15.05.1998

Haitis steinige Wege zur Gerechtigkeit

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Haitis steinige Wege zur Gerechtigkeit

Von DANIEL ROUSSIÈRE und GILLES DANROC *

RABOTEAU, das unweit des Meeres gelegene Elendsviertel am Stadtrand von Gonaives, das traurige Berühmtheit erlangte, macht erneut von sich reden. Am 2. Oktober 1991, unmittelbar nach dem Staatsstreich, der Präsident Jean- Bertrand Aristide ins Exil trieb, hatten die Truppen von General Raoul Cédras erstmals die Bevölkerung durch ein Massaker in Panik versetzt. Am 22. April 1994 lockte die Armee gemeinsam mit den paramilitärischen Verbänden der „Revolutionären Bewaffneten Front für den Fortschritt in Haiti“ (FRAPH) die Bewohner von Raboteau in eine Falle. In der Nacht eröffneten bewaffnete Milizionäre und uniformierte Soldaten auf den Straßen das Feuer, traten Wohnungstüren ein und mißhandelten die Bewohner. Viele Bewohner versuchten in Richtung Meer zu entkommen, wo sie von weiteren Soldaten und FRAPH-Mitgliedern erwartet wurden, die den Flüchtenden in Booten auflauerten und in die Menge schossen.

Die „Kommission für Gerechtigkeit und Frieden“ von Gonaives schätzt, daß „über zwanzig Menschen an Land oder im Meer getötet, über 200 Personen, darunter Frauen und Kinder, gefoltert oder geschlagen und über 100 Häuser verwüstet und ausgeplündert wurden. Mehr als 5000 Menschen mußten nach dem Massaker aus dem Viertel flüchten.“1 Die nationale Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit (CNVJ) hält eine Zahl von „sechzig bis hundert Toten (...) für wahrscheinlich“. Sie kommt zu folgender Schlußfolgerung: „Die Kommission ist der Ansicht, daß für die Menschenrechtsverletzungen das in Gonaives stationierte Militär verantwortlich ist, das von attachés2 und Mitgliedern der paramilitärischen Gruppen der FRAPH unterstützt und vom Chef der taktischen Einheit befehligt wurde (...). In Anbetracht des Ausmaßes der Operation ist festzuhalten, daß auch der Kommandant des Departements Artibonite aufgrund seiner Funktion verantwortlich gemacht werden kann. Angesichts des massiven und systematischen Vorgehens kann dieses Massaker (...) auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden, eine gerichtliche Untersuchung würde dies bestätigen.“3 Danach überstürzten sich die Ereignisse. Am 31. Juli 1994 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 940 und gab damit grünes Licht für eine multinationale Truppe, die unter Aufsicht der UNO und unter US-amerikanischem Kommando in Haiti den Frieden wiederherstellen sollte. Am 18. September 1994 landeten 20000 „Marines“ auf der Insel, und am 15. Oktober 1994 wurde Jean-Bertrand Aristide als legitimer Präsident wieder in sein Amt eingesetzt. Am 17. Dezember 1995 wurde schließlich René Préval durch demokratische Wahlen zu dessen Nachfolger bestimmt.

Die Widersprüchlichkeit der Situation zeigt sich daran, daß amerikanische Marineeinheiten im September 1994 ebenjene Armee auflösten, die von den USA während ihrer Invasion zwischen 1915 und 1934 aufgebaut worden war. General Cédras war nach seinem Staatsstreich bei dem Versuch gescheitert, eine Scheindemokratie zu errichten. Mit der Rückkehr von Jean-Bertrand Aristide haben die USA ihren ehemaligen Verbündeten, die Armee, fallengelassen und sie kurzerhand aufgelöst, um eine neue Strategie der Gängelung einzuschlagen, die sich durch eine geschickte Mischung aus Wirtschaftsliberalismus, wirtschaftlicher und kultureller Abhängigkeit und den Aufruf zu nationaler Versöhnung auszeichnet.

Nach Angaben der „Plattform der Menschenrechtsorganisationen“ sind beim Staatsstreich fast 5000 Personen umgekommen, in einem Land mit sieben Millionen Einwohnern. Trotz des beschränkten Zeitraums von nur neun Monaten hat die CNVJ rund 8000 Beschwerden aufgenommen. Die UNO-Mission zur Überwachung der Menschenrechte hat ihre Schlußfolgerungen ebenfalls veröffentlicht. Zwei Prozesse gegen mutmaßliche Mörder sind tatsächlich schon über die Bühne gegangen, doch waren sie von seiten des Justizministeriums völlig unzureichend vorbereitet worden. In einem schlampig durchgezogenen Verfahren wurden schließlich ein paar kleine Fische verurteilt, während Bob Lecorps im Prozeß um den Mord an Justizminister Guy Malary sogar freigesprochen wurde. Die Bevölkerung reagierte empört auf diese Farce, die vor allem eines deutlich machte: die Unfähigkeit der Regierung, das Recht durchzusetzen.

