Im Norden träumt man von Europa
DER Grund für die Intervention: Griechenland darf diese Region des Mittelmeeres nicht dominieren.“ So lautet die Raison, nach der Ankara 1974 auf den Putsch in Zypern reagierte.1 Ausschlaggebend waren strategische Interessen, nicht die Sorge um das Schicksal der türkischen Zyprioten. Denen braucht man das heute nicht mehr klarzumachen. „Bis 1974 hat man uns gebraucht. Mit der türkischen Intervention war unsere Funktion erfüllt“, notierte der türkisch-zypriotische Politiker Özker Özgür vor sechs Monaten in der Zeitschrift Avrupa, deren Name („Europa“) programmatisch ist: Nirgends in Europa gibt es heute so entschiedene – und so verzweifelte – Europäer wie unter den türkischen Zyprioten.
Özgür ist für die Ohnmacht der zypriotischen „Eingeborenen“ gegenüber den neuen Herren ein kompetenter Zeuge. 1994 war er Vizeministerpräsident der „Türkischen Republik Nord-Zypern“ (TRNC). Als Repräsentant der linken Republikanischen Partei (CTP) war er in die Regierung eingetreten, um die wichtigste Forderung der Opposition umzusetzen: die Einwanderung aus der Türkei einzudämmen. Doch bald mußte er erkennen: „Man gab mir eine Trommel, aber die Schlegel behielten die anderen.“
„Die Anderen“ – das sind die Generale in Ankara. Sie haben im Norden Zyperns nicht nur 35000 türkische Soldaten, sie kontrollieren auch Polizei, Miliz und Geheimdienste, die Massenmedien und strategisch wichtige Objekte wie die Wasserwerke. Das letzte Wort in wichtigen zivilen Belangen hat die türkische Botschaft, die mehr Personal beschäftigt als die meisten Ministerien und sich sogar das Recht nimmt, die TRNC-Staatsbürgerschaft an Türken und andere Ausländer zu vergeben.
„Die importieren eine Bevölkerung, die ihnen nützlicher und gefügiger ist als die türkischen Zyprioten“, meint Özgür. Die demographische Invasion aus Anatolien ist das Thema, das die türkischen Zyprioten am meisten erbittert. Alpay Durduran, Chef der Oppositionspartei YKP („Yeni Kibris Partisi“ – Partei Neues Zypern), geht davon aus, daß seit 1974 ca. 40000 Zyprioten ausgewandert sind (vor allem nach England). Demnach wären höchstens 80000 in Zypern geblieben, und da der Zensus vom Februar 1998 knapp 163000 Einwohner ermittelt hