15.05.1998

Eine Hochzeit und ein Todesfall

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Eine Hochzeit und ein Todesfall

BEIM 51. Filmfestival, das vom 13. bis 24. Mai in Cannes stattfindet, wird das französische Kino eine Bilanz des Jahres 1997 ziehen. Die vom französischen Centre national de cinématographie (CNC) ermittelten Zahlen – mehr Besucher, mehr Investitionen, mehr Erstlingsfilme – bieten keinen Anlaß zu Trauer bei den Festlichkeiten. Dennoch stellt sich die Frage, ob auch diesmal wieder so originäre Schöpfungen zu entdecken sein werden wie „Western“ oder „Eine Liebe in Marseille“. Denn dies ist eine Zeit, da das Filmschaffen auch in Europa immer stärker in Abhängigkeit vom Marketing gerät.

 ■ Von CARLOS PARDO *

Unserem Freund Anatole Dauman,dem unabhängigen Produzentenund unerbittlichen Gegnerdes Hollywood-Imperialismusund seiner französischen Anhänger,gestorben im April 1998

In seiner Autobiographie1 erwähnt der Regisseur John Huston neben vielen anderen auch den eigenartigen Produzenten David Selznick und dessen Arbeitsmethoden. Bevor 1946 King Vidors Film „Duell in der Sonne“ herauskam, verschaffte sich das „Reklamegenie“ Selznick die Namen aller Barkeeper in den Vereinigten Staaten und schickte ihnen eine Postkarte, in der – handschriftlich – der Film und die Sinnlichkeit der Hauptdarstellerin Jennifer Jones gepriesen wurden. Unterschrift: Joe. Daraufhin, schreibt Huston, versuchten alle Barkeeper mit Hilfe einiger ihrer Kunden, von denen jeder zwei, drei Joes kannte, herauszufinden, von wem diese Karte stammte. Als kurz danach Plakate mit einem Bild von Jennifer Jones in erotischer Aufmachung für den Film warben, hörte man überall in den Bars den Ausruf: „Das ist der Film, von dem Joe erzählt hat!“

Laut Huston orderte Selznick, der an der Qualität des Spielfilms seine Zweifel hatte, schließlich dreimal mehr Kopien als üblich und brachte ihn gleichzeitig in alle großen Kinos des Landes, um möglichst viel Gewinn zu machen, bevor das Publikum seiner überdrüssig wurde. „Duell in der Sonne“ firmierte lange Zeit unter den zehn größten Erfolgen Hollywoods.

Diese Anekdote, die uns heute schmunzeln läßt, stammt vom Ende der vierziger Jahre, einer Zeit des Umbruchs in der Kinogeschichte. Danach wurden die majors, die großen Filmstudios, von Konzernen geschluckt, denen die Welt des Kinos fremd war. Die gleichzeitige Ausgabe Hunderter Kopien eines Films und die Hegemonie der Werbung gehören seither zur Norm.

Selbst in Frankreich, wo man zu Recht stolz darauf ist, daß sich eine lebendige Kinolandschaft erhalten hat, hat sich dieses Modell des Kinogeschäfts mittlerweile durchgesetzt.

Die Inflationsspirale im Filmsektor zwingt dazu, stärker „präsent“ zu sein als die Konkurrenz. Auf einem von Filmereignissen übersättigten Markt wird die Schwelle für die „Sichtbarkeit eines Produkts“, wie die Werber es nennen, immer höher. In Frankreich sind die Werbeausgaben der Verleihfirmen 1997 auf 705 Millionen Franc (etwa 230 Millionen Mark, d. Red.) gestiegen, das ist das Zweieinhalbfache im Verhältnis zu 1992. Und Schätzungen gehen davon aus, daß diese Summe 1998 die 800-Millionen-Grenze überschreiten wird.2

Um einen Film zu verkaufen, ist jedes Mittel recht. Hauptargument: die Verkaufszahlen in den USA. Einen bestimmten Film nicht gesehen zu haben, bedeutet den Ausschluß aus der Gruppe – so schafft man Außenseiter.3 Bei „Titanic“ führte Fox die astronomischen Produktionskosten (200 Millionen Dollar!) als Hauptverkaufsargument an. Der Verleih ist ein Unternehmen der News Corporation von Rupert Murdoch, die über ihre Dutzende Zeitungen, Zeitschriften, Radioprogramme und Fernsehsender auf der ganzen Welt den Film massiv unterstützt hat.

Das Übermaß an Werbung führt zu einer Vermischung von Information und Promotion. Um die Mediensatire „Michael Kael gegen die World News Company“ zu lancieren, strahlte Radio Europe2 fünf Wochen lang jeden Sonntag ein zweistündiges Gespräch zwischen Moustic und Michael Kael aus, den Darstellern des Films und Autoren der auf Canal Plus ausgestrahlten CNN-Parodie. Und die seriöse französische Presse kündigte diese echt falsche Sendung mit denselben redaktionellen Werbeblöcken an wie etwa den Presseklub auf Europe1.

Eine heuchlerische Frage spaltet Frankreichs Medienschaffende: Darf das Fernsehen Werbespots für Filme ausstrahlen oder nicht? Anstandshalber müßte in dieser Diskussion zumindest erwähnt werden, daß es in weiten Teilen der Medienlandschaft von Meldungen wimmelt, die halb redaktionelle Beiträge, halb Werbung sind: Reportagen vom Drehort oder die Präsentation von Schauspielern, die extra gekommen sind, um ihren letzten Film zu promoten – und das natürlich am liebsten im Fernsehen. Die amerikanischen majors haben übrigens auch fertige press-kits aus Werbeclips und Interviews mit den Hauptdarstellern, die in den Fernsehnachrichten und Filmvorschauen ohne die geringste Änderung bedenkenlos wiedergegeben werden.

Der Film ist durch die Plazierung von Gegenständen und Markenartikeln in die Handlung selbst zu einer Art Werbefläche geworden. Diese Methode gibt es, seit multinationale Konzerne die Macht in Hollywood übernommen haben und die Filme als unterstützende Werbeträger für Produkte gebrauchen, die in anderen Branchen des Unternehmens hergestellt werden. Das Nonplusultra in dieser Hinsicht ist die Verquickung von product placement während des Films und tie-in: eine Wechselwerbung zwischen der Kampagne für eine Marke, die im Film mehr oder weniger explizit vorkommt, und der Reklame für die Vermarktung dieses Films. Dank dieser Methode konnte Ray-Ban den Umsatz der Brillenmodelle, die die Helden von „Men in Black“ tragen, verdreifachen. In Frankreich gibt es bereits ein halbes Dutzend Agenturen, die sich auf solche Praktiken spezialisiert haben.

Trotz der Halbierung der Besucherzahlen seit den fünfziger Jahren verfügen die Vereinigten Staaten über mehr Kinosäle denn je – dank der Multiplex-Kinos. Und das Modell dieser Kinos mit den vielen Leinwänden und den unterschiedlichsten Anreizen für ein nach Neuem gierendes Publikum konnten die Betreiber auch leicht exportieren.4

Die großen amerikanischen Konzerne diktieren ihre Regeln in Asien und Europa – mit Ausnahme von Frankreich, wo es dem Staat (noch) gelingt, Kleinunternehmen wie Gaumont, Pathé und UGC zu schützen.5 Den Berichten des CNC ist zu entnehmen, daß Multiplex-Kinos kein neues Publikum anziehen, sondern lediglich für eine größere Treue der Gelegenheitsbesucher sorgen. Sie tragen noch zusätzlich zum Erfolg der amerikanischen oder französischen blockbusters (Kassenrennern) bei. Das Überleben der unabhängigen Betriebe ist in Gefahr.

Immer neue Rekorde

INNERHALB der nächsten zwei Jahre sollen in Frankreich mehr als 60 Multiplex-Kinos gebaut werden. Nach Jérôme Seydoux, dem Chef der Gruppe Chargeurs und von Pathé, dem bedeutendsten der unabhängigen Filmunternehmen, könnten in Frankreich bald 100 bis 120 Multiplex- Kinos stehen.6 Den CNC, der mit 200 Millionen Besuchern rechnet, beunruhigt diese Vorstellung nicht.

Um die vielen Säle zu füllen, ist ein zahlreiches und medienorientiertes Publikum vonnöten. In den USA geschieht es nicht selten, daß ein blockbuster in den ersten zwei Wochen 90 Prozent seiner Umsätze an den Kinokassen einspielt. Der Verleih hat größtes Interesse daran, daß der Film in möglichst kurzer Zeit in möglichst vielen Sälen läuft.

In Frankreich mischen sich Kinobetrieb und Filmverleih, weil der Markt von wenigen großen Unternehmen beherrscht wird; und die Provinzstädte brachten das Geschäft durcheinander, weil sie die Verleiher zwangen, die Zahl der auf den Markt geworfenen Kopien zu erhöhen. Seit 1994 hat sich die Zahl der Filme, die mit über 200 Kopien herauskommen, um 84 Prozent erhöht7 , und die der Filme mit mehr als 500 Kopien verzehnfacht. Die großen Verleiher sind zu der Strategie übergegangen, möglichst viele Säle zu besetzen, während die unabhängigen sich mit den wenigen Nischen im System begnügen müssen.