Um den 7. Februar 1998, also zwölf Jahre nach dem Sturz der Regierung Duvalier, wurde der Polizeikommissar von Mirebalais von einer aufgebrachten Menge bei lebendigem Leibe verbrannt. Die internationale Gemeinschaft zeigte sich angesichts dieser „Lynchjustiz“4 wieder einmal bestürzt, und mahnte „deutliche Fortschritte im Bereich der Justiz“ an. Der noch für dieses Jahr geplante Prozeß gegen die Mörder von Raboteau wird vom amtierenden Präsidenten als große Aufarbeitung des Staatsstreichs angekündigt. Der Untersuchungsrichter von Gonaives hat einen Haftbefehl gegen den ehemaligen Generalleutnant Raoul Cédras und den ehemaligen Polizeichef, Oberstleutnant Michel François, wegen Anstiftung zu Verbrechen in Zusammenhang mit dem Putsch erlassen. Entsprechend den Empfehlungen der CNVJ5 wurden auch gegen weitere acht Mitglieder des damaligen Generalstabs Haftbefehle erlassen.

Die langwierigen Vorbereitungen zu diesem Prozeß gehen zwar nur langsam voran, hatten aber sehr gut angefangen. Trotz der damit verbundenen Gefahr hatte die Kommission für Gerechtigkeit und Frieden der Diözese Gonaives eine detaillierte Bestandsaufnahme der Repression erstellt, die das Viertel während des Staatsstreichs erleiden mußte. Gestützt auf diese glaubwürdige Grundlage und andere Nachforschungen, hatte die CNVJ eine Untersuchung durchgeführt, deren Ergebnisse Präsident Aristide am 5. Februar 1996 in Form eines offiziellen Berichtes vorgelegt wurden.

Dieser Bericht blieb, zur großen Enttäuschung aller, über Monate hinweg in den Schubladen von Justizminister Pierre- Max Antoine liegen. Erst nach zahlreichen Protesten machte Antoine die Ergebnisse nach und nach publik. Die Bevölkerung Haitis und die zahlreichen Opfer warten aber noch immer auf die Veröffentlichung des gesamten Berichts in kreolischer Sprache. Die meisten abschließenden Empfehlungen wurden nicht umgesetzt. Die Killer von einst haben Posten in der neuen nationalen Polizei oder in der Gefängnisverwaltung erhalten. Einer von ihnen war sogar im Sicherheitsdienst des Nationalpalastes tätig, während sein Name gleichzeitig in Anhang 4 des Abschlußberichtes der CNVJ (Seite 1-b, Kode P 0402) aufgeführt war. Eine Wahrheitskommission ohne strafrechtliche Kompetenzen kann allerdings nur dann etwas bewirken, wenn sie die Zivilbevölkerung möglichst umfassend informiert und das Justizsystem wie auch der Behördenapparat tiefgreifend umstrukturiert werden. Doch in diesem Bereich hat sich nichts getan, und nach wie vor herrschen Lähmung, Trägheit und Desinteresse.

Nach den unseriösen Verfahren gegen die Mörder von Antoine Izméry, Claude Museau und Guy Malary 6 fordern die Opfer von Raboteau einen ernsthaften Prozeß. In einem ersten Schritt haben sie den Mut gehabt, Klage zu erheben, und über fünfzig Anzeigen erstattet. Sie wurden dabei von der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden der Katholischen Kirche von Gonaives und zwei Basisorganisationen aus den Slums unterstützt. Die ersten Verhaftungen ehemaliger Militärs, die bisher als unberührbar galten, haben in der Bevölkerung einen regelrechten Beifallssturm ausgelöst. Nun lernt die andere Seite das Fürchten.

