Kein Friede für die Geister der Verschwundenen
ÜBERALL in Lateinamerika behindern die ehemaligen Schlächter die Bemühungen, die Wahrheit über die Zeit der Diktatur herauszufinden. In diesem Zusammenhang steht zweifelsohne die Ermordung des Weihbischofs von Guatemala-Stadt, Juan Gerardi, zwei Tage nach der Veröffentlichung eines kompromittierenden Berichts über die guatemaltekische Armee, an dem er mitgearbeitet hatte. In Haiti verdeutlicht der Prozeß gegen die Urheber des Massakers, das im Oktober 1991 verübt wurde, die Untauglichkeit des Rechtsystems und den fehlenden politischen Willen der Regierung.
■ Von WILLY J. STEVENS *
In keinem anderen lateinamerikanischen Land hat der Bürgerkrieg so lange gedauert (von 1960 bis 1996) und war so mörderisch wie in Guatemala, dem „Griechenland der Neuen Welt“. 150000 Menschen sind umgekommen, zwischen 40000 und 50000 „verschwunden“, ebenso viele mußten sich ins Exil retten – vor allem nach Mexiko –, und eine Million Menschen wurden von ihrem Wohnort vertrieben. Am stärksten betroffen war der Bezirk Quiché. Die Verbrechen von Las Dos Erres, Xaman, Chacaltém, Chajul, Las Canoas und Baja Verapaz sind mit blutigen Lettern in die jüngste Geschichte der Heimat von Tecun Uman eingeschrieben.
Es war seit langem klar, daß Militär und Polizei ein Friedensabkommen nur in Verbindung mit einer Amnestie akzeptieren würden. Zwischen den Jahren 1982 und 1988 wurden daher bereits vierzehn Amnestiedekrete erlassen1 , die allein dazu dienen sollten, denjenigen Straffreiheit zu garantieren, die die Verfassung mit Füßen getreten und Verbrechen begangen hatten. Als vor einiger Zeit erneut eine Amnestie vorgeschlagen wurde, diesmal für den Zeitraum von 1988 bis 1996, rief das bei einigen Opfern und ihren Familien Protest hervor. Im Juni 1996 gelang es ihnen, ein breiteres Bündnis gegen die geplante Straffreiheit zu schließen. In einem offenen Brief an Staatspräsident Arzú, den Baumeister des Friedens, betonten sie, allein die Opfer seien berechtigt, über die Gewährung einer Amnestie zu entscheiden. Die Guerillaorganisation Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG) erklärte ihrerseits, sie benötige eine derartige Maßnahme nicht, da sie in ihrem „gerechten Kampf für die Verteidigung der Grundrechte und der ökonomischen, sozialen und politischen Rechte der Armen“ keine Verbrechen begangen habe. Auch der Generalstaatsanwalt und die Kirche lehnten die geplante Amnestie ab. Hinzu kam der Druck von seiten der internationalen Öffentlichkeit, so daß die offizielle Friedenskommission (Copaz) sich gezwungen sah, das Vorhaben erst einmal auf Eis zu legen.
Dennoch wurde die Amnestie im Rahmen des Friedensvertrages von Madrid am 12. Dezember 1996 schließlich gewährt. Dieser Vertrag sah die Verabschiedung eines nationalen Versöhnungsgesetzes vor, das die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen aufhob, die während des bewaffneten Konflikts im Lande begangen worden waren.
Der Anwendungsbereich dieses Gesetzes ist enger gefaßt als bei den klassischen Amnestiegesetzen im übrigen Lateinamerika. Strafbar bleiben demnach Delikte, die im Zusammenhang mit bewaffneten Zusammenstößen begangen wurden, Straftaten, die nicht verjähren, und solche, für die laut nationaler Gesetzgebung oder internationalen Verträgen, die Guatemala ratifiziert hat, eine Annullierung der strafrechtlichen Verantwortung nicht zulässig ist. Bei sogenannten zusammenhängenden Straftaten muß ein Gericht im Einzelfall entscheiden, ob sie die Bedingungen erfüllen.
Als am 29. Dezember 1996 die endgültige Version der Friedensverträge unterzeichnet war, konnte die „Kommission zur Ermittlung der historischen Wahrheit“ über die Menschenrechtsverletzungen ihre Arbeit aufnehmen. Sie setzt sich aus drei Kommissaren zusammen: dem deutschen Professor Christian Tomuschat, einer Vertreterin der indianischen Gemeinden, Otilia Lux de Coti, und dem guatemaltekischen Juristen Edgar Alfredo Balsells Tojo. Das Teilabkommen von Oslo (1994), aus dem diese Wahrheitskommission hervorgegangen ist, legt für ihre Arbeit eine Reihe von Einschränkungen fest. So darf ihr Abschlußbericht weder die Verantwortlichen für die Straftaten bei Namen nennen noch juristische Konsequenzen nach sich ziehen. Im Gegenzug darf er „institutionelle“ Verantwortlichkeiten für die begangenen Verbrechen herausstellen.
Neben der gründlichen Untersuchung von etwa einhundert Fällen soll sich die Kommission allgemein mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit befassen, die von beiden Seiten begangen wurden, und Empfehlungen formulieren, um die Wiederholung solcher Taten zu verhindern. Der Nutzen dieser Empfehlungen ist allerdings dadurch begrenzt, daß sie keinen bindenden Charakter haben. Schließlich wird die Kommission auch Maßnahmen zur moralischen und materiellen Entschädigung der Opfer vorschlagen.
Die Kommission hat ihre Arbeit am 31. Juli 1997 aufgenommen, mit mehreren Monaten Verspätung, weil es an Geld fehlte (7,8 Millionen US-Dollar wurden benötigt). Die Gesamtzeit bis zur Fertigstellung des Berichtes wurde daher schließlich auf zwölf Monate verlängert, die Kommission wird ihren Bericht also Ende Juli 1998 vorlegen.
Die Untersuchung konzentriert sich vor allem auf sieben Arten von Straftaten: Menschenrechtsverletzung mit Todesfolge; schwere Körperverletzung; Folter; grausame, unmenschliche und herabwürdigende Behandlung; Vergewaltigung; Verschwindenlassen von Personen und Entführung. Über die Presse wurden Betroffene aufgerufen, Zeugenaussagen zu machen. Anfangs hatten die Menschen Angst, obwohl den Informanten Anonymität und die Geheimhaltung ihrer Berichte zugesichert worden war. Die Kommission kann niemanden zwingen, auszusagen (in Südafrika riskieren diejenigen, die sich einer Zusammenarbeit mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission verweigern, bis zu zwei Jahre Gefängnis), sie kann auch keine Amnestie gewähren, um die Schuldigen zu ermutigen, frei auszusagen (vor der südafrikanischen Kommission sind zahlreiche Personen erschienen, weil sie bis zum 15. Dezember 1997 die Möglichkeit hatten, um Straffreiheit zu ersuchen).
Aufgrund verschiedener Umstände konnte die Kommission, die soeben die Phase der Zeugenanhörung abgeschlossen hat, nur etwa 9000 Aussagen zusammentragen, die sich auf 5700 Fälle und 30000 Tote beziehen. Das ist ein relativ schlechtes Ergebnis, verglichen mit den 35000 Zeugenaussagen, die beispielsweise in El Salvador in bezug auf nur halb so viele Straftaten gesammelt wurden. Allerdings werden der Kommission auch die circa 25000 Aussagen zur Verfügung stehen, die das Erzbistum von Guatemala-Stadt im Rahmen seiner Aktion „Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses“ (REMHI) zusammengetragen hat. Eine Fleißarbeit, die der kirchlichen Organisation mit der Hilfe von nicht weniger als 6000 Menschen in einem Zeitraum von drei Jahren gelungen ist. Am 27. April, zwei Tage nach der Vorstellung dieses Berichts, der die Verbrechen der Armee und der paramilitärischen Gruppen bestätigte, wurde Juan Gerardi, Weihbischof von Guatemala-Stadt, ermordet.
