Insel des Friedens in einem unruhigen Land
Angesichts all der Massaker könnte man glauben, daß ganz Algerien in einem Blutbad versinkt. Doch das ist keineswegs so. Manche Städte und Regionen sind bislang vom Schlimmsten verschont geblieben. Ein Beispiel ist Annaba, auch wenn Präsident Mohammed Boudiaf dort 1992 ermordet worden ist.
Von unserer NADJIA BOUZEGHRANE *
ANNABA, nur wenige Seemeilen entfernt von den tunesischen Stränden, gilt als eine gastfreundliche, offene und tolerante Stadt. Die Numidier siedelten an diesem Ort, der auch Hippo, Bouna oder Bône hieß, und er erlebte wechselnde Besatzungsmächte. Ein paar mehr oder weniger erhaltene Altertümer zeugen von der Herrschaft der Phönizier, der Karthager und der Römer (von 395 bis 430 war der heilige Augustinus Bischof der Stadt), ebenso der Vandalen, der Fatimiden, der Ziriden und der Hamaditen.
Um der Gewalt des Terrors, der Furcht vor Bomben und Anschlägen zu entkommen, haben sich viele Familien aus Algier und dem Umland (der Mitidja-Region) nach Annaba geflüchtet – die letzten Anschläge hat es hier 1994 gegeben. Die Menschen wirken nicht so geängstigt und gestreßt, auch wenn sie durchaus ihre Probleme haben: Teuerung, Arbeitslosigkeit, Wohnungsknappheit, kulturelle Verarmung... „Um den Terrorismus geht es hier weniger“, gibt man in Annaba gerne zu. „Die Gewalt macht uns Sorgen, aber wir sind nicht direkt von ihr betroffen.“
„La Table bônoise“ wird beschattet von einem uralten Feigenbaum. Hier treffen sich frühere Sportler, Champions von einst bei den Wettbewerben in Nordafrika und Frankreich. Fünf Herren im reiferen Alter sitzen um den Tisch und schlürfen ihren Morgenkaffee. Wie überall in der Stadt dreht sich das Gespräch um die Niederlage des Fußballclubs von Annaba im Spiel gegen Sétif, der den Verein den Aufstieg in die erste Liga kostet.
Das Café liegt an der Prachtstraße der Stadt, der Straße der Revolution, die früher (nach dem französischen Bürgermeister, einem Großgrundbesitzer in der Region) Cours Bertagna hieß. Kamil, einer der Besitzer, ein lebhafter Mann um die Vierzig, weiß eine Menge über seine Stadt und ihre Geschichte zu erzählen. „Die antike Stadt liegt zwei Kilometer entfernt von der Straße der Revolution, sie ist von den Phöniziern am Ufer der Bejjina gegründet worden, einem Fluß, der aus den Bergen kommt und damals noch schiffbar war. Heute nimmt er einen anderen Lauf. Im 11. Jahrhundert haben die Sanhadja eine arabische Stadt erbaut, deren heutiges Zentrum der Paradeplatz ist, auf der anderen Seite der Straße der Revolution. Und dann gibt es noch die französische Stadt, hier am früheren Cours Bertagna, wo samstags die europäischen Familien spazierengingen. Auf der einen Allee trafen sich die jungen Leute, auf der anderen die weniger jungen, und auf der dritten die Alten.“
Wenn heute die Alten an ihrem Stammtisch zusammenkommen, reden sie über Sport und erzählen sich Witze. Für sie heißt die Stadt immer noch Bône. „Wir Alteingesessenen von Bône werden immer die Marseiller von Nordafrika genannt, weil wir mit den Händen reden und Witze reißen“, erzählt Hadsch Kati, der von 1950 bis 1961 sechs Titel bei den nordafrikanischen Leichtathletikmeisterschaften gewonnen hat. Weil ihn die französische Organisation armée secrète (OAS) auf die Todesliste gesetzt hatte und er bereits eine Verwundung am Bein davongetragen hatte, gab er 1961 die sportliche Laufbahn auf. Heute leitet er die Basketballabteilung von Hamra Annaba.
Said Brahimi, ein anderes Mitglied der Runde, findet, „daß es mit der Stadt aufwärtsgegangen ist, weil sie es zu einem gewissen Wohlstand gebracht hat. In der Kolonialzeit lebten viele Algerier zusammengepfercht mit der ganzen Familie in einem einzigen Zimmer. Die meisten von uns wohnten in elenden Löchern – und wir sahen, wieviel besser es den Europäern ging. Mit acht Jahren fingen die Kinder an, bei Tobacop zu arbeiten. Ohne die Nationale Befreiungsfront (FLN) hätten wir heute keine Universitäten. Ich bin Mitglied der FLN, aber ich hatte nie einen Vorteil davon.“ Brahimi, ein früherer Fußballer, erzählt gern davon, wie er, zusammen mit Mostefa Zitouni, Abdelaziz Bentifour, Rachid Mekhloufi und anderen die Fußballmannschaft der FLN gegründet hat, und er erinnert sich noch genau an das erste Spiel, am 13. April 1958 in Tunesien, bei einem maghrebinischen Solidaritätsturnier für Djamila Bouhired, die damals im Gefängnis saß.1
Abdelaziz Sedradi, ehemaliger Vorsitzender des Unterstützervereins von Hamra Annaba, ist der Meinung, daß „es den Menschen hier nicht anders geht als überall im Land. Sie haben die gleichen Probleme: Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, keine Angebote im Bereich von Kultur und Sport... Es gibt Möglichkeiten, diese Probleme zu lösen, aber die Entscheidung liegt bei den politisch Verantwortlichen... Annaba besteht ja nicht nur aus der Straße der Revolution oder der Uferpromenade“, fügt er hinzu. „Da gibt es auch noch die Place d'armes und den Laurier rose, das Gaswerk und Sidi Salem und Bou Hamra [die Armenviertel der Stadt]. Man hätte dort eine Menge tun können. Aber statt dessen mußten die Sportvereine schließen, und auch für die Jugendzentren und andere Vereinigungen, die eine Funktion für das kulturelle Leben hatten, war kein Geld da.“ – „Man muß sich das vorstellen“, meint ein anderer am Tisch. „Eine Stadt, die die nordafrikanischen Meisterschaften im Wasserball gewonnen hat, besitzt nicht einmal ein eigenes Schwimmbad!“
Zur allgemeinen Überraschung gelang es der Ennahda, einer der beiden zugelassenen islamistischen Parteien, bei den Parlamentswahlen vom 5. Juni 1997 drei der sieben Sitze in der Regionalversammlung (wilaya) zu erringen. Damit überflügelte sie sowohl die Nationaldemokratische Sammlungsbewegung (RND) des Präsidenten Zéroual (zwei Sitze) als auch die gemäßigt islamistische Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens (MSP, die frühere Hamas) und die FLN, die jeweils einen Sitz errangen. In Annaba wundert man sich nach wie vor über diesen Erfolg.
Abderrahmane Boutamine, ein renommierter Rechtsanwalt, verweist auf „Geschäftemacher, Großbetrüger und mafiose Vereinigungen“. „In Algier wird den Menschen schon seit langem vor Augen geführt, wie die Reichen immer reicher werden“, meint er. „Aber hier in Annaba war man da zurückhaltender. Deshalb empfinden es diejenigen, die keine Arbeit haben und auf der Warteliste für eine anständige Wohnung stehen, jetzt als Provokation, wenn junge Leute mit Autos herumfahren, die 2,5 Millionen Dinar kosten.“2 Daß Korruption und Spekulationsgeschäfte, die seit den achtziger Jahren um sich gegriffen haben, in den Neunzigern noch schlimmer geworden sind, hat bei den ärmsten Schichten das längst bestehende Gefühl verstärkt, daß hogra – Unrecht – herrscht. Nach Meinung des Anwalts erklärt das den Wahlerfolg der Ennahda, bei dem allerdings auch die erfolgreiche Nachbarschaftsarbeit eine Rolle spielt, die von den Militanten der Partei geleistet wird.