Genaugenommen war Präsident Aristide unter internationalem Druck gezwungen gewesen, den Putschisten eine Amnestie zu gewähren, die sich jedoch (gemäß Art. 147 der Verfassung) nur auf den politischen Aspekt bezieht. Sie gilt nicht für allgemeine Straftaten oder Verbrechen und schützt Personen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden, nicht vor einem möglichen Verfahren vor Zivilgerichten. Darüber hinaus ist die Strafverfolgung im Fall von schwerwiegenden Verstößen gegen das universale Menschenrecht zwingend. Da die Opfer selbst Klagen eingereicht haben, begründet der Untersuchungsrichter den Haftbefehl gegen ehemalige Militärs mit der Anklage der Bildung krimineller Vereinigungen.

Schutz für die Mörder von gestern

ES bedurfte allerdings der persönlichen Entschlossenheit von Präsident René Préval, damit über die Köpfe der betroffenen Instanzen hinweg erste, wenn auch noch bescheidene Ergebnisse erzielt und die ersten Verhaftungen vorgenommen werden konnten. Von den rund fünfzig Haftbefehlen wurden bisher fünfundzwanzig ausgeführt, die wichtigsten geistigen Urheber der Massaker sind allerdings noch nicht gefaßt. Die hochrangigen unter ihnen haben sich ins Ausland abgesetzt, ohne daß, in Erwartung eines Urteils, ihr Besitz vorläufig beschlagnahmt worden wäre. General Cédras lebt luxuriös im panamaischen Exil, und ausgerechnet die US-Regierung hat seine Häuser zu einem stolzen Preis gemietet. Der ehemalige Polizeichef Michel François genießt unterdessen den Schutz von Honduras. Er war am 6. März 1997 auf Betreiben der USA in Tegucigalpa wegen Verwicklung in ein bedeutendes Drogengeschäft verhaftet worden, das über Haiti – mittlerweile eine der wichtigsten Drehscheiben im weltweiten Drogenhandel – abgewickelt werden sollte. Am 22. Juli verfügte der Oberste Gerichtshof von Honduras seine Entlassung aus der Haft, eine Auslieferung wurde abgelehnt. Daß Haiti Chancen hätte, die Auslieferung des exilierten ehemaligen Generalstabschefs zu erreichen, wenn sich die Regierung zu einem entsprechenden Antrag entschließen würde, kann bezweifelt werden. Das politische und juristische System auf dem amerikanischen Kontinent fordert mit der einen Hand, was es mit der anderen verweigert oder schützt.

Im Justizapparat herrschen Korruption und Inkompetenz. Doch die Zivilbevölkerung in Raboteau läßt sich nicht beirren und hat trotz Drohungen und Druck mutig die unterschiedlichsten Hindernisse überwunden. Dennoch ist kaum zu erwarten, daß dieser Erfolg Schule machen wird.7 Denn andernorts haben die Opfer noch immer Angst davor, Klage zu erheben, die Anklagebehörden fürchten sich, Untersuchungen einzuleiten, und die Polizisten trauen sich nicht, die prominenten Verbrecher zu verhaften.

Wer wird der Zivilgesellschaft dabei helfen, einen Rechtsstaat zu errichten?8 Washington sicher nicht. Denn während die USA von Honduras die Auslieferung von François Michel fordern, verweigern sie die Auslieferung des ehemaligen FRAPH-Führers, Emmanuel Toto Constant, der in New York verhaftet und dann unter dem Vorwand, die haitianische Justiz sei zu wenig vertrauenswürdig, wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Die US- Regierung weigert sich auch, Haiti die Archivdokumente zurückzugeben, die die US-Truppen unter Aufsicht der UNO und gestützt auf Artikel 5 der Resolution 940 des Sicherheitsrates im Oktober 1994 entwendet haben. Insgesamt waren aus den Büros der FRAPH und des Armeehauptquartiers 160000 Seiten und audiovisuelle Dokumente von höchster Bedeutung beschlagnahmt und nach Washington gebracht worden.

Die UNO als allein zuständige Instanz für die Dokumente hat es verabsäumt, die Aufbewahrung der Unterlagen in ihren eigenen Büros anzuordnen, um sie der haitianischen Regierung zurückgeben zu können. Trotz wiederholter Aufforderung seitens der Regierung in Port-au-Prince und der haitianischen Bevölkerung hat Washington, obwohl es anerkennt, daß die Dokumente rechtmäßiges Eigentum des Staates Haiti sind, deren Rückgabe verweigert, solange die darin aufgeführten „Namen aller amerikanischen Bürger und aller Freunde der USA“ nicht gelöscht sind. Die Affäre ist von einiger Tragweite, da es sich hier um die einzigen schriftlichen und bildlichen Unterlagen handelt, die das Funktionieren des Staatsterrorismus belegen und eine Grundlage bieten würden, den Staatsstreich tatsächlich in einem Prozeß untersuchen und damit die Straffreiheit bekämpfen zu können.

