15.05.1998

IM ELSASS BIETET DIE EXTREME RECHTE EINEN ERSATZ FÜR DIE VERLORENE REGIONALE IDENTITÄT

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IM ELSASS BIETET DIE EXTREME RECHTE EINEN ERSATZ FÜR DIE VERLORENE REGIONALE IDENTITÄT

Wer sich fremd fühlt, sucht sich einen Freund

 ■ Von ALAIN BIHR *

SEIT seinem Erscheinen auf der politischen Bühne hat der Front National im Elsaß Wahlergebnisse erzielt, die weit über dem Landesdurchschnitt liegen. 1995 bekam Jean-Marie Le Pen im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 25,4 Prozent der abgegebenen Stimmen (der Landesdurchschnitt lag bei 15,1 Prozent). Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Juni 1997 erhielten die Kandidaten des FN 21 Prozent der Stimmen (gegenüber 14,9 Prozent in ganz Frankreich). Bei den jüngsten Regionalwahlen schließlich konnten die Listen des FN 20,6 Prozent auf sich vereinen (landesweit 15,2 Prozent). Damit stellten sie dreizehn Regionalräte – trotz der Konkurrenz der regionalen Splitterpartei „Alsace d'abord“, die den FN 6,2 Prozent der Stimmen und drei Sitze kostete. Das Elsaß, in dessen Regionalparlament mehr als ein Drittel der Regionalräte dem FN angehören, hat mit der Region Provence-Alpes-Côtes d'Azur gleichgezogen.

Bislang erwiesen sich alle Versuche, diese Besonderheit zu erklären, als unzulänglich. Außer im Falle von Mülhausen paßt das Ergebnis zu keiner der gängigen Interpretationen des Phänomens, die in der Regel auf das Zusammenwirken der vier Kategorien Urbanisierung, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Immigration verweisen. Die besten Ergebnisse (jeweils über 30 Prozent der abgegebenen Stimmen) erzielt der Front National nämlich gerade in den ländlichen Gebieten im Norden und Nordwesten des Landes. Zudem steht das Elsaß in puncto Lebensstandard an der Spitze der französischen Regionen, und die Arbeitslosenrate lag während der letzten Jahre vier bis fünf Prozentpunkte unter dem Landesdurchschnitt. Auch wenn brennende Autos in gewissen Vororten Straßburgs das Interesse der Medien weckten, ist die allgemeine Unsicherheit nicht größer als anderswo, zumindest wenn man die Zahl der Klagen und Strafanträge, bei denen es zu Gerichtsverfahren kommt, ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung setzt.1 Bei der Volkszählung von 1990 lag der ausländische Bevölkerungsanteil im Elsaß mit 7,9 Prozent zwar höher als in Frankreich allgemein (6,4 Prozent). Doch – und das ist ein weiteres Paradox – abgesehen von den Vororten von Mülhausen und Straßburg hat der FN seine besten Ergebnisse in den Wahlbezirken erzielt, in denen diese Bevölkerungsgruppen am schwächsten vertreten sind.

Da die üblichen Erklärungsmuster offensichtlich versagen, hat man sich in einigen Wahlanalysen gefragt, ob die Gründe für die hohen Stimmenanteile der extremen Rechten nicht gerade in der Besonderheit der Region liegen. Eine ebenso heftige wie konfuse Debatte über die „elsässische Identität“2 war die Folge.

So führten die einen die Entscheidung der Wähler zugunsten des FN auf den unverändert ländlich-konservativ geprägten kulturellen Hintergrund zurück (die Vorliebe für Ordnung, Sauberkeit, Wohlstand und das Unter-sich-Bleiben), die anderen sprachen von einer Wiederkehr der nicht bewältigten Geschichte (Ambivalenz der elsässischen Bevölkerung gegenüber dem Naziregime). Eine weitere Erklärung diagnostizierte ein Wiederaufleben elsässischer Autonomiebestrebungen, das einerseits aus „nostalgischer Vergangenheitsverklärung“ und andererseits aus dem Wunsch nach einer „Abkoppelung von Frankreich“ gespeist sei – in der Hoffnung, sich noch stärker an die bundesdeutsche Wirtschaftsentwicklung anzuschließen, von der das Elsaß ohnehin weitgehend abhängig ist.3

Auch ohne genauere Prüfung dieser Ansätze läßt sich feststellen, daß eine Frage dabei unbeantwortet bleibt: Warum sind diese Elemente erst seit Mitte der achtziger Jahre politisch wirksam geworden, und warum hat sich diese Wirkung, die so spät und so plötzlich einsetzte, seither unaufhörlich verstärkt?

