13.03.1998

Demokraten, Autokraten und graue Eminenzen

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Demokraten, Autokraten und graue Eminenzen

EIN wirkliches wirtschaftliches und soziales Wachstum, das auf Investitionen statt auf Spekulation basiert, hat Boris Jelzin in seiner Rede zur Lage der Nation am 17. Februar 1998 als wichtigstes Ziel anvisiert. Der Präsident nahm bewußt den Besuch des „Chefs“ des Internationalen Währungsfonds (IWF) zum Anlaß, um den Druck auf das Parlament zu verstärken, das ein „realistisches Budget“ verabschieden soll, aber auch auf die Regierung, der im Falle des Scheiterns die kollektive Entlassung droht.

Von NINA BASCHKATOW *

Es dauerte länger als ein Jahr, bis die Russische Föderation die Präsidentschaftswahlen vom Sommer 1996 verarbeitet hatte. Inzwischen hat sie es gelernt, mit einem kranken Präsidenten, seinen diplomatischen Schnitzern und seinem bisweilen befremdlichen Benehmen zu leben. Die Institutionen haben einem Zustand, der ein gefährliches Machtvakuum hätte mit sich bringen können, besser als erwartet standgehalten. Paradoxerweise ist in Rußland derzeit die Präsidialgewalt stark, obwohl der Präsident Schwäche zeigt. Erkrankt das Staatsoberhaupt, so nimmt ein kleiner Kreis die laufenden Geschäfte in die Hand, und die Maschine läuft störungsfrei weiter. Die besondere Begabung Boris Jelzins besteht in seinem ungewöhnlichen politischen Instinkt, der es ihm erlaubt, die Schwankungen der öffentlichen Meinung auszunutzen und das Staatsschiff auf Sicht zu navigieren.

Jelzin hat schnell begriffen, daß sich Rußland zwischen seiner ersten und seiner zweiten Amtszeit verändert hat. Heute besteht die Herausforderung darin, die Kräfte zu integrieren, die aus der Demokratisierungsbewegung hervorgegangen sind, während das politische Leben nach wie vor von unterschiedlichen Eliten bestimmt wird. Diese setzen sich zusammen aus Funktionsträgern der Regierung, den Spitzen einer Oligarchie, die privilegierten Zugang zur Macht und den Medien hat, sowie den regionalen Verwaltungschefs. In diesem komplexen Machtgeflecht kommt man nur zurecht, wenn man gut organisiert ist und verhandeln kann. Das erste ist der Präsident nicht, das zweite ist ihm zuwider.

Überdies wird im Zentrum des Machtsystems, das ein bizarres Gemisch aus demokratischen Überzeugungen und autokratischen Praktiken darstellt, die entscheidende Rolle noch immer von der grauen Eminenz besetzt. Allerdings ist diese Rolle von Jelzins alten Kumpeln und Weggefährten gemeinsamer politischer Eskapaden (wie Gennadi Burbulis oder Alexander Korjakow) auf einen so brillanten und kalten Technokraten wie Anatoli Tschubais übergegangen. In ihm sieht Boris Jelzin den neuen Russen; er ist tüchtig, er bewegt sich auf dem internationalen Parkett wie ein Fisch im Wasser, und er weiß sich unentbehrlich zu machen. Selbst wenn Tschubais in den Ruch von Skandalen gerät1 , hält der Präsident, der sich zunächst schockiert zeigt, an ihm fest, weil „es zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwierig ist, einen Experten von diesem Niveau zu finden“2 .

Im Herbst 1997 änderte Boris Jelzin sein Verhältnis zu den gewählten Institutionen. Er begriff, daß seine alte Taktik, die Opposition zu spalten und die Abgeordneten der Staatsduma gegen die Senatoren des Föderationsrats auszuspielen, nicht mehr taugte, um die Verabschiedung des Haushalts durchzupeitschen. In seiner Rede zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution sprach er von Versöhnung und Zusammenarbeit zum Wohle des Landes.3 Im Dezember veranstaltete er einen „runden Tisch“ mit der Opposition und den Regionen. Und er installierte eine Gruppe der „großen Vier“ (Staatspräsident, Ministerpräsident und die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern), in deren Rahmen sensible Fragen gemeinsam erörtert und Kompromißlösungen gefunden werden sollen. Schließlich kritisierte er in seiner Ansprache zum Jahreswechsel die „Ablösung der kommunistischen Losungen zur Produktionssteigerung durch Slogans der Marktwirtschaft“.4

Diese Kehrtwende wird abgerundet durch die Anfang Januar getroffene Entscheidung, aus dem Premierminister einen wirklichen Premier zu machen. Bis dahin war der Regierungschef lediglich Exekutor einer Politik, die in der Präsidialverwaltung beschlossen wurde; und deren Abteilungen waren jeweils das Gegenstück zu den Fachministerien und Räten (Sicherheitsrat, Verteidigungsrat usw.) beziehungsweise Staatskomitees (Staatsbetriebe, Zoll usw.), deren Mitglieder per Präsidentialdekret ernannt werden.

