16.01.1998

Freie Software für alle

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Freie Software für alle

DAS Internet (1969) wie auch das World Wide Web (1989) sind aus der öffentlichen Forschung entstanden, und ohne ihr reiches Angebot an unentgeltlichen Beiträgen wären diese Netze nicht denkbar gewesen. Diese ursprünglich „offenen“ Technologien wurden zum Teil von einer Handvoll Industrieller in Beschlag genommen. Doch paradoxerweise ist allein die außerhalb der Marktwirtschaft angesiedelte Produktion fähig, die Hegemonie der Firma Microsoft zu bedrohen, denn durch eine erfindungsreiche Nutzung des Urheberrechts kann diese Software eine dauerhafte Rolle im öffentlichen Bereich spielen.

Von BERNARD LANG *

Die ihrem Wesen nach immateriellen Informatikprogramme unterlaufen die traditionellen Formen des Handels. Von der Erstellung und der Entwicklung abgesehen können Produktion und Vertrieb dieser Programme fast kostenlos erfolgen – was sich an der positiven Entwicklung des Internet deutlich ablesen läßt. Die großen Softwarefirmen, die sich plötzlich weltweit mit der Konkurrenz von Kleinstunternehmen (etwa den start-ups im Silicon Valley) konfrontiert sehen oder mit Programmierern, die ihre Entwicklungen gratis anbieten, versuchen ihre Einkünfte und ihre Monopolstellung1 zu schützen, indem sie die Kontrolle über die Verbreitung von Softwarekopien und die Standards der Softwareentwicklung ausüben.

Genau dies war im Dezember 1996 in Bern der Grund für überstürzte Bemühungen um den Ausbau der Rechtsvorschriften bezüglich des geistigen Eigentums.2 Es ist außerdem der Grund für eine intensive technische Suche nach Verfahren zur Kennzeichnung elektronischer Güter, die es erlauben würden, den Weg ihrer Verbreitung nachzuverfolgen sowie Mechanismen auszuarbeiten, die die Reproduktion dessen verhindern sollen, was von Natur aus reproduzierbar ist. Die Energie, die früher aufgebracht wurde, um Güter zu vervielfältigen, wird nun dafür eingesetzt, Mittel zur Verhinderung ihrer Vervielfältigung zu finden, was den wirksamen Einsatz von Mitteln zur Datenverarbeitung behindert3 und die dauerhafte Nutzung der Inhalte gefährdet.

Freilich läßt sich diese künstliche Wiederherstellung der Knappheit – die einer absichtlichen Zerstörung von Ressourcen nahekommt – damit rechtfertigen, daß Gewinne nötig sind, um die Technologie weiterzuentwickeln, neue Produkte zu schaffen und bestehende zu verbessern, und daß dabei auch Arbeitsplätze entstehen. Man darf dabei allerdings nicht übersehen, daß die betroffenen Unternehmen eine geradezu märchenhafte Rentabilität aufweisen: Mit einem Umsatz von 11,4 Milliarden Dollar und nur 22300 direkten Arbeitsplätzen machte Microsoft 1997 3,5 Milliarden Dollar Gewinn. Mehr noch: Das heftige Wachstum des Informationstechnologie- und Kommunikationssektors ist vor allem durch Internet und World Wide Web angekurbelt worden, die der Marktwirtschaft nichts oder nur sehr wenig zu verdanken haben.4

Im Bereich der Softwareindustrie spielen die Mechanismen des freien marktwirtschaftlichen Wettbewerbs eine zweifelhafte Rolle. Die industriell vermarktete Software wird in einer vom Computer unmittelbar nutzbaren Form vertrieben (ausführbarer Code), jedoch ohne irgendeine der Informationen (Quellcode und Dokumentation), mit denen man sie ändern, an andere Maschinen anpassen und einer anderen Nutzung zuführen, zuverlässiger machen oder von den stets vorhandenen Fehlern befreien könnte. Noch dazu verbieten die Nutzungslizenzen solche Änderungen ausdrücklich. Dies verwehrt den Kunden – Unternehmen wie Organisationen – jede Kontrolle über die Wartung der Software, ihre Lebensdauer und ihre Anpassung an die Anforderungen. Doch wenn diese Software in Produkte eingebaut oder bei Dienstleistungen eingesetzt wird, ist die Kontrolle darüber oft ein entscheidender Faktor für das Funktionieren dieser Unternehmen und vor allem ihrer Strategie.