Tatsächlich weist das Elsaß keine positive, starke und stolze Identität auf, die eine Protestwahl gegen Frankreich begründen könnte, es leidet eher unter einer „negativen Identität“. Gemeint ist weniger eine Krise dieser Identität, sondern daß sie geprägt ist durch Selbstverlust und niedriges Selbstwertgefühl. Man wird also versuchen müssen, die Wählerentscheidung für eine nationalistische und fremdenfeindliche Partei vor diesem Hintergrund zu verstehen.

Diese „negative Identität“ hat ihren Grund vor allem im Substanzverlust der regionalen Kultur. Denn was dem Nichtelsässer im Elsaß als Indiz einer lebendigen und vielfältigen kulturellen Identität erscheint (der Dialekt, die schmucken Dörfer an der „Weinstraße“, die Küche, die Folklore), wird immer mehr zur leeren Hülle. Alle Untersuchungen zeigen, daß seit rund dreißig Jahren der als Herzstück der regionalen Identität erlebte Dialekt immer weniger gesprochen wird. Dies liegt nicht zuletzt an der längeren Schulzeit sowie an der Hegemonie der französischen Sprache im öffentlichen Raum. Gleichzeitig haben sich, wie anderswo auch, die traditionellen familiären Strukturen gelockert, die Religionsausübung ist der allgemeinen Säkularisierung zum Opfer gefallen. Bestand hat, mehr schlecht als recht, nur noch das Vereins- und Verbandsleben. Kurz, der elsässische Partikularismus wird vor allem in Form einer Nostalgie gelebt, die um so mehr zur Idealisierung der Vergangenheit neigt, als ihre Vertreter sich unfähig zeigen, die Gegenwart zu meistern und die Zukunft zu gestalten.

Hinzu kommt das Fehlen eines nationalen Zugehörigkeitsgefühls. Aus geopolitischen wie historischen Gründen ist das Elsaß gleichermaßen Verfechter wie Opfer zweier rivalisierender Prinzipien nationaler Legitimität gewesen. So kommt es, daß sich die Elsässer halb als Franzosen, halb als Deutsche sehen – oder auch: weder als Franzosen noch als Deutsche. Eine Selbstwahrnehmung, die so instabil wie ambivalent ist und sich von daher als besonders empfänglich erweist für die Krise, die der Nationalstaat in Frankreich (wie anderswo in Europa) derzeit durchmacht. Das Elsaß, im nationalen Rahmen eine Randregion, rückte im Lauf der letzten drei Jahrzehnte zunehmend ins Zentrum der europäischen Arena; es wurde stärker in den rheinischen Wirtschaftsraum integriert und war optimal plaziert, um die deutsche Hegemonie in Europa mitzuerleben – ihre Vorteile wie ihre Fehlentwicklungen. Denn diese Integration bringt der Region zwar ein Gutteil ihres Wohlstands ein, ist aber auch Ursache ihrer Instabilität und Schwäche. Das äußert sich beispielsweise darin, daß 60000 Elsässer täglich die deutsche oder schweizerische Grenze passieren – eine Art von Immigrantenstrom, der im Laufe der Jahre ständig zugenommen hat.

Die Integration zeigt sich auch darin, daß ein Fünftel der Baugrundstücke oder Wohnhäuser entlang der Grenze von Deutschen oder Schweizern gekauft worden sind, ebenso in der Übernahme elsässischer Unternehmen durch deutsches Kapital. Zwar steht das Elsaß besser da als die meisten französischen Regionen, doch im Vergleich mit seinen deutschen und erst recht mit seinen Schweizer Nachbarn macht es eine erbärmliche Figur.

Zudem war diese Entwicklung des Elsaß zur Satellitenregion im rheinischen Raum begleitet von abnehmendem Engagement des französischen Staates. Unter dem Vorwand der Dezentralisierung hat man das Elsaß mit dem deutschen Riesen alleingelassen – der darum leicht als Ungeheuer erscheinen kann. Auf diese Weise ist auch alter Groll gegen das Mutterland reaktiviert worden, das sich stiefmütterlich zu verhalten scheint: Man fühlt sich den übermächtigen Nachbarn hilflos ausgeliefert. So hat sich der traditionelle elsässische Nationalkomplex verstärkt, in dem sich fehlende nationale Identität mit einem starken Verlangen nach nationaler Zugehörigkeit mischen. Trotz und Ressentiment gegenüber dem Mutterland sind begleitet von ängstlichen Hilferufen, und man schaut ebenso bewundernd wie besorgt auf den deutschen Vetter.

Unter diesen Bedingungen muß die nationalistische Propaganda des Front National auf offene Ohren stoßen. Tatsächlich sind es drei Themen, die dabei verarbeitet werden: die Bedrohung, die jeder Ausländer angeblich für die nationale Integrität und Identität darstellt; die Behauptung eines gesunden „Vorrangs für das Nationale“, folglich der Ruf nach einem starken Staat, der als Festung gegen die Bedrohungen von außen (und innen) dient; und schließlich der legitime Stolz, der nationalen Gemeinschaft anzugehören. Neben der Angst, im Stich gelassen zu werden, geben die Elsässer mit ihren Stimmen für den FN auch der Hoffnung Ausdruck, daß nicht nur die regionale, sondern vor allem die nationale Politik ihnen in der gegenwärtigen Phase der europäischen Integration mehr Schutz bieten wird.4 Anders gesagt: die Stimmabgabe für den FN ist nicht Ausdruck irgendwelcher Autonomiebestrebungen und auch keine Beschwerde über „zuviel Staat“, sondern das Gegenteil: Man klagt über „zuwenig Staat“, man will einen Staat, der direkter und planvoller eingreift.

Damit erscheint das elsässische Wahlergebnis zugunsten des FN nicht mehr so außergewöhnlich. Wie anderswo, zum Beispiel in der Region Provence-Alpes- Côtes d'Azur, erhebt auch diese Le-Pen- Wahlregion einen „Anspruch an Frankreich“5 . Ein ambivalenter und komplexer Anspruch allerdings, dem es noch an konkretem Gehalt fehlt, der jedoch schon jetzt Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen den nationalistischen Kräften und ihren Gegnern geworden ist.

Man wird auf diesen Anspruch bald eingehen müssen, sonst wird er sich in nationalistischer und fremdenfeindlicher Richtung weiterentwickeln und am Ende den sozialen Zusammenhalt allein durch die kalte, haßerfüllte Ablehnung des anderen definieren.

dt. Sigrid Vagt

* Verfasser von „L‘Ombre de l‘extrême droite. Les Français dans le miroir du Front national“, Paris (Les Éditions de l‘Atelier) 1998.

Fußnoten: 1 8,6 Prozent im Elsaß gegenüber 8,9 Prozent im Landesdurchschnitt. „Annuaire des statistiques de la justice“, hg. v. Justizministerium, Paris (La Documentation française) 1997, S. 249 und 251. 2 Hauptkontrahenten in dieser Debatte waren die Redaktion der Zeitschrift Saisons d'Alsace – die von Bernard Remaux in Straßburg herausgegeben wird und eine Sondernummer veröffentlicht hat mit dem Titel „Réinventer l'Alsace. Face aux dérives extrémistes et au repli identitaire“, Nr. 129, Herbst 1995 – und den Vertretern der Bewegung für elsässische Kultur, die mit einem Manifest „Identité et liberté“ darauf reagiert haben, erschienen in Land un sproch, Nr. 118, Straßburg, Frühjahr 1996. 3 Vgl. Bernard Remaux, „Un néo-autonomisme frontalier alsacien?“, Le Monde, 29. April 1995, nachgedruckt in „Réinventer l'Alsace“, a. a. O. 4 Bei der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht hat das Elsaß mehrheitlich mit Ja gestimmt, mit 68,6 Prozent am Niederrhein und 61,4 Prozent am Oberrhein. 5 Vgl. Jean Viard, „Une demande locale de France“, in „L'Appel de Strasbourg“ (hg. von Bernard Remaux und Philippe Breton). Straßburg (La Nuée bleue) 1997.

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von ALAIN BIHR