Der Erste und der Zweite Stellvertretende Ministerpräsident, Anatoli Tschubais und Boris Nemzow, waren unmittelbar dem Präsidenten unterstellt, was auch für die „großen“ Ministerien gilt (Verteidigung, Inneres, Sicherheit und Äußeres). Seither übt Wiktor Tschernomyrdin die Rolle des Regierungschefs in vollem Umfang aus, auch wenn er weiterhin mit den anderen Akteuren rechnen muß. Dieser – von politischem Opportunitätsdenken durchaus nicht freie – Schritt in Richtung einer klassischen Demokratie wurde als Sieg der Konservativen über die Reformer gewertet.

Aber der Präsident kann kaum etwas an dem chronischen Handicap der russischen Demokratie ändern: Nach wie vor gibt es keine richtigen politischen Parteien, sondern lediglich punktuelle Zusammenschlüsse, die sich um einzelne Personen gruppieren.5 Dieses Defizit zeigt sich zum einen an einer Regierung, deren Mitglieder weniger als 10 Prozent der Wählerschaft repräsentieren. Zum anderen hat es zur Folge, daß die Parlamentsmitglieder sich als Pressure-groups im Gefolge einzelner Persönlichkeiten betätigen, die sich durch eine besondere Kompetenz auszeichnen (etwa Wladimir Lukin im Bereich der Außenpolitik oder Alexej Arbatow auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik) oder das Aufbegehren einer gesellschaftlichen Gruppe symbolisieren (etwa Lew Rochlin das der Armee). Selbst eine so vielversprechende Partei wie Jabloko ist gezwungen, ihren Abgeordneten bei Abstimmungen freie Hand zu lassen, da sie sonst bei jeder Parlamentsdebatte auseinanderbrechen könnte.

Die Duma ist in ihrem Handlungsspielraum durch Desorganisation, mangelnde Infrastruktur (Experten, Bibliotheken etc.) eingeschränkt, aber auch durch ein antiparlamentarisches Klima, das vom Präsidenten und den Medien geschürt wird. Entsprechend sucht sie auch zu Beginn des Jahres 1998 noch immer ihren Platz im politischen Machtgefüge. Während der Debatten über die Haushaltsnovelle im Mai 1997 wäre beinahe die gesamte Duma ins Lager der Opposition übergelaufen, was den Präsidenten zwang, als Versöhnungsgeste den runden Tisch einzuberufen. Diese Initiative könnte Früchte tragen, wenn es der Opposition gelingt, ihre Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und ein positives Image wiederherzustellen. Wie dringlich dies ist, beweisen die Ergebnisse der letzten Regionalwahlen (Ende 1996 / Anfang 1997)6 und der Kommunalwahlen von 1997. Sie haben erneut die Vorliebe der Wähler für unpolitische Kandidaten demonstriert: für Verwaltungsmanager wie den Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow, aber auch für traditionelle Lokalgrößen wie Firmendirektoren und Universitätsrektoren.

Die Zentralmacht und die Regionen

DIE Ablehnung des Politischen bezieht sich auch auf die gesellschaftlichen Organisationen, die zumeist die Nachfolger alter kommunistischer Institutionen sind, weshalb man ihre Aktionen immer gleich im Kontext der Konfrontation zwischen Regierung und Opposition wahrnimmt. Auch die neugegründeten Organisationen leiden unter dem Verdacht, manipuliert zu werden, und sie sind Opfer der allgemeinen Überzeugung, daß sich ohnehin niemand um die Nöte der breiten Bevölkerung kümmert. Vor allem aber wird ihnen vorgeworfen, sie würden von ausländischen regierungsunabhängigen Organisationen unterstützt, deren missionarischer Geist viele Leute aufregt. Ein weiterer Vorwurf lautet, sie würden sich zu viel mit der Vergangenheit abgeben7 und vornehmlich Randgruppen unterstützen.