Nach Ansicht von Boubakeur Achaichia, einem pensionierten Richter, ist „Annaba keine Stadt, in der der Islamismus Fuß fassen kann. Der Sieg der Ennahda ist Ausdruck eines Wählerprotests; die Verantwortlichen haben sich um die wahren Probleme eben nicht gekümmert. Schließlich sehen die Leute, daß es die Neureichen gibt, die trabendistes [Schmuggler], während die Familienväter nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Die Leute, die in den besseren Vierteln wohnen, sind nicht von hier. In der Zeit, als die Einheitspartei das Monopol hatte, fing es an mit der Anhäufung von Reichtum. Die Geschäfte sind voll mit Waren, aber die meisten Leute haben nicht das Geld, um sie zu kaufen.“
Ein entscheidender Faktor für die jüngere Geschichte von Annaba, und folglich auch für die heutigen Probleme, ist das gewaltige Stahlwerk El Hadjar am Rande der Stadt. Das betont auch der Soziologe Ali El Kenz, der eine umfangreiche Studie3 über die Fabrik verfaßt hat: „El Hadjar hat zur Herausbildung und Stärkung einer Schicht von Geschäftsleuten und Privatunternehmern beigetragen, aus der dann rasch eine örtliche Kapitalistenklasse entstanden ist. Das Werk war ein hervorragendes Mittel für die private Akkumulation von Kapital – zunächst durch die Bauvorhaben, dann durch den laufenden Betrieb. Wer etwas Startkapital und gute Beziehungen hatte, konnte in kurzer Zeit ein Vermögen machen. So kam es zu komplizierten Beziehungsgeflechten zwischen Geldgebern, lokalen Machthabern und leitenden Funktionären im Betrieb; ohne solche „Dreiecksverhältnisse“ waren Geschäfte mit El Hadjar nicht zu machen. Aber so entstand auch die Korruption, die Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme.“
Abbau von Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie
RECHTSANWALT Abderrahmane Boutamine hat durch seine Tätigkeit einen recht guten Einblick – er ist Spezialist für Verwaltungsrecht. „Ich konnte genau feststellen, in welchem Maße die Institutionen korrumpiert worden sind. Die Menschen haben an die Justiz geglaubt, vor allem in der Zeit nach dem Oktober 1988, und nun sind sie enttäuscht. Vor allem im Staatsapparat gibt es zu viele, die unangreifbar sind. Aber an den Staat glauben die Menschen immer noch, oder würden es gern. Die Bestimmungen des Rechts sollten keine Störungen hervorrufen, sondern sie beheben; das Recht dient nicht privaten Interessen, sondern dem Interesse der Allgemeinheit.“ Und wieder geht es um die hogra...
Von fern wirft die Arbeitslosigkeit ihren drohenden Schatten. Daß man sich darüber Gedanken machen muß, ist hier ein relativ neues Problem: In den siebziger und noch zu Beginn der achtziger Jahre gehörte Annaba dank seiner entwickelten Industriestruktur – und vor allem wegen des Eisen- und Stahlkombinats – zu den Gebieten mit der höchsten Beschäftigungsquote. Nun trifft der Personalabbau, zu dem sich zahlreiche Unternehmen, auch El Hadjar, gezwungen sehen, die Stadt mit voller Härte.