Für den Erfolg der Kommission ist die Mitwirkung der verschiedenen Konfliktparteien ebenso entscheidend wie der Zugang zu den Archiven des US-amerikanischen State Department, des Pentagon, der CIA und der Internationalen Entwicklungsagentur AID in Washington. Präsident Arzú hat 800000 Dollar für ihre Finanzierung zur Verfügung gestellt und die bedingungslose Kooperation von Militär, Polizei und Justizapparat zugesagt. Das ist erfreulich, Dennoch hängt der Erfolg der Kommission vom guten Willen der Regierung und von deren Durchsetzungsvermögen gegenüber den Konfliktparteien ab. Es steht nicht in der Macht der Wahrheitskommission, deren Mitarbeit einzufordern, es sei denn durch einen öffentlichen und direkten Appell an die Konfliktparteien und durch diplomatischen Druck seitens der internationalen Gemeinschaft, die 85 Prozent der laufenden Kosten trägt. Anläßlich des ersten Jahrestags der Unterzeichnung des Friedensvertrages hat die Europäische Union einen feierlichen Aufruf an alle Konfliktparteien gerichtet, uneingeschränkt mitzuarbeiten.
Ohne Zweifel enthalten die Militärarchive wichtige Informationen, wie zum Beispiel strategische Planungen, Befehle, Einsatzberichte und –protokolle oder die Informationen der Agenten des militärischen Geheimdienstes G2. Doch die hochrangigen Militärs befürchten, daß diejenigen belangt werden könnten, die schwere Verbrechen begangen haben. Sie haben ihren eigenen Bericht über Menschenrechtsverletzungen auf seiten der Guerilla vorgelegt. Auf die wiederholte Aufforderung der Kommission, Informationen über fünf Fälle massenhaften Verschwindens zur Verfügung zu stellen, haben sie bislang mit Schweigen reagiert. Das Kommissionsmitglied Tomuschat hat sie bereits öffentlich aufgefordert, mehr Transparenz zu praktizieren. Bürgerbewegungen, vor allem die „Allianz gegen die Straffreiheit“ und die Myrna-Mack-Stiftung, haben sogar erwogen, gegen Militär und Polizei Strafantrag wegen Mißachtung der Pflicht zur Zusammenarbeit mit der Kommission zu stellen. Selbstverständlich ist auch die Mitarbeit der Guerilla von zentraler Bedeutung2 . Wie schon die Frente Farabundo Marti de Liberación Nacional (FMLN) in El Salvador, behauptet auch die URNG, daß sie nur über wenig Archivmaterial verfüge. US-amerikanische Funktionäre wiederum haben erklärt, man solle sich in bezug auf Dokumente, die sich in Washington befinden könnten, keine großen Hoffnungen machen ...
Eine Schwäche des Auftrags an die Kommission liegt darin, daß er das Problem der 45000 „Verschwundenen“ nicht vorrangig behandelt. Dies ist allerdings auch in keinem anderen Land geschehen. Erst vor sehr kurzer Zeit kam in Uruguay und El Salvador die Forderung auf, zu diesem Zweck eine besondere Kommission einzurichten. Die Wahrheitskommission scheint nicht in der Lage, Polizei und Militärs zur Enthüllung jenes verborgenen „Mechanismus“ zu zwingen, der das Verschwindenlassen von Menschen möglich gemacht hat, geschweige denn offenzulegen, wo die Leichen der „Verschwundenen“ begraben wurden – sofern sie nicht, wie viele vermuten, in einen Vulkan oder ins Meer geworfen wurden3 .
