15.05.1998

Der Euro kommt, der Bürger geht

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Der Euro kommt, der Bürger geht

MIT ihrem offiziellen Beschluß, im Januar 1999 in elf Ländern den Euro einzuführen, hat die Europäische Union ihre ultraliberale Grundhaltung noch einmal unterstrichen. Dieser Ultraliberalismus kennzeichnete bereits in der Vergangenheit die meisten politischen Maßnahmen, auch das EU-Recht steht ganz im Zeichen des Wettbewerbsprinzips. Der große Verlierer ist die Demokratie: Mit der Übertragung der Währungshoheit auf die Europäische Zentralbank – eine Instanz, die niemandem rechenschaftspflichtig ist– findet die Macht der beiden anderen Institutionen – Europäische Kommission und Luxemburger Gerichtshof –, deren Mitglieder ebenfalls nicht gewählt werden, eine Ergänzung. Die Prärogative der aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Regierungen wirkt nur noch wie ein Überbleibsel. Wenn aber der Aufbau der Europäischen Gemeinschaft in den Augen der Bürger seine Legitimität nicht verlieren soll, darf er seinen Antrieb nicht länger aus rein wirtschaftlichen Motiven beziehen.

 ■ Von LAURENT CARROUÉ *

Seit dem Maastrichter Vertrag bestimmt der Gewaltmarsch zum Euro die gesamte Politik der 15 Mitgliedstaaten.1 Stichtag ist der 1. Januar 1999, an dem die neue Währung in Kraft treten und die mit ihrer Verwaltung betraute Institution, die Europäische Zentralbank, ihre Tätigkeit aufnehmen wird. Auf ihrem Treffen vom 1. bis 3. Mai haben die Wirtschafts- und Finanzminister und die Mitglieder des Europäischen Rates Entscheidungen gefällt, die unumkehrbare Tatsachen schaffen sollen, um der wachsenden, ja bedrohlichen Euroskepsis einen Riegel vorzuschieben. Dieses Eilverfahren wird notwendig, weil es um vier Zielsetzungen von weitreichender Bedeutung geht:

– die Schaffung eines Währungsinstruments, das die freie Zirkulation des Kapitals unter Wahrung seines Wertes und seiner finanziellen Rentabilität ermöglicht und beschleunigt;

– das offensive Auftreten Europas in jenem gnadenlosen Wirtschafts- und Finanzkrieg, den sich die multinationalen Gesellschaften auf regionaler Ebene liefern. Kennzeichnend für den ultraliberalen Geist des Ganzen ist der Entwurf zum Multilateralen Abkommen über Investitionen (MAI), dessen Unterzeichnung die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) keineswegs verweigert hat2 ;

– die vollständige Neuordnung der Sozial- und Produktionsstrukturen Europas nach dem angelsächsischen „Modell“: optimale Kapitalrendite, Senkung der Arbeitseinkommen, Deregulierung, Flexibilität, Zunahme von ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen, Privatisierungen, Pensionsfonds und so weiter. Christian de Boissieu, Professor an der Universität Paris-I, verkündet freudig, „daß sich mit dem Euro die Veränderungen in Frankreich beschleunigen werden“, da „der Euro uns in das Jahr eins eines Kapitalismus versetzt, der endlich diesen Namen verdient“3 .

– Schließlich kommt die Eurozone auch einem geopolitischen Vorhaben Deutschlands entgegen, nämlich der Stärkung und geographischen Erweiterung der D-Mark-Zone. Rolf H. Hasse, Leiter des wirtschaftspolitischen Instituts der Bundeswehrhochschule in Hamburg, erklärt dazu ganz unverblümt: „Das D- Mark-Monopol und die Allmacht der Bundesbank enden mit dem Euro. Aber ihr Einfluß bleibt bestehen. Aus deutscher Sicht werden die D-Mark-Zone und ihre Stabilitätsintentionen gewissermaßen legalisiert und europaweit maßgebend.“ Freimütig weist er darauf hin, daß in den Entscheidungsgremien der EZB einige Bankiers sitzen werden, die gleicher sind als die anderen: „Im Fall von Problemen und Konflikten wird das Gewicht der Wirtschaft und Währung des Landes, aus dem der jeweilige Zentralbankier stammt, bei Verhandlungen gewiß eine unterschwellige Rolle spielen.“ Dies sollte all denen – vornehmlich Franzosen –, die der naiven Vorstellung anhingen, man könne Deutschland durch eine Einheitswährung „binden“, eine Lehre sein ...