Der Soziologe Ali El Kenz erinnert daran, daß „1980 das Stahlwerk und die übrigen Produktionsstätten der Nationalen Eisenhüttengesellschaft (SNS) hier im Verwaltungsbezirk 20000 Arbeitsplätze im sekundären Sektor gestellt“ haben. Und wenn man den Angaben der Planungsabteilung des Unternehmens folgt, „schafft jeder Arbeitsplatz in der Stahlindustrie zwei weitere in anderen Bereichen, und von jedem Arbeitseinkommen leben durchschnittlich fünf Einwohner – das Kombinat hat also ein geradezu erdrückendes Gewicht in der Wirtschaft der Region“. Derzeit sieht sich jedoch die Firma Sider, die aus der Umstrukturierung von El Hadjar hervorgegangen ist, aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten gezwungen, die Belegschaft durch Entlassungen und freiwilliges Ausscheiden um 30 Prozent zu reduzieren – das sind 7650 Arbeitsplätze weniger...
Aber die Stadt kann in dieser kritischen Situation einen besonderen Trumpf ausspielen: ihre Lage an der Küste. Die Nähe zu Europa, die nahe gelegene Landesgrenze mit Tunesien, der Hafen, der Flughafen, das dichte Straßennetz, all das sind Vorteile. Tatsächlich hat sich Annaba im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung dem Zustrom privaten Kapitals, auch aus dem Ausland, geöffnet. Neuerdings geben sich in der Stadt die Vertreter von ausländischen Firmen und Investmentgesellschaften die Klinke in die Hand. Italiener, Spanier, Kanadier und Franzosen.
Nach einer Periode der Zurückhaltung „aufgrund der Sicherheitslage“ hält die französische Gesellschaft für Außenhandelsversicherung (Coface) inzwischen das Risiko bei Investitionen in Algerien für minimal, und das führt dazu, daß die Franzosen wieder auftreten und versuchen, die Marktanteile zurückzugewinnen, die sie an andere Partner Algeriens verloren haben. Im Juni 1997 fand in Annaba eine Messe statt, auf der rund vierzig kanadische Firmen ihre technischen Erzeugnisse und Verfahren in den Bereichen Nahrungsmittel, Fischerei, Elektronik, Gesundheitswesen, Bauwesen, Verpackung und Papier vorstellten. Mehr als 350 führende Vertreter privater und staatlicher Firmen aus Algerien besuchten die Messe. Im selben Monat schloß die spanische Gesellschaft Fertiberia, die in der Ammoniakerzeugung tätig ist, mit der algerischen Firma Asmidal Verträge über die Modernisierung einer Produktionsanlage in Annaba und den Bau einer Fabrik im 50 Kilometer entfernten Skikda.
Daß allmählich ein privater Sektor entsteht, der in die regionale Entwicklung investiert, zeigen die Aktivitäten von Mourad Hamami, dessen Familie, wie er stolz betont, „eine der wenigen gewesen ist, die sich während der französischen Besatzung erfolgreich der Enteignung ihrer Güter widersetzt hat“. Der Großgrundbesitzer Hamami hat vor kurzem, als Joint-venture mit einer deutschen Firma, eine Glashütte in Sidi Salem gegründet, einem der drei Gewerbegebiete (ZAC) von Annaba. Die Fabrik beschäftigt 120 Angestellte, darunter zwei Ingenieure und vier Techniker mit Hochschulabschluß. Außerdem hat Hamami in El Hadjar einen Hotelkomplex errichtet. Dort steigen jetzt die durchreisenden Ausländer ab und alle Firmenvertreter, die im Industriegebiet zu tun haben.
Das Hotel El Moungas, in dem dreißig Personen beschäftigt sind, bietet Vier-Sterne-Komfort und alle Serviceleistungen, die seine Kundschaft gewohnt ist: Fax und Telefon, Konferenzsaal, Restaurant, Selfservice, Cafeteria und Diskothek. Für die Zimmer oder Suiten zahlt man zwischen 1800 und 2500 Dinar. Wer ins Stadtzentrum, zum Flughafen oder zum Strand will, kann den kostenlosen Taxidienst in Anspruch nehmen. Der Besitzer versichert vorsorglich, daß auch Familien dort alles finden, was sie für einen Ferienaufenthalt brauchen. Es hat neun Jahre gedauert und 15 Milliarden Dinar gekostet, dieses Projekt zu realisieren. Um den Badetourismus zu fördern, hat man seit 1995 einen sogenannten „Blauen Plan“ ins Werk gesetzt. In diesem Sommer sind einige zehntausend Sommerurlauber eingetroffen, vor allem Algerier aus den benachbarten Regionen, aus dem übrigen Land und auch aus den Emigrationsländern. Allerdings gibt es im Bezirk Annaba, mit seinen 600000 Einwohnern, von denen 87 Prozent im städtischen Ballungsraum wohnen, nur 155 staatlich registrierte Hotels, die insgesamt 9355 Zimmer bieten können, außerdem 15 nichtregistrierte Herbergen. Das ist wenig, viel zuwenig, um die Urlaubsgäste unterzubringen, deren Zahl steigt – vor allem seit 1992, als die Gewaltakte in Teilen Algeriens begannen. Viele Familien, die direkt an der Küste wohnen – die ja praktisch durch das Stadtzentrum verläuft –, nutzen diese Situation, um im Sommer Zimmer zu vermieten...
Wenn es dunkel wird, finden sich die Familien am Strand ein. Man packt den Picknickkorb aus und widmet sich ganz entspannt dem Abendessen. Die Liebespaare, auf der Suche nach einem stillen Plätzchen, ziehen als Treffpunkt das „Kap der Wache“ (Ras El Hamra) am Ende der Corniche vor. Überall an der Küste gibt es touristische Einrichtungen: Das „Chems El Hamra“ (Rote Sonne), ein Hotel und Restaurant mit Diskothek und Nachtclub, das „Rym El Djamil“ (Schöne Gazelle), wo viele Brautpaare ihre Hochzeitsnacht verbringen, das „El Moua“, mit Blick auf die Ebene im Westen, das Festsäle und Hochzeitssuiten bietet. Und nur 50 Kilometer entfernt vom Zentrum, an der Straße nach Skikda, erstreckt sich die Bucht von Chetaibi (früher Herbillon), der „schönste Strand der Welt“. Bei so viel touristischen Attraktionen ist es kein Wunder, daß auch die 3. Mittelmeer-Filmtage ein Erfolg waren, die im Juli in Annaba stattfanden (die 2. Filmtage waren 1988 veranstaltet worden).
Aber die Wirtschaft in der Region von Annaba besteht nicht nur aus Tourismus und Stahlindustrie. Im Hinterland, das seit 1984 zu einem anderen wilaya (dem Bezirk Tarf) gehört, ist die Landwirtschaft der wichtigste Erwerbszweig. Lange Zeit wurde sie kaum gefördert, aber neuerdings geht es wieder aufwärts. „Die Bauern, vor allem die jungen Leute, die auf einer Landwirtschaftsschule waren, zeigen mehr Interesse“, erklärt Brahim Mérad, der Präfekt (wali) von Annaba. „Der Staat hat verstanden, daß man ihnen helfen muß, damit sie wirkliche Landwirte werden. Der politische Wille ist da.“ Dieser Vertreter der staatlichen Behörden, der inzwischen in einen anderen Verwaltungsbezirk versetzt worden ist, hat durchaus einen Blick für die „schlimmen Folgen“, die der Bau des Stahlwerks und der Asmidal-Fabrik für die Umwelt in der Region bedeutete. „Die Gigantomanie von El Hadjar hat zu einer regellosen Zersiedlung geführt, es setzte eine heftige Landflucht ein, und überall entstanden Elendsviertel. Man hat den Unternehmen erlaubt, zu bauen, wo immer und wie immer es ihnen paßte. Das hat die ganze Ebene im Westen zerstört: Das Ackerland wurde unter Beton begraben. Und die Regierung war der Situation nicht gewachsen. Sie hat weder für eine funktionierende Infrastruktur noch für die nötigen Straßen gesorgt.“