Man schätzt, daß es in der zerrissenen Heimat des Nobelpreisträgers für Literatur, Miguel Ángel Asturias, etwa 500 bis 800 Massengräber gibt, von denen viele allerdings noch nicht entdeckt wurden. Wenn die Kommission auch nicht berechtigt ist, einzelne Verantwortliche zu nennen, so hindert ihr Mandat sie keineswegs daran, die Frage der „Verschwundenen“ zu untersuchen. Dieses Ziel ist noch wichtiger als die Ausarbeitung von Empfehlungen, die dazu beitragen sollen, derartige Verbrechen in Zukunft zu vermeiden. Ein Scheitern in diesem Punkt wäre für die Familien der Opfer dramatisch und würde das gesamte Resultat der Kommissionsarbeit entwerten.
Für die Angehörigen der Opfer ist es sehr wichtig, daß die Leichen der „Verschwundenen“ aufgefunden werden. Hier, im Land des Popol Vuh4 und der Bücher von Chilam-Balam, gilt nach der Kosmogonie der Maya-Quiché, daß die Toten weiterleben, wenn sie nicht begraben werden. Sie bleiben gefangen zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten. Deshalb begräbt man sie mit Wasser, Nahrung und verschiedenen nützlichen Gegenständen. Wenn ein Leichnam nicht vorschriftsmäßig begraben wurde, findet die Seele keine Ruhe. Sie irrt ziellos umher, erfüllt die Familie mit Ängsten, und es ist sogar möglich, daß sie Rache sucht. Auch betrachten die Mayas die Erde als die mystische Bleibe sowohl der Lebenden als auch der Toten. Wenn ein Leichnam von der Erde getrennt ist, die ihm Nahrung gegeben hat, lastet auf ihm der schlimmste aller Flüche. Deshalb werden die Mayas, um die sterblichen Überreste ehren zu können, noch lange mit dem Problem der Massengräber beschäftigt sein.
Wen wird das Gewissen so sehr belasten, daß er das bleierne Schweigen der Institutionen zu brechen wagt und den Ort verrät, an dem die „Verschwundenen“ begraben worden sind – wie es in Argentinien Hauptmann Adolfo Scilingo und in Chile General Joaquin Lagos Osorio getan haben? Die Wahrheitskommission stellt für alle involvierten Konfliktparteien eine einzigartige Gelegenheit dar, zu einer Versöhnung zu gelangen, und zwar sowohl untereinander als auch mit sich selbst und mit der Welt.
Es wäre verfrüht, über die Ergebnisse zu urteilen, die diese Kommission erzielen wird, doch ihr Bericht wird endlich sagen, was in 36 Jahren Bürgerkrieg geschehen ist und warum. In Anbetracht der zahlreichen juristischen, finanziellen, politischen und soziologischen Einschränkungen wird sie nur sehr wenig zur Aufklärung von Einzelfällen beitragen können. Derartige Wahrheitskommissionen laufen immer Gefahr, daß die Angehörigen der Opfer zu viel von ihnen erwarten und dann enttäuscht werden. Es steht also zu hoffen, daß die Empfehlungen für eine Aussöhnung von der Regierung ernst genommen werden und sie zum Beginn einer nationalen Übereinkunft führen.
Die Prinzipien, die sich aus der bisherigen internationalen Rechtsprechung über massenhafte und systematische Verbrechen ergeben, verlangen vom Staat dreierlei: Er ist verpflichtet, die Wahrheit öffentlich bekannt zu machen, ferner, die Verantwortlichen zu verurteilen und zu bestrafen, die diese Übergriffe begangen, befohlen oder gebilligt haben, auf welcher Seite sie auch immer gestanden haben5 ; und schließlich muß er die moralischen und materiellen Schäden umfassend wiedergutmachen. So gesehen ist die Arbeit der Wahrheitskommission in Guatemala ein erster Schritt auf dem Weg zur nationalen Aussöhnung.
dt. Miriam Lang
* Belgischer Botschafter in Mittelamerika (San José de Costa Rica). Dieser Text gibt die Meinung des Autors, nicht der belgischen Regierung wieder.