Die Globalisierung des Softwaremarkts, die besonderen Eigenheiten der immateriellen Güter und vor allem die gesetzliche oder technische Kontrolle der „Standards“, insbesondere bei den funktionellen Schnittstellen der Software und der Darstellung der Informationen, führen zu Monopolstellungen. Die Kunden sind nicht nur abhängig, sie haben auch keine Alternative mehr.

Der konkurrenzlose Lieferant ist entsprechend wenig motiviert, den besonderen Bedürfnissen seiner Kunden gerecht zu werden. Ein ganzer Technologiesektor kann unter die Kontrolle einer Firma (oder einer kleinen Zahl von Firmen) geraten. Auch Lehre und Forschung leiden darunter, daß die Bandbreite des Softwareangebots gering und unverzichtbare Informationen nicht frei verfügbar sind.

Die Ökologie der Ideen und Techniken gehorcht denselben Gesetzen wie die der Menschen. Das weitgehende Verschwinden der Vielfalt an Lösungen birgt mehrere Gefahren in sich. Wenn die Softwareerzeugung in der Hand weniger Unternehmen liegt, werden der Forschungsaufwand und vor allem die Vielfalt der Ansätze reduziert, und dies hemmt auch den technischen Fortschritt. Der Wettbewerb im Bereich der Entwicklung, der nötig ist, um technologische Sackgassen zu vermeiden, läßt nach oder verschwindet ganz, und der Mangel an Vielfalt läßt das technologische Gefüge anfälliger werden für Aggressionen – Computerviren sind nur ein Beispiel von vielen.

Ein Leitmotiv des sogenannten liberalen Denkens lautet, zur Marktwirtschaft gebe es keine Alternative. Auf den Softwarebereich trifft dies jedoch unbestreitbar nicht zu, denn es zeichnet sich bereits ein anderer Weg ab. Daß die Unternehmen von diesen Veränderungen nichts wissen wollen, ist begreiflich; der fast vollständige Blackout der Medien angesichts dieses neuen bedeutenden wirtschaftlichen Phänomens ist jedoch kaum zu erklären.

Die Suche nach einem anderen Weg wurde Anfang der achtziger Jahre von Richard Stallman, seinerzeit Forscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT), eingeleitet und schlug sich praktisch zunächst in der Gründung der Free Software Foundation5 nieder, später entstanden auch einige Firmen. Ursprünglich war beabsichtigt, freie Software (Freeware) zu erzeugen, die genau wie Ideen allen zur Verfügung stehen sollte – ganz im Geiste Pasteurs, Jeffersons und vieler anderer. Damit niemand diese freie Software mit Beschlag belegen konnte, kehrte Richard Stallman das Urheberrecht um und machte eine neue Art Lizenz populär, die „allgemeine öffentliche Lizenz“ genannt wird und eine Software davor schützt, daß ihrer Nutzung, Verbreitung und Veränderung technisch oder rechtlich ein Riegel vorgeschoben wird.6

Unter dem Einfluß dieser Lizenz entwickelt sich eine umfangreiche, vielfältige Softwareproduktion ohne Beschränkungen. Da die erforderlichen Informationen frei verfügbar sind, kann jeder Software nach Belieben anpassen oder verbessern und gratis oder auch nicht weiterverbreiten, ohne allerdings die Weiterverbreitung durch Dritte kontrollieren zu können. Und ganz dem liberalen Credo entsprechend hat dieser freie Wettbewerb außerordentlich positive Auswirkungen auf die Quantität und Qualität der hergestellten Software. Monetäre Aspekte aber spielen dabei nur eine ganz geringe Rolle.

