17.04.1998

Solidarwirtschaft und Arbeit

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Solidarwirtschaft und Arbeit

Das Bündnis, das in Frankreich ein Teil der republikanischen Rechten mit dem Front National eingegangen ist, offenbart die tiefgehenden Brüche in der Gesellschaft. Trotz deutlicher Mißbilligung durch die Medien und die führenden Parteienvertreter legen die Rechten mit ihren ausländerfeindlichen Parolen weiter zu. Nährboden dieser Entwicklung ist zum einen die Krise der politischen Institutionen – Korruption, Mandatshäufung, Ausgrenzung der Frauen und so weiter –, zum anderen der Alltag der „ökonomischen Horrordaten“. Wer den Front National bekämpfen will, muß auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren, auf die Revolution in der Datenverarbeitung, wie auch auf die ungeheuren Produktivitätsgewinne (die eine Begleiterscheinung dieser Revolution sind). Noch nie waren die westlichen Länder so reich, noch nie war die gesellschaftliche Einkommensverteilung so ungleich. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, wird es Zeit, daß wir neue Wege erkunden und insbesondere das Potential der Solidarwirtschaft ausloten, die eine Entkoppelung von Arbeit, Einkommen und sozialen Rechten ermöglicht.

Von JEAN-PAUL MARÉCHAL *

DIE aktuelle Situation der entwickelten Industriegesellschaften ist durch die beispiellose Parallelität zweier Entwicklungen gekennzeichnet: Während der Reichtum ständig wächst, nimmt gleichzeitig die Unterbeschäftigung1 mitsamt der entsprechenden Armut zu. Betrachtet man die vergangenen fünfzehn Jahre, so hatten wir anscheinend die Wahl zwischen einem Elend mit einem bißchen weniger Arbeitslosigkeit (das US-amerikanische Modell) und einem Elend mit einem bißchen mehr Arbeitslosigkeit (das kontinentaleuropäische Modell). Wer diese Feststellung akzeptiert, verkennt allerdings zweierlei: das Wesen der Informationsrevolution und die zahlreichen Möglichkeiten der Wirtschaft, aus der Sackgasse herauszukommen: die Verkürzung und Umorganisation der Arbeitszeit, ein existenzsicherndes Einkommen mit sozialen Mindestrechten (siehe dazu auch den Beitrag von Chantal Euzéby auf den Seiten 8 und 9) und die Entwicklung der Solidarwirtschaft.

Im Unterschied zu den früheren technischen Revolutionen (auf Basis der Dampfmaschine im 18. und auf Basis der Schwerindustrie im 19. Jahrhundert) ermöglicht die Informationsrevolution – also der technologische Wandel, der durch die Entwicklung und Verbreitung von Elektronik, Datenverarbeitung, Telekommunikation, Biotechnologie und so weiter hervorgerufen wird – nicht mehr nur die Mechanisierung, sondern darüber hinaus auch die Automatisierung der Produktionsabläufe.

Diese beiden Begriffe sind sorgfältig zu unterscheiden: Bei der Mechanisierung übernimmt die Maschine lediglich die körperliche Arbeit des Menschen. Bei der Automatisierung hingegen steuert sie zusätzlich ihre eigenen Abläufe und korrigiert selbständig ihre Fehler. Die Automatisierung ersetzt also menschliche Organe, die körperliche Leistungen, Gedächtnisleistungen und Entscheidungsleistungen erbringen, durch technologische Organe.

Damit sind die Bedingungen für eine Umgestaltung (reengineering) der Produktionssysteme gegeben, deren negative Arbeitsplatzeffekte um so verheerender ausfallen, als nicht mehr nur die traditionellen Industriezweige – Schwer-, Textil- und Automobilindustrie – Entlassungen vornehmen, sondern auch Unternehmen, die unmittelbar in der Informationsbranche selbst tätig sind. In den Vereinigten Staaten erreichte die Arbeitsplatzvernichtung in diesem Bereich in den vergangenen Jahren beeindruckende Ausmaße: 83000 bei AT&T, 22000 bei Nynex, 21000 bei Hughes, 17000 bei GTE, 14000 bei Eastman Kodak, 20000 bei BellSouth, 10000 bei Xerox und 9000 bei US West.2

Angesichts dieser Zahlen beruhigen sich die Neoliberalen mit der von Alfred Sauvy3 vorgeschlagenen „Verlagerungstheorie“, wonach sich die Erwerbsbevölkerung aufgrund des technischen Fortschritts von der Landwirtschaft über die Industrie und von dort zum Dienstleistungssektor verlagert habe. Nach Ansicht der Neoliberalen kann die Informationsrevolution unmöglich zu dauerhafter Arbeitslosigkeit führen, weil ständig neue Produktionssysteme benötigt werden und außerdem im Dienstleistungssektor aufgrund zahlreicher unbefriedigter Bedürfnisse laufend neue Arbeitsplätze entstehen. Beide Argumente mögen in sich stimmig erscheinen, halten einer Überprüfung jedoch nicht stand.

Es ist zwar richtig, daß die Wirtschaft immer mehr informations- und steuerungstechnologische Produkte braucht, doch erfordert deren Herstellung nur wenig Arbeitskräfte, da auch hier hochentwickelte technische Verfahren zum Einsatz kommen. Hier liegt ein Unterschied zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert, als die Herstellung von Maschinen und der Bau von Infrastrukturanlagen weit mehr Arbeitsplätze schuf, als in anderen Bereichen vernichtet wurden.

Was das zweite Argument anbelangt, so stimmt es zwar, daß die aus dem Industriesektor verdrängten Arbeitskräfte in den vergangenen Jahrzehnten neue Beschäftigung im tertiären Sektor fanden – in Frankreich stieg ihre Zahl von 7,1 Millionen im Jahr 1949 auf 14,2 Millionen im Jahr 1990. Doch dieser Umschichtungsprozeß kann nicht mehr lange so weitergehen. Das hat einen einfachen Grund: Die Datenverarbeitung erobert auch diesen Sektor – in Frankreich bewirkt dies zur Zeit einen jährlichen Zuwachs der Pro- Kopf-Produktivität von 2 Prozent, in den Vereinigten Staaten von etwa 0,5 Prozent. Angesichts dieser Entwicklung – die neuerdings ganze Branchen wie etwa das Banken- und Versicherungsgewerbe heimsucht – wird vielfach darauf verwiesen, dafür würden im nichtkommerziellen Tertiärsektor Arbeitsplätze entstehen. Immer öfter hört man denn auch, die überschüssigen Arbeitskräfte aus Landwirtschaft, Industrie und kommerziellem Tertiärsektor würden sich künftig auf natürliche Weise zum nichtkommerziellen Tertiärsektor verlagern. Diese These läßt allerdings einen wesentlichen Sachverhalt außer acht: Wenn nicht unverzüglich neue Mechanismen zur Umverteilung des geschaffenen Reichtums eingeführt werden, wird die Entwicklung des kundennahen Dienstleistungssektors kurz- oder mittelfristig an der Zahlungsunfähigkeit der daran interessierten natürlichen oder juristischen Personen scheitern. Es ist aber unwahrscheinlich, daß die Wirtschaftsliberalen eine solche Umverteilung in Angriff nehmen werden, weil sie sich eine Lösung des Arbeitslosenproblems allein durch die Produktivitätszuwächse versprechen. Wieder einmal wird also beiseite geschoben, was keinen Zweifel mehr duldet: Der bis Ende der siebziger Jahre positive Zusammenhang zwischen Produktivität und Beschäftigung existiert nicht mehr. In fast allen Ländern der OECD werden durch Produktivitätszuwächse Arbeitsplätze nicht mehr geschaffen, sondern vernichtet.4

So weigern sich die Verfechter traditioneller Wirtschaftspolitik, die technisch- wirtschaftlichen Umwälzungen und die damit einhergehende Entkoppelung von Produktion, Beschäftigung und Einkommen zur Kenntnis zu nehmen, und starren weiterhin auf das Produktivitätswachstum. Andere Möglichkeiten, die Menschen via Reichtumsproduktion in das soziale Leben einzubinden, werden geflissentlich übersehen. Karl Polanyi hat gezeigt, daß die Menschen, bevor sie ihren Bedarf über den Markt deckten, Produktion wie Verteilung nach folgenden drei Prinzipien organisierten: Gegenseitigkeit, Umverteilung und Hauswirtschaft.5

Zum Teil bestimmen diese Prinzipien das Verhalten noch heute. Wie der Soziologe Jean-Louis Laville6 , gestützt auf Polanyis Analyse, herausgearbeitet hat, setzt sich die Wirtschaftstätigkeit aus drei Elementen zusammen, deren Bedeutung je nach Zeit und Ort wechselt: die kommerzielle Geldwirtschaft (Markt), die nichtkommerzielle Geldwirtschaft (sozialstaatliche Umverteilung) und die nichtkommerzielle Nichtgeldwirtschaft (Nachbarschaftswirtschaft, also Naturaltausch von Gütern und Dienstleistungen unter Nachbarn).