Im Oberhaus des Parlaments, dem Föderationsrat, wirkt das Fehlen echter politischer Parteien nicht so negativ. Diese Kammer besteht aus jeweils einem Vertreter von Exekutive und Legislative der 89 Föderationsmitglieder8 . Ihr Problem liegt darin, daß sie – obwohl als Stimme der Regionen gedacht – zur Arena der Verteilungskämpfe um die Zuschüsse für die Regionen geworden ist. In den letzten fünf Jahre wurden auf diese Weise politische Zugeständnisse mit ökonomischen Liberalisierungsschritten verknüpft, die in Verträgen über die „Aufteilung der Machtbefugnisse“ zwischen den Territorialeinheiten und dem Zentrum festgeschrieben sind. Damit können sich lokale Politiker in den Provinzen profilieren, deren Eliten nicht mehr wie zu kommunistischen Zeiten von Moskau angesogen werden (man denke nur an Mintimer Schaimijew in Tartastan, Eduard Rossel im Uralgebiet oder Jewgeni Nasdratenko im Fernen Osten).9

Diese Männer sind keine Sezessionisten, dafür profitieren sie zu sehr von ihrer Zugehörigkeit zur Föderation. Doch seit sie nicht mehr ernannt, sondern gewählt werden, hängt ihr politisches Überleben nicht mehr von guten Beziehungen zum Staatspräsidenten ab, sondern von der Fähigkeit, ihre Region „zu verteidigen“. Zudem hat die Finanzkrise die Pressionsmöglichkeiten des Zentrums eingeschränkt und die Regionen gezwungen, stärker auf eigenen Füßen zu stehen, seit die Zuschüsse der Föderation verringert und bestimmte Aufgaben an die Provinzen abgegeben wurden. So ist auf Föderationsebene ein Sammelsurium widersprüchlicher Gesetze und Regelungen entstanden, die der russischen Verfassung nicht selten hohnsprechen und den Graben zwischen den Regionen vertiefen.10 Deshalb ist es heute eine zentrale Aufgabe, die Föderation hinsichtlich des Status ihrer Mitglieder zu harmonisieren.

Die Demokratie aufzubauen ist schon eine gewaltige Herausforderung, aber in Rußland wird außerdem eine Marktwirtschaft aufgebaut. Es ist deshalb unumgänglich, daß die Russen nach wie vor einen gewissen Grad Dirigismus akzeptieren. Nicht weil sie gegen die Demokratie allergisch wären, sondern um zu spüren, daß jemand die Zügel in der Hand hat, und um hoffen zu können, daß nicht das totale Chaos eintritt. Im Zuge dieser Reformen ohne Modell, ohne Netz und doppelten Boden haben sich in Politik und Wirtschaft zwangsläufig Oligarchien gebildet, die sich gegenseitig stützen.

1992 hat sich eine bestimmte Arbeitsteilung eingespielt: Präsident Jelzin zerschlug das alte politische System, die Finanzkapitäne das alte Wirtschaftssystem; letztere erhielten dafür das Recht, sich zu bereichern. Doch mit der Zeit hing die Entwicklung des Landes immer weniger vom Kräfteverhältnis zwischen „Reformern“ und Kommunisten ab, und immer mehr vom Machtkampf der Reformer untereinander. Die wirtschaftlich Mächtigen wurden damit zum Schiedsrichter: Sie finanzieren die modernen Wahlkampagnen wie auch die Meinungsforschungsinstitute, die Politikern aus dem zweiten Glied zu lukrativen Posten verhelfen, vor allem aber kontrollieren sie die Medien, in die sie große Summen investieren11 . Zugleich behalten sie die Aufsicht über die politische Macht, die für die Wirtschaft noch lange eine bedeutende Rolle spielen wird.

Lang ist es her, daß sich Geschäftsleute ins Parlament wählen lassen wollten. Sie haben bald begriffen, wo die Macht liegt und wo die wirklichen Entscheidungen fallen. Nach Jelzins Wahlsieg von 1996, den sie im wahrsten Sinne des Wortes erkauft haben12 , besetzten die Bankiers wichtige Posten in der Regierung: Boris Beresowski avancierte zum Mitglied des Sicherheitsrats13 und Wladimir Potanin zum Wirtschaftsminister; Potanins Verbündeter Anatoli Tschubais bekam die Aufsicht über die Reformen und Alfred Koch, ein Freund von Tschubais, die Zuständigkeit für die Privatisierungen. Zudem kaufte Beresowski die Hälfte von Aeroflot und Wladimir Gussinski das vierte Fernsehprogramm. Vor allem aber wurden sie die Staatsbankiers, insofern sie den Staatshaushalt verwalten (mangels Finanzbehörde) und dem Staat Kredite geben – gegen Aktienbeteiligungen an den Staatsbetrieben.