So gesehen entbehrt die Forderung nach einem „schwachen Euro“, das heißt einer dem Dollar gegenüber nicht allzu starken europäischen Währung, jeder Grundlage. Die Bundesbank hat souverän entschieden, der Euro solle – wie die D- Mark – eine „starke“ Währung sein. Das hat sie ihren „Partnern“ ohne Umschweife kundgetan, indem sie Ende 1997 ihre Leitzinsen erhöhte, obwohl es kein Inflationsrisiko gab, das diesen Schritt gerechtfertigt hätte. Bezeichnenderweise bestand Helmut Kohl außerdem darauf, daß die EZB ihren Sitz in Frankfurt nimmt, in direkter Nachbarschaft zur Bundesbank.

Aus diesen Absichten erklärt sich, warum für die Aufnahme in die Eurozone rein monetaristische Kriterien festgesetzt worden sind (Haushaltsdefizit, Verschuldung, Inflationsrate, Zinssatz), die trotz bestehender Massenarbeitslosigkeit einzig auf Währungsstabilität und Inflationsbekämpfung abzielen. Diese zum Zeitpunkt eines beständigen Wachstums und einer relativ hohen Geldentwertung entwickelten Kriterien4 sind heutzutage, da das Wirtschaftswachstum seit 1991 bei nur 1,5 Prozent jährlich stagniert, der Konjunkturentwicklung besonders in Frankreich und Deutschland hinderlich.

Immer mehr Persönlichkeiten, die eigentlich der Einheitswährung durchaus positiv gegenüberstehen, geben zu, daß die Kriterien mittlerweile zu regelrechten Fallstricken geworden sind. Sie sind nämlich so drakonisch, daß Ende 1997 paradoxerweise nur zwei der elf für den Euro qualifizierten Staaten (Finnland und Luxemburg) die fünf Maastrichter Kriterien vollständig erfüllten. Wenn sie mit der Wirklichkeit konfrontiert werden, sind die Befürworter des Projekts durchaus bereit, gegen ihre eigenen Regeln zu verstoßen.

Mit der Einführung des Euro entsagen die Staaten vollständig und definitiv ihrer Währungshoheit zugunsten einer neuen, supranationalen Institution, der EZB, der das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) ergänzend zur Seite gestellt wird. Ihr vorrangiges Ziel wird, wie erläutert, darin bestehen, die Preisstabilität und die anhaltende Stärke des Euro zu sichern.

Die Auswirkungen sind jedoch viel umfassender: Die Existenz einer Einheitswährung hat notwendigerweise eine Harmonisierung der Finanz-, Haushalts- und Steuerpolitik, ja der gesamten Wirtschaftspolitik zur Folge. Sie wird sich auf direkte und indirekte Steuern, Arbeitseinkommen, Sozialversicherung, Tarif- und Beschäftigungspolitik und auf den Arbeitsmarkt auswirken. Seit dem Treffen des Europäischen Rates im Juni 1997 in Amsterdam ist ein diktatorischer „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ hinzugekommen, der vorsieht, jeden Regelverstoß durch Strafzahlungen zu sanktionieren und jegliche nach anderen Kriterien ausgerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik zu bremsen oder möglichst ganz zu unterbinden. Die EZB ist also mit außergewöhnlichen Befugnissen ausgestattet, die es ihr erlauben, diskret und unbeobachtet die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU- Länder zu steuern.

Diese Machtbefugnisse sind um so gewaltiger, als die nicht gewählte und also niemanden repräsentierende EZB niemandem Rechenschaft schuldet und die Mitglieder ihres Direktoriums acht Jahre lang nicht absetzbar sind. Es besteht zu diesem technokratischen und oligarchischen Areopag kein reales Gegengewicht, auch wenn die französische Regierung entgegen allen Tatachen behauptet, der Euro-Rat – ein informelles Organ aus Vertretern der am Euro beteiligten Länder – werde diese Rolle übernehmen. Die EZB besitzt somit ein Einspruchsrecht, das man als absolutistisch bezeichnen muß, im eigentlichen Wortsinn einer „nicht von der Politik kontrollierten Machtausübung“. Die dadurch herbeigeführte Zäsur zwischen einer völlig entmündigten und marginalisierten Politik einerseits (die in einigen Fällen gar zu einer Art Untergrundaktivität verdammt ist) und der Wirtschafts- und Finanzwelt andererseits könnte tiefer nicht sein.