Auf ihre jeweils spezifische Weise legten sowohl der Wirtschaftsliberalismus als auch der Keynesianismus das Hauptaugenmerk auf den geldwirtschaftlichen Bereich. Der dritte Sektor, in dem Ende des Zweiten Weltkriegs immerhin noch 49 Prozent der französischen Bevölkerung tätig waren, wurde von ihnen entweder nicht zur Kenntnis genommen oder sogar zerstört. Seither ist es dem Liberalismus auf seinem Siegeszug gelungen, die gesamte Wirtschaftstätigkeit der Marktlogik zu unterwerfen. Dringend gebraucht wird aber ein neues Gleichgewicht zwischen den genannten Wirtschaftsbereichen. Das erfordert zumindest zwei Maßnahmen: eine Verkürzung und Umorganisation der Arbeitszeit und die Entwicklung der Solidarwirtschaft.

Was immer die Gegner von Arbeitszeitverkürzungen einwenden mögen: Die Maßnahme ist unerläßlich, und sei es nur, um den derzeitigen Beschäftigungsgrad zu sichern. Die französische Wirtschaft beispielsweise hatte 1991 mit einem Bedarf von 34,1 Milliarden Arbeitsstunden nur noch 57 Prozent des Bedarfs von 1896, als sie 60 Milliarden Arbeitsstunden benötigte. Während sich das französische Bruttoinlandsprodukt im Laufe von knapp hundert Jahren verzehnfacht und die Produktivität pro Arbeitsstunde sogar um das Achtzehnfache zugenommen hat, mußte die Jahresarbeitszeit von mehr als 3000 Stunden auf ungefähr 1000 Stunden fallen, um auch nur eine leichte Zunahme der Beschäftigung zu erzielen, nämlich von 19 Millionen Beschäftigte 1896 auf 22,1 Millionen 1990).7 Diese Entwicklung läßt sich in allen Industrieländern beobachten. So schrumpfte die Jahresarbeitszeit zwischen 1960 und 1990 in den Vereinigten Staaten von 1960 auf 1800 Stunden, in Kanada von 2030 auf 1750 Stunden und in Japan von 2450 auf 2090 Stunden.8

Jenseits dieser Zahlen kann man die Frage der Arbeitszeitverkürzung unmöglich von der Einkommensfrage trennen. Es ist völlig indiskutabel, die Löhne und Gehälter zu kürzen, wie eine buchhalterische Auffassung von Ökonomie es immer wieder fordert. Denn erstens zieht jede Arbeitszeitverkürzung eine Umorganisation der Arbeit und damit eine Zunahme der Produktivität nach sich – was die negativen Auswirkungen für das Unternehmen abmildert –, und zweitens bringt jede Erhöhung der Kaufkraft der Privathaushalte positive makroökonomische Wirkungen (eine nachfrageinduzierte Belebung der Wirtschaftstätigkeit).

So notwendig sie auch sein mag, die Verkürzung und Umorganisation der Arbeitszeit allein ist noch keine hinreichende Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit. Parallel dazu muß jenes Arbeitspotential genutzt werden, das in den sozialen und umweltbezogenen Bedürfnissen steckt, die die Gesellschaft aufgrund unzureichender zahlungsfähiger Nachfrage nur schlecht befriedigt. Ermöglicht würde dies durch die Förderung und vor allem auch juristische Anerkennung jener neuerungsträchtigen Aktivitäten, die in dem Begriff „Solidarwirtschaft“9 zusammengefaßt werden.

