis der Zerstörung des Ökonomischen als des zentralen und einzigen Werts zu erlangen“.

Beiläufig stellt Castoriadis mehr oder weniger erfolgreich die Ehre der in Vergessenheit geratenen Kritik wieder her: an der Republik, am repräsentativen System (gestützt auf Rousseau meint er, die politische Autonomieform par excellence sei die direkte Rätedemokratie), am Kapitalismus und seinem Pseudo-Markt (es kann keinen freien Markt geben, solange es den Kapitalismus gibt). Der Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus hat diese Kritik überlagert, doch sollte sie aufs neue aufgegriffen werden. Es wird eine Zeit kommen, in der auf den insgesamt unfruchtbaren Ruinen des historischen Marxismus eine Bilanz dessen gezogen werden muß, was uns auf unserem politischen Weg in die Autonomie noch nützen kann.

Mit welchem konkreten politischen Inhalt ist diese Vorstellung von der Autonomie zu füllen? Welches politische Erbe aus der Geschichte der Arbeiterbewegung hat bleibenden Wert, wenn das Proletariat offensichtlich nicht die treibende Rolle spielen kann, die der Marxismus ihm zuschrieb? Castoriadis antwortet mit einem imposanten Programm: „Die Wiederaneignung der Macht durch die Allgemeinheit, die Abschaffung der politischen Arbeitsteilung, der ungehinderte Umlauf politisch relevanter Information, die Abschaffung der Bürokratie, die größtmögliche Dezentralisierung der Beschlüsse, die Selbstbestimmung der Verbraucher, die Selbstverwaltung der Produzenten.“ Es wäre inkonsequent, Castoriadis aufgrund solcher Passagen für einen Utopisten zu halten; all diese Vorhaben haben mit Utopie nichts zu tun, sie sind durchführbar, weil sie im Keim bereits angelegt sind, in einem Frühstadium, wenn auch nur in winzig kleinen Bereichen.

Je mehr Castoriadis sich als Analytiker offenbart, desto mehr stellt sich die Frage, wie sich bei ihm die Psychoanalyse mit der politischen Theorie verbindet. Die Psychoanalyse kann die Menschen frei machen für die wahre Politik, die versucht, die Autonomie zu verwirklichen. Beim Thema Psychoanalyse tauchen die von Castoriadis erarbeiteten Begriffe aus den anderen Aspekten seines Denkens wieder auf. Das Ziel der Analyse besteht darin, daß sich beim Patienten eine sich selbst reflektierende und damit höchstmöglich autonome Subjektivität zeigt. Wie die wahre Politik und die wahre Pädagogik, so ist auch die authentische Analyse eine Aktivität, die dem anderen zutraut, autonom werden zu können. Sie bereitet die Menschen auf die politische Freiheit vor, und gleichzeitig liefert sie ein verkleinertes Modell, einen Prototyp dessen, worin die politische Tätigkeit bestehen könnte.

Die Parenthese des Leninismus ist wieder geschlossen, der historische Marxismus liegt in Schutt und Asche6 , die Sozialdemokratie hat keine Vision mehr, und parallel dazu nimmt die philosophische Regression die Gestalt des moralischen Idealismus an, indem sie einen Kapitalismus rechtfertigt, der ein häßlicheres Gesicht hat als je zuvor. Das Handeln und das Denken sind nun auf der Suche nach einer neuen Radikalität. Nehmen wir das Denken von Castoriadis als interessante Begleitung, als unerläßlichen Anhaltspunkt auf der Suche nach neuen staatsbürgerlichen und politischen Anfängen.

dt. Sabine Scheidemann

* Studienrat für Philosophie, Mitglied des Redaktionskomitees der Zeitschrift Les Temps modernes, Paris.

Fußnoten: 1 Cornelius Castoriadis, „Fait et à faire“, Paris (Seuil) 1997. In deutscher Übersetzung sind von Castoriadis folgende Titel erschienen: „Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft“ (1983), „Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie“ (1989), „Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie“ (1990), „Das Politische der Philosophie“ (1993). 2 Paul Cardan, Pierre Chaulieu. 3 Martin Heidegger, „Kant und das Problem der Metaphysik“, Frankfurt a. M. (Klostermann) 1991. 4 Der Konflikt um das Einwanderungsgesetz (Loi Debré, Februar-März 1997) setzte das instituierte Imaginäre („man muß dem Gesetz gehorchen“) gegen das instituierende Imaginäre („man darf ungerechten Gesetzen nicht gehorchen, um sie besser zu machen“). 5 Viviane Forrester, „Terror der Ökonomie“, München (Zsolnay) 1997. 6 Dieser Tod eines bestimmten Marxismus (des Polizeimarxismus, der sowohl in der Politik als auch in der Philosophie ein solcher war), ist natürlich die Chance des Marxismus (oder allgemeiner der Sozialismen), die Verheißung einer zweiten Morgendämmerung: François Furet („Das Ende der Illusion – der Kommunismus im 20. Jahrhundert“) hat völlig unrecht, wenn er meint, die UdSSR habe den kommunistischen Gedanken verkörpert (das heißt ins Leben gerufen). Für den, der Marx zu lesen vermag, ist augenfällig, daß die UdSSR nie kommunistisch war (und ebensowenig irgendein anderer Staat). Als Kritik an der Sichtweise Furets sei der hervorragende Artikel von O.-M. Pascault, „Points de vue et images du monde“ empfohlen (L'Authenticiste, 2, rue Marengo, 29200 Brest, 7. April 1997).

Le Monde diplomatique vom 12.09.1997, von ROBERT REDEKER