Diese zwangsläufige „Komplementarität“ erlaubt es dem Staat, die Finanzkrise anzugehen, ohne Kapital im Ausland aufnehmen zu müssen, was wiederum soziale Konflikte vermeiden hilft. Die Bankiers wiederum können sich in einer Zeit, da die Inflation eingedämmt und mit Rubel-Spekulation nichts mehr zu verdienen ist, neue Einnahmequellen erschließen und völlig konkurrenzfrei in Staatsunternehmen investieren, ohne zusätzliche Gelder aufbringen zu müssen.

Im Mai 1997 wurde per Präsidialdekret wenigstens eine minimale Ordnung hergestellt. Aber es ist Boris Jelzin nicht gelungen, den Finanzbossen seine Politik des divide ut imperes (teile, um zu herrschen) aufzuzwingen, die er im politischen Raum so souverän einzusetzen versteht. Ohnmächtig muß er mit ansehen, wie die wirtschaftlichen Rivalitäten ins politische Leben hineinwirken. So erhielt im Sommer 1997 bei der Privatisierung des Telekommunikationsunternehmens Swjasinvest und des weltweit größten Nickelherstellers Nickel Norilsk ein Konsortium um die Onexim-Bank (des Wladimir Potanin) den Zuschlag; das Nachsehen hatten Most (das heißt Gussinski) und die Logowas-Gruppe (sprich Beresowski). Daraufhin attackierten diese die Sieger über ihre Medien, und in der Folge auch Potanins Verbündete in der Regierung, also Tschubais und Nemzow. Der Konflikt eskalierte so sehr, daß Jelzin am 15. September die „sieben Bojaren“14 einbestellte und den Banken die Leviten las: Sie seien „gegenüber der Regierung aggressiv geworden“. Doch schon drei Monate später mußte er bei ihnen wieder antichambrieren, weil er Geld für die ausstehenden Löhne brauchte.

Die Macht dieser „Barone“ ist nicht zu erfassen, wenn man sie nur mit dem vulgären Milieu neureicher oder krimineller Kreise identifiziert. Diese zehn, zwölf Männer, die angeblich die Hälfte der russischen Wirtschaft in der Hand haben, operieren zwar mit brutalen Methoden, aber sie sind akademisch ausgebildete Leute, die hart arbeiten und deren Lebensstandard durchaus niedriger ist als der ihrer Kollegen im Westen. Doch vor allem hegen sie den Traum, als große Industriekapitäne in die Geschichte einzugehen. Ihre Beziehungen zu den politischen Eliten basieren weniger auf Korruption als auf den klassischen Kontaktnetzen unter Kommilitonen und Jugendfreunden, die um so mehr Vertrauen schaffen, als sie in einer rechtlich weitgehend ungeregelten Welt spielen.

Diese Leute verstehen sich auch als „Patrioten“, und solange sie die Macht ihres Landes absichern und sich nicht ans Ausland „verkaufen“, sieht man ihnen vieles nach. Dabei haben sie leichtes Spiel, denn auch in der Bevölkerung ist die Auffassung verbreitet, daß man sich, wenn Ausbeutung unvermeidlich ist, schon lieber von den eigenen Leuten ausbeuten läßt. Auch die Präsidialverwaltung zieht – wie im Falle Norilsk – Landsleute vor, weil ausländische Firmengruppen Entlassungen sofort vornehmen wollen, ohne sich um die sozialen und politischen Folgen zu kümmern. „Auch wir werden das tun, aber langsam, auf russische Weise“, meint ein Vertreter der Onexim- Bank.