Sichtbarstes Ergebnis dieser Form der Ökonomie ist ein Betriebssystem – Software, die für das Funktionieren jedes Computers erforderlich ist und dem Benutzer die Grundfunktionen (Dateiverwaltung, Bildschirmanzeige, Texterfassung, Anbindung an die Netze und so weiter) bietet – namens Linux, dessen Entwicklung 1991 auf Betreiben des finnischen Studenten Linus Torvalds ihren Anfang nahm. Zur Entwicklung von Linux leistete eine Vielzahl von Fachleuten in aller Welt, die über das Internet verbunden war, ihre konkurrierenden, aber unentgeltlichen Beiträge, und dabei entstand in Selbstorganisation die Struktur eines riesigen Unternehmens ohne Mauern, ohne Aktionäre, Gehälter, Werbung und Einkommen. Linux ist derzeit in vermutlich fünf oder sechs Millionen Geräten installiert, seine Nutzung in der Industrie nimmt immer weiter zu. Dies ist ein mit dem von Apple vergleichbar großer Markt, jedoch mit einem stärkeren Wachstum.

Verschiedene Studien haben ergeben, daß diese Software in jeder Hinsicht mit den kommerziellen Produkten Schritt halten kann. Dies zeigt sich außerdem an ihrer Durchsetzung auf dem Markt. Das bezeichnendste Beispiel hierfür ist wohl das Internet, das fast völlig verschwinden würde, wenn es diese Software nicht mehr gäbe.7

Die technische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Softwarefirmen ist in diesem Fall nicht mehr vorhanden oder deutlich verringert. Die Fortexistenz von Produkten und deren Entwicklung und Anpassung sowie der Kundendienst sind durch die Präsenz, die Tätigkeit und die Stabilität einer großen Zahl von Anwendern und Programmierern besser garantiert als durch die unberechenbaren Strategien der großen Softwareanbieter. Durch die freie Verfügbarkeit aller Entwicklungsressourcen ist es möglich, bei Fachleuten jegliche Garantie und jeden erforderlichen zusätzlichen Service dazuzukaufen.

Technisch stellt die freie Software eine glaubwürdige, erprobte Lösung dar. Sie schafft neue Wirtschaftszweige und damit Arbeitsplätze, indem sie Dienstleistungen und Lohnarbeit ausweitet, eine ergänzende oder konkurrierende kommerzielle Produktion fördert und vor allem den Technologieunternehmen durch die Zufuhr unentgeltlicher, unabhängiger, verläßlicher und qualitativ hochstehender Ressourcen wichtige Anregungen bietet.8 Die Entwicklung freier Software ersetzt eine zentralisierte (und monopolistische) kommerzielle Produktion, deren Abschottung langfristig die wirtschaftliche und technische Entwicklung erstickt und nur wenige Arbeitsplätze schafft, durch eine kommerzielle Dienstleistungstätigkeit, die mehr dezentralisierte Arbeitsplätze und mehr Wettbewerb schafft; außerdem begünstigt sie, durch die erhöhte technologische Beweglichkeit, die Gründung neuer Unternehmen. Dem Süden bietet die Verfügbarkeit freier, unentgeltlicher Ressourcen die Möglichkeit einer unabhängigen technologischen Entwicklung.

Softwareentwicklung verläuft in derselben Weise wie die Entwicklung mathematischer Theorien.9 Nun tun sich die Wissenschaft im allgemeinen und die Mathematik im besonderen mit Geheimhaltung und Abschottung schwer, die dagegen für die Entwicklungsarbeit in der Industrie gang und gäbe sind. Richtige Spezifikationen (Definitionen) und gute Leistungen (Erläuterungen, Präsentationen) entstehen nur langsam im Verlauf einer sozial offenen Entwicklung, bestehend aus Evaluierung, Gegenüberstellung und Zusammenarbeit. Daß das wesentlich jüngere Linux ein besseres System ist als Windows NT, die Vorzeigesoftware des größten Softwareherstellers der Welt, überrascht daher kaum. Generell kann man sich fragen, ob das klassische industrielle Umfeld tatsächlich für die Entwicklung immaterieller Technologien das am besten geeignete ist.

Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung von Verbrauchsgütern (Filme, Musik, Romane) und Produktionsgütern (Software, wissenschaftliche Beiträge) unterscheiden sich deutlich. Dieselben Rechtsvorschriften und Schutzbestimmungen in beiden Bereichen anwenden zu wollen ist absurd. Der Wirtschaftsliberalismus ist auf einem Auge blind: Er rechtfertigt das Verschwinden zahlreicher Schranken, auch solcher, die den einzelnen schützen sollen, und begründet die Schwächung der Souveränität der Staaten mit dem Wunsch nach größerer Durchlässigkeit des Marktes. Gleichzeitig aber errichtet er durch den massiven Einsatz von Copyrights und Patenten, durch die Mißachtung von Standards, die Macht über Schnittstellen, das Industriegeheimnis und das Streben nach Monopolen viel schädlichere Schranken für den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt und die Schaffung sinnvoller Arbeitsplätze.

dt. Sabine Scheidemann

* Leiter der Forschungsabteilung am Institut national de la recherche en informatique et en automatique (Inria). www.inria.fr/Bernard.Lang.

Fußnoten: 1 Vgl. Ralph Nader und James Love, „Surfen auf den Erfindungen der Konkurrenz“, Le Monde diplomatique, November 1997. 2 Pamela Samuelson, „On Authors' Rights in Cyberspace“, First Monday (Kopenhagen), Bd. 1, Nr. 4, Oktober 1996. www.firstmonday.dk. Vgl. auch Philippe Quéau, „Rettet das Internet“, Le Monde diplomatique, Februar 1997. 3 Richard Stallman, „Copywrong“, Wired (San Francisco), Juli/August 1993. www.wired.com/wired/1.3/. 4 Hervé Le Crosnier, „L'économie de l'information dans le contexte des nouvelles technologies“, Studientag zum Thema „L'information du domaine public à l'heure d'Internet et du numérique“, 18. Juni 1997, Paris. www.info.unicaen.fr/herve/pub97/juin/. 5 www.gnu.org.fsf/. 6 FSF: GNU General Public License (GPL). www.gnu.ai.mit.edu/copyleft/gpl.html. 7 Keith W. Porterfield, „Information wants to be valuable, NetAction Notes, Nr. 26, 3. September 1997, San Francisco, Kalifornien. www.netaction.org/articles/freesoft.html. 8 Freie Software wird in zahlreichen Anwendungen eingesetzt, in denen es auf Zuverlässigkeit ankommt: Steuerung von Experimenten an Bord von Raumfähren (Nasa), industrielle Robotertechnik (Lectra-Systeme, Frankreich), Wartung von Aufzügen (Fujitec, Japan), Kommandosysteme in der amerikanischen Armee, Treibstoffvertrieb (Schlumberger, Vereinigte Staaten) und so weiter. Die Zeitschrift Linux Journal, Seattle, Washington, berichtet über diese Art von Anwendungen in der Industrie. www.linuxjournal.com. 9 W. A. Howard, „The formulae-as-types notion of construction“, in „To Haskell Brooks Curry, Essays on Combinatory Logic, Lambda Calculus and Formalism“, hrsg. von Jonathan Paul Seldin und James Roger Hindley, Academic Press, 1980.

Le Monde diplomatique vom 16.01.1998, von BERNARD LANG