Wie Raoul Cédras hat auch der Chef der FRAPH zugegeben, von der CIA ein Gehalt bezogen zu haben. Die meisten hochrangigen Mörder besitzen eine doppelte amerikanisch-haitianische Staatsbürgerschaft. Der Botschafter der Vereinigten Staaten in Port-au-Prince, Leslie Swing, hat bezüglich der Archive eingeräumt, daß es sich um glatten Diebstahl handelt. Doch der UN-Generalsekretär hüllt sich in Schweigen. So kann der mächtige Nachbar im Norden auf dem ganzen Kontinent die allgemeine Straffreiheit für seine ehemaligen Komplizen durchsetzen. Im Fall von Haiti schon deshalb, weil es die USA waren, die den legitimen Präsidenten wieder in sein Amt eingesetzt haben ...

Die durch die Kommission für Gerechtigkeit und Frieden von Gonaives aufgerüttelte Zivilgesellschaft wendet sich nun an die UNO und hat soeben mit der Gründung der „Stiftung 30. September der Opfer des Staatsstreichs“ ein Zeichen für die internationale Mobilisierung gesetzt. Schließlich sind die US-Truppen unter dem Mandat der UNO in Haiti einmarschiert.

dt. Birgit Althaler

* Kommission für Gerechtigkeit und Frieden der Diözese Gonaives. Gilles Danroc ist gemeinsam mit Martin Luc Bonnardot Autor von „La chute de la Maison Duvalier“, Paris (Karthala) 1989.

Fußnoten: 1 Vgl. Gilles Danroc und Daniel Roussière, „La répression au quotidien en Haiti (1991-1994)“, Paris (Karthala) 1993. 2 Bewaffnete Hilfspolizei, die mehr oder weniger den „Tontons macoutes“ der Duvaliers entspricht. 3 „La répression au quotidien en Haiti (1991- 1994)“, a. a. O. S. 100. Die Kommission führt weitere acht Massaker auf: Lamentin 54, in den Vororten von Port-aux-Prince (30. September 1991); Gonaives (2. Oktober 1991); Cerca la Source (11. November 1992), Borgne (Oktober 1993 und Mai 1994); Carrefour Vincent (2./3. Februar 1992); Cité Soleil, Port-au-Prince (27. Dezember 1993); Le Prêtre, im Bezirk von Chantal (Februar 1994); Bassin-Caiman (April/Mai 1994). 4 Rodolfo Mattarollo, Stellvertretender Leiter der Internationalen Zivilmission in Haiti (MICIVIH), „Transition démocratique et renforcement institutionnel, en particulier en Haiti“, Vortrag vor dem Kongreß „Post conflict Justice issues restoring Order and Justice“, Siracusa, 17.-21. September 1997. 5 Der Bericht „Si m pa rele“ (“Wenn ich nicht schreie“) wurde am 6. Februar 1995 Präsident Aristide übergeben. Mehrere Exemplare des Berichtes wurden schließlich in Umlauf gesetzt. Er wurde an jede Anklagebehörde der Republik übermittelt, und der Justizminister wäre verpflichtet gewesen, gerichtliche Schritte einzuleiten. Doch nichts dergleichen geschah. Die Zeitschrift Haiti Information libre (9, rue O, Port-au- Prince, oder 24, rue Crémieux, 75012 Paris) hat, in ihren Ausgaben 99 (1996) und 100 (1997), Auszüge aus dem Bericht und sämtliche Empfehlungen publiziert. 6 Antoine Izméry, ein dem Präsidenten Jean-Bertrand Aristide nahestehender Geschäftsmann (ermordet am 11. September 1993); Guy Malary, Justizminister (14. Oktober 1993); Claude Museau (8. Januar 1992). Pater Jean-Marie Vincent, der Aristide ebenfalls nahestand, wurde am 28. August 1994 ermordet. 7 „Droits de l'homme et réhabilitation des victimes (1997)“, Mission Civile Internationale en Haiti OEA/ ONU, Haiti. 8 Vgl. Bernard Cassen, „Aristide wäscht seine Hände in Unschuld“, und Christophe Wargny, „In Jérémie steht die Zeit still“, Le Monde diplomatique, Oktober 1997.

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von DANIEL ROUSSIÈRE und GILLES DANROC