Den Banken kommt auch zugute, daß nach dem Kalten Krieg die Stärke eines Staates sich allein nach seiner ökonomischen Stärke bemißt. Das erkennt auch die Regierung, wenn sie in den ausländischen Delegationen mehr Geschäftsleute als Diplomaten vertreten sieht und zugleich liest, wie die Monopole in Rußland von denselben Finanzblättern angeprangert werden, die Fusionen im Westen in den Himmel loben. Selbst die jungen Reformer sind der Meinung, der nationale Markt müsse geschützt werden, solange die russischen Firmen der internationalen Konkurrenz nicht mit gleichen Waffen entgegentreten können. Boris Nemzow will zwar die Monopole – wegen ihrer mangelnden Transparenz – bekämpfen, erklärt aber zugleich: „Nur ein Dummkopf würde Gasprom zerschlagen.“

Die Entwicklung geht neuerdings dahin, daß die großen Wirtschaftsgruppen zu einer Komponente der Außenpolitik werden – etwa in der Kaspischen Region15 –, insofern sich die Bereiche der Wirtschaft, der Verteidigung nationaler Interessen und die nationalen Sicherheitsbelange überlagern. Die Bankiers können darauf vertrauen, daß die Medien ein Konsensklima schaffen, indem sie ihre Erfolge als Siege des ganzen Landes darstellen – und sie selbst als letzte Bastionen russischer Macht.

In dieser Übergangsphase hat sich also eine subtile Bündnisbalance eingependelt, weil die Akteure kapiert haben, daß sich keiner auf eigene Faust retten kann. Die Grenzlinien sind unscharf, und die Gefahr, daß das ganze System ins Wanken kommt, droht von allen Seiten. Aber diese Haltung beweist auch eine beachtliche Anpassungsfähigkeit. Man sollte also noch den Wald vor lauter Bäumen sehen. Rußland droht am Ende dieses Jahrhunderts weniger die Gefahr, in die Diktatur zurückzufallen, als vielmehr der zu abrupte Absturz in eine liberale Postdemokratie. Mit Wahlen, die von Geld und Meinungsmachern beherrscht werden, einer Wirtschaft, die in den Händen weniger großer transnationaler Gruppen liegt, und einer Gesellschaft, die zerrissen ist zwischen einem auftrumpfenden Individualismus und den einzelnen Interessengruppen, die um die Durchsetzung ihrer Ideen und Vorteile kämpfen.

dt. Eveline Passet

* Journalistin, The European Press Agency, Brüssel.

Fußnoten: 1 Veruntreuungen bei den Privatisierungen und 90000 Dollar, die fünf Politiker als „Vorschuß auf Autorenhonorare“ von einem Verleger erhielten, der der Onexim-Bank nahesteht. 2 Itar Tass, 27. November 1997. 3 Nina Bachkatov, „80e anniversaire de la révolution d'octobre: signification d'un non-événement“, Transitions (Brüssel), Vol. XXXVIII, 1997, 1 & 2. 4 Vollständiger Wortlaut in „Summary of World Broadcasts“, BBC London, 26. Dezember 1997. 5 David Remnick, „Can Russia change?“, Foreign Affairs, New York, Januar/Februar 1997, S. 35-50. 6 Siehe Jean Radvanyi, „Die Wahlen in den Regionen haben das Gleichgewicht verändert – Moskau und die Macht der Provinzen“, Le Monde diplomatique, März 1997. 7 So brauchen beispielsweise die Ökologiebewegungen Hilfe, damit sie, statt nur eine Bestandsaufnahme der alten Umweltverschmutzungen zu machen, gegen die neuen kämpfen können, die die Marktwirtschaft mit sich bringt. 8 Siehe Bernard Frédérick, „Les frontières incertaines de la Russie“ und die Karte in Manière de voir, Nr. 29, Februar 1996. 9 Siehe insbesondere Vicken Cheterian, „Tartastan als Modell? – Wirtschaftliche Autonomie gegen Bündnistreue“, Le Monde diplomatique, September 1995. 10 RIA-Nowosti, Moskau, 20. Januar 1998. 11 Siehe Yasha Lange, „Media in the CIS“, Düsseldorf (The European Institute for the Media), Mai 1997, und Pascale Bonnamour, „Bonzen, Banken und Kanäle“, Le Monde diplomatique, Januar 1998. 12 Daniel Treisman, „Why Yeltsin won“, Foreign Affairs, September/Oktober 1996. 13 Zu den Hintergründe der Entlassung vgl. Inside Russia and the FSU, monatliche Publikation der European Agency Press, November 1997. 14 Michail Fridman von der Alfa-Bank, Alexander Smolenski von der SBS-Agro und der Stolitschny Bank, Wladimir Gussinski von Media-Most, Michail Chodorowski von Rosprom und Menatep, Wladimir Potanin von der Onexim-Bank und Wladimir Winogradow von der Inkombank. 15 Siehe Vicken Cheterian, „Kaukasische Pipelinenetze und politische Knotenpunkte“, Le Monde diplomatique, Oktober 1997.

Le Monde diplomatique vom 13.03.1998, von NINA BASCHKATOW