Unter unseren Augen vollzieht sich also der Aufbau einer höchst gefährlichen, weil schizophrenen Europäischen Union, schizophren hier in der medizinischen Definition als „von der Dissoziation unterschiedlicher psychischer und mentaler Funktionen geprägte Psychose, begleitet von einem Verlust des Realitätsbezugs und einem Rückzug auf sich selbst (Autismus)“. Noch nie wurde beim Aufbau eines nationalen oder regionalen Zusammenschlusses ein derartiger Abbau demokratischer Kontrolle und eine derart weitgehende Übertragung von Hoheitsrechten vorgenommen – ausgenommen vielleicht in Kriegs- und Besatzungszeiten. Hinter dem Rücken der Bürger entsteht ein regelrechter Ausnahmezustand mit einer von Fall zu Fall begeistert, resigniert oder verschämt gewährten Deckung durch Regierende, die bald nicht mehr viel zu regieren haben werden.

Zwar wird uns von offizieller Seite das Euro-“Wunder“ als Erfolgsstory präsentiert, doch es erinnert eher an Vogelfängerei. Mit den Mitteln der Autosuggestion versucht man, eine simple, aber wesentliche Wahrheit zu verschleiern: Der Euro hat bereits große Kosten verursacht, wird wenig einbringen und wird für eine beträchtliche Anzahl Bürger verheerende Folgen zeitigen – vor allem Arbeitslosigkeit. Und zwar aus vier hauptsächlichen Gründen: Zunächst geht es um die einfachen technischen Kosten. Die Europäische Kommission betont zwar die „Vorteile“ (Wegfall der Transaktionskosten, Stabilisierung der Wechselkurse). Diese sind jedoch sehr begrenzt im Vergleich zu den direkten und indirekten Nachfolgekosten.

Angleichung nach unten

NACH Angaben der Europäischen Bankenvereinigung werden sich allein die Kosten für die Anpassung des Bankensystems auf einen Betrag zwischen 17 und 21 Milliarden Mark belaufen. Eine niedrige Summe im Vergleich zu dem, was danach kommen wird.

Es scheint, als werde die Einheitswährung einen hohen Preis haben. Die restriktive Geld- und Haushaltspolitik5 bremst das ohnehin schon schwache Wachstum. „Mehr denn je ist sparen angesagt“6 , warnt man uns. Hinzu kommt eine beispiellose Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den einzelnen Unternehmen und den verschiedenen Finanzplätzen. Hiervon zeugen bereits jetzt der Führungskampf zwischen der Londoner City und der Achse Frankfurt-Zürich-Paris oder auch die Welle von öffentlichen Aktienkaufangeboten im Banken- und Versicherungssektor (so übernahm etwa die deutsche Allianz die französische AGF). Ein Deflationsmechanismus (kumulatives Sinken von Preisen, Produktion und Beschäftigung) droht die Binnennachfrage versiegen zu lassen und eine ernste Rezession auszulösen. Die OECD hat soeben errechnet, daß allein die voraussichtliche zehnprozentige Kursverschiebung des Euro gegenüber Yen und Dollar in den Jahren 2000 bis 2002 zu einem Wachstumsverlust um 0,8 bis 1 Prozent jährlich führen wird. Die Konvergenz der Zinssätze wird außerdem die Kreditkosten dort in die Höhe treiben, wo sie noch niedrig sind: im Jahre 1999 auf 4,6 Prozent für 3-Monats- Kredite und auf 6,3 Prozent für langfristige Kredite.

Zudem werden die Soziallasten für die ohnehin angeschlagene europäische Sozialstruktur nur schwer zu verkraften sein: 17,5 Prozent Arbeitslose (eine offizielle, die Wirklichkeit beschönigende Zahl) und mehr als 50 Millionen Arme. Die Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand gehen einher mit einem Wirtschaftskrieg unter den Unternehmen, die notgedrungen auf eine drastische Senkung der Produktionskosten setzen. Folgen dieses Zusammenspiels sind rigoroser Stellenabbau, niedrigere Reallöhne, eine Ausdünnung des sozialen Netzes und die Förderung einer hohen Mobilität der Arbeitskräfte, um die Spannungen zwischen den verschiedenen geographischen Zonen zu regulieren.