Diese Aussagen des Präfekten finden sich in der genannten Studie von Ali El Kenz über das Stahlwerk El Hadjar. Der Soziologe ist der Überzeugung, daß „die Entstehung dieses Industriekomplexes die gesamte Region aus dem Gleichgewicht gebracht hat: Um dort Arbeit zu finden, verließen Tausende ihre Dörfer und gaben die Landwirtschaft auf. Sie wurden zu ,entwurzelten‘ Proletariern, von der städtischen Gesellschaft in die Hölle der Elendsviertel verbannt und durch die neuen Bedingungen ihrer sozialen Existenz zutiefst verletzt.“
Die Auflösung der Slumsiedlungen hat deshalb höchste Priorität für die staatlichen Stellen. Aber dort leben mehr als 30000 Menschen. 1994 beschloß die Regierung daher ein Hilfsprogramm, das für 6200 neue Wohnungen, die sanitäre Infrastruktur und einige Straßen sorgen sollte. Doch bislang sind die Pläne nur zur Hälfte umgesetzt, die Zuteilung der Gelder für den zweiten Planungsabschnitt steht aus. Außerdem hat die Bezirksverwaltung „die Aktion ,1000 Einzimmerwohnungen‘ gestartet, die denen zugute kommen soll, die wenig Geld haben. Diese Einzimmerwohnungen haben 60 Quadratmeter, und um die Inneneinrichtung müssen sich die Käufer kümmern. Aber der Preis ist erschwinglich“, versichert der Präfekt.
In Annaba fiel am 29. Juni 1992 der algerische Staatspräsident Mohammed Boudiaf einem Mordanschlag zum Opfer. Er war erst kurz zuvor, nach achtundzwanzig Jahren im Exil, zurückgekehrt, um die Führung des Hohen Staatskomitees (HCE) zu übernehmen. Boubakeur Achaichia gehörte zu den ersten, die in der Stadt Unterschriften für die Nationale Sammlungsbewegung des Volkes (RPN) sammelten, die der ermordete Führer gründen wollte. „Ich habe ihn nicht persönlich gekannt“, meint er. „Aber für mich verkörperte er den Patriotismus und die Anständigkeit, und er war ein Hoffnungsträger der Jugend. Niemand sonst konnte mit den jungen Leuten in einer Sprache reden, die sie wirklich verstanden.“
Um das „Andenken an Boudiaf zu bewahren“, hat Boubakeur Achaichia 1993 ein Komitee ins Leben gerufen, und 1996 wurde er Mitglied der Boudiaf- Stiftung, die damals unter dem Vorsitz der Witwe des Ermordeten gegründet worden ist. Außerdem gehört er zu den Bürgern, die ein Denkmal für Boudiaf finanziert haben – die Büste steht nun vor dem Haus der Kultur in Annaba, dort, wo er ermordet wurde. „Als Boudiaf das Übel an der Wurzel packen wollte, wurde er ermordet“ erklärt Boubakeur Achaichia. „Ich wünsche mir, daß Präsident Zéroual und alle heutigen Vertreter des Staates den Weg einschlagen, den Boudiaf gewiesen hat, damit wir ein republikanisches und demokratisches Algerien aufbauen können.“ Und er fügt hinzu: „Dieses Attentat hat Annaba in die Geschichtsbücher gebracht, und darum haben die Bewohner der Stadt die besondere Verpflichtung, für Boudiafs Vermächtnis einzutreten: Seine letzte Botschaft an das algerische Volk hat er in Annaba abgegeben. Er sprach davon, daß man Algerien über alles andere setzen solle, daß man nicht an sich, sondern an sein Land denken müsse.“
dt. Edgar Peinelt
* Journalistin