Diese Bezeichnung bezieht sich auf eine Vielfalt weltweiter Erfahrungen, die nicht Profitmaximierung im Auge haben, sondern nichtbefriedigte Bedürfnisse wie etwa die Unterstützung älterer Menschen, Kinderbetreuung, Umweltpflege und dergleichen mehr. Zur ständigen Einrichtung können diese Erfahrungen – in die bereits Millionen von Menschen eingebunden sind – jedoch nur auf der Grundlage eines ausgewogenen Verhältnisses verschiedenartiger Ressourcen werden, das heißt von kommerziellen (Verkaufserlös aus den geleisteten Diensten), nichtkommerziellen (Umverteilung) und nichtmonetären (freiwillige Leistungen). In manchen Kinderkrippen ist das bereits verwirklicht. Hier werden die Kinder sowohl von ehrenamtlichen Helfern wie auch von bezahltem Fachpersonal betreut, dessen Löhne durch eine Kombination aus Beiträgen der Eltern und staatlichen Zuschüssen finanziert werden.

Dieser dritte Bereich der Wirtschaft braucht Regeln und ein stimmiges Gesamtkonzept. Bernard Eme und Jean- Louis Laville10 haben dafür eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen: etwa die Bildung einer Sphäre von Tätigkeiten, die mit dem Staat vertraglich geregelt sind, oder die soziale Anerkennung freiwilliger Arbeit – wer unbezahlte, aber dem Gemeinwesen zuträgliche Arbeiten verrichtet, soll Anspruch auf Altersversorgung und Krankenversicherung haben –, bis hin zur rechtlichen und verfahrensrechtlichen Absicherung der Selbständigkeit solidarwirtschaftlicher Projekte, um so eine Vermischung mit Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

Die Entwicklung dieses Gesamtkomplexes von Tätigkeiten, der zugleich die wirtschaftliche Einbindung und die soziale Eingliederung ermöglicht, erfordert ein neues Zusammenwirken von Zivilgesellschaft und staatlichen Eingriffen. Was man dabei verbindlich definieren müßte, wären nicht so sehr die Initiativen der privaten Akteure als vielmehr die Modalitäten, unter denen die Gemeinschaft bestimmte Projekte unterstützt. Wem dieser Voluntarismus der öffentlichen Hand ein Dorn im Auge ist, der sei daran erinnert, daß die andere, die liberale Methode, nachbarschaftliche Dienstleistungen zu entwickeln, eine weitere Zunahme der Einkommensunterschiede bewirkt, das heißt unbezahlte Hausarbeit im Zentrum der Gesellschaft stimuliert.

dt. Bodo Schulze

* Hochschulassistent an der Universität Rennes-II, Autor von „Le rationnel et le raisonnable: L‘économie, l‘emploi et l‘environnement“, Presse universitaire de Rennes 1997.

Fußnoten: 1 Der Begriff der Unterbeschäftigung ist weiter gefaßt als der Begriff „Arbeitslosigkeit“ und berücksichtigt außer den registrierten Arbeitslosen auch die Nichtregistrierten sowie die unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten. 2 Zahlenangaben von Jean-Jacques Salomon, „Europe – États-Unis: progrès technique et myopie des éeconomistes“, Futuribles, 211 (Juli-August 1996), Paris. 3 Alfred Sauvy, „La Machine et le chômage“, Paris (Hachette) 1982. 4 Vgl. Eileen Appelbaum, Ronald Schettkat, „Emploi et productivité dans les pays industriels“, Revue internationale du travail, Bd. 134, Nr. 4-5, Genf 1995. 5 Karl Polanyi, „The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen“, dt. von Heinrich Jelinek, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1978. 6 Jean-Louis Laville (Hrsg.), „L'économie solidaire. Une perspective internationale“, Paris (Desclée de Brouwer) 1994. 7 Zahlenangaben nach Jacques Rigaudiat, „Réduire le temps de travail“, Paris (Syros) 1993. 8 Vgl. Olivier Marchand, „Une comparaison internationale des temps de travail“, Futuribles, 165-166 (Mai-Juni 1992), Paris. 9 Jean-Louis Laville (Hrsg.), a. a. O. 10 Jean-Louis Laville, Bernard Eme, „Économie plurielle, économie solidaire“, Revue du Mauss, 7 (1. Halbjahr 1996).

Le Monde diplomatique vom 17.04.1998, von JEAN-PAUL MARÉCHAL