Auch wenn die regional entstehenden Kosten des Euro weniger häufig erwähnt werden, könnten sie sich als stärkstes Desintegrationsinstrument erweisen. In offiziellen Verlautbarungen heißt es, die europäischen Länder und Regionen hätten sich in ihren sozioökonomischen und demographischen Strukturen im Verlauf der vergangenen zehn Jahre aufeinander zu bewegt. Das ist eine bewußte Irreführung. Der gewaltsam erzeugten Konvergenz der staatlichen Geldpolitiken nach Maastrichter Kriterien fehlt jeder strukturelle Inhalt. Das liegt an der unzureichenden Entwicklung der wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen des Übergangs zum Euro und am rückschrittlichen Charakter der Angleichung nach unten in Form von zunehmender Arbeitslosigkeit und sinkendem Lebensstandard. Eine echte Konvergenz der Produktionssysteme – Mehrwert, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung, Ausbildung, Qualifikation, Forschung und Entwicklung, Innovation etc. – kann nur auf zweierlei Weise erreicht werden: Entweder werden die peripheren, also vornehmlich die mediterranen Zonen Schritt für Schritt, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ausgangslage, den deutschen Normen angepaßt; oder ihre Integration geschieht als Zwangsanpassung – das spanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf ist auf diese Weise im Zeitraum 1975 bis 1995 von 79 auf 76 Prozent des EU-Durchschnitts gesunken.

Die europäischen Regionen fügen sich auf immer unterschiedlichere Weise in die internationale Arbeitsteilung ein, aufgrund des Entstehens städtischer Ballungsräume, der Schwierigkeiten bei der Rekonversion traditioneller Industrieregionen, der wachsenden Nachteile der peripheren Regionen und der unterschiedlichen Erwartungen potentieller Investoren. Die Einführung des Euro wird die sozialen und territorialen Spaltungen vertiefen, sowohl zwischen den verschiedenen Regionen (Mezzogiorne/Norditalien, Flandern/ Wallonien, spanisches Kernland und Randzonen, neue und alte deutsche Bundesländer) als auch auf subregionaler und lokaler Ebene (in Frankreich und Großbritannien). Dabei verfügen weder die Staaten noch die EU selbst über einen Haushaltsspielraum für einen internen Finanzausgleich, um die sich abzeichnenden Kollisionen auffangen und dämpfen zu können. Hinzu kommt die Osterweiterung, die just seit März in das Stadium aktiver Verhandlungen getreten ist.

So schwerwiegende Dinge stehen auf dem Spiel, daß es eine Frage der demokratischen Sorgfaltspflicht gewesen wäre, gründliche Debatten innerhalb der 15 EU- Länder und eine direkte Befragung aller Bürger der EU zu initiieren. Der wachsenden Skepsis, ja sogar Feindseligkeit der Öffentlichkeit vor allem in Nordeuropa gegenüber dem Euro hatten Kommission und Regierungen bislang nur Verschleierungen oder vollendete Tatsachen entgegenzusetzen. Der Euro ist indes eine Zeitbombe, die jetzt nur noch entschärft werden kann, indem man eine Alternativlösung bereitstellt. In diesem Sinne muß der bestimmende Einfluß der liberalen geld- und währungsorientierten Logik abgebaut und ihr Platz im Zentrum des europäischen Projekts von neuen tragenden Ideen eingenommen werden: Förderung von nützlichen und effizienten Berufen und Arbeitsplätzen, nachhaltige und ausgleichende Gebietsentwicklung, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt, Kooperation und Solidarität – selbstverständlich auch im Währungsbereich.

Und vor allem: Transparenz und Demokratie. So betrachtet, sind wir noch weit von unserem Ziel entfernt, auch und gerade weil die Debatten, die Ende April in den Nationalparlamenten (und im Europäischen Parlament) geführt wurden, reine Formsache waren.

dt. Margrethe Schmeer

* Professor an der Universität Paris-VIII, Forscher am CRIA (Universität Paris-I); zusammen mit Valère Oth Verfasser von „L‘Europe médiane“, Paris (Armand Colin) 1997.

Fußnoten: 1 Vgl. Bernard Cassen, „Der französische Weg zum Konvergenzdiktat“, Le Monde diplomatique, Mai 1997. 2 Siehe auch die Artikel über das MAI in Le Monde diplomatique vom Februar und März dieses Jahres. 3 Les Echos, 14. Januar 1998. 4 Im Jahr 1990 hatten elf der fünfzehn Mitgliedsländer eine Inflation von über 3 Prozent. Erst 1997 lag sie in Frankreich bei 1,1 Prozent, dem niedrigsten Satz seit vierzig Jahren. Seit 1992 beträgt sie durchschnittlich weniger als 2 Prozent im Jahr. 5 Deutliche Steuererhöhungen in Frankreich, ebenso wie in Deutschland und Italien, wo zudem auf eine massive Privatisierung der staatlichen und öffentlichen Unternehmen gesetzt wird; deutliche Kürzungen der öffentlichen Haushaltsmittel in Italien, Dänemark, Irland. 6 La Tribune, 16. Dezember 1997.

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Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von LAURENT CARROUÉ