Diese Logik der Kommerzialisierung läßt die Rekorde purzeln. „Men in Black“ erzielte am „Erstvorführungsstag“, dem 6. August 1997, in Frankreich den Rekord von 552 Kopien und 357622 Besuchern. Am 11. Februar 1998 übertrumpfte „Les Couloirs du temps“ (der Fortsetzung von „Die Besucher“) mit 600 Kopien und 423691 Besuchern diese Zahlen und schlug auch den seit letztem Jahr von „Vergessene Welt“ (der Fortsetzung von „Jurassic Park“) gehaltenen Rekord mit 2655916 Zuschauern in der ersten Woche. „Titanic“ schließlich übertrumpfte alles bisher Dagewesene, auch die 17 Millionen Besucher von „Drei Bruchpiloten in Paris“, die noch 1993, zur Zeit von „Die Besucher“, (14 Millionen), als uneinholbar galten. Doch alle diese Höchstverkäufe, die in den Medien gefeiert werden und damit zu neuen Rekorden herausfordern, können nicht über das kärgliche Angebot hinwegtäuschen, das an den Kinoplakaten abzulesen ist.

Machten amerikanische Filme 1982 nur 33 Prozent ihres Umsatzes im Ausland, kletterte dieser Anteil im Jahr 1997 auf 55 Prozent und dürfte zur Jahrhundertwende 80 Prozent erreichen. Wie das Observatoire de l'Audiovisuel beobachtet hat, werden etwa dreimal soviel amerikanische wie französische Filme mit hohen Kopienzahlen auf den französischen Markt geworfen, wird ein Hollywood- Film durchschnittlich in doppelt so vielen Sälen gezeigt wie ein französischer. Französische unabhängige Filme dagegen laufen oft nur in einer Handvoll Kinos.

Der Marktanteil des französischen Films erreichte 1997 den Tiefststand der letzten Jahre: 34 Prozent. In dieser Zahl sind auch die 7,6 Millionen Besucher des Luc-Besson-Films „Das fünfte Element“ enthalten, eines Streifens, der mit amerikanischen Schauspielern auf englisch gedreht und international vermarktet wurde wie ein Hollywood-Produkt.8

Das heißt aber nicht, daß mit großem Budget produzierte Filme, die, von einer flächendeckenden Werbeoffensive begleitet, mit großer Auflage in die Kinos kommen, in Frankreich eine Erfolgsgarantie darstellten. 1997 wurden einige dieser Filme zum Flop und spielten nicht einmal ihre Herstellungskosten ein, so etwa „Un amour de sorcière“, „Arlette“, „Das Leben ist ein Spiel“, „Marquise“, „Les Surs soleil“, „XXL“, „Le cousin“ usw.

Andererseits fanden so unterschiedliche kleine Filme wie „Eine Liebe in Marseille“, „La vérité si je mens“, „Western“ oder auch „Les Randonneurs“ ein begeistertes Publikum.

Doch anscheinend ist diese rasende Maschine, die alle Kreativität erstickt, nicht mehr aufzuhalten – es sei denn von einem mündigen Publikum, das es eines Tages leid ist, als dumpfe Masse betrachtet zu werden.

dt. Brigitte Große

* Filmemacher und Journalist.

Fußnoten: 1 „John Huston par John Huston“, Paris (Pygmalion) 1982. 2 Le film français, 6. März 1998. 3 Siehe François Brune, „Le bonheur conforme“, Paris (Gallimard) 1985. 4 Siehe Carlos Pardo, „Multiplexes, opération danger“ (zwei Artikel), Cahiers du cinéma, Juni und Juli/ August 1997. 5 Vgl. Anatole Dauman, „Brief an die majors in Hollywood und ihre französischen Gefolgsleute“, Le Monde diplomatique, Dezember 1995. 6 Le Film français, a. a. O. 7 In Frankreich stammen die ersten beiden Multiplex-Kinos aus dem Jahr 1993, und seither eröffnet durchschnittlich eines pro Monat. 8 Was Luc Besson trotzdem den „César für den besten Regisseur“ einbrachte und dem Film das ernstgemeinte Lob, er könne dem französischen Film als „Vorbild“ dafür dienen, wie man „Marktanteile im Ausland erzielt“.

Le Monde diplomatique vom 15.05.1998, von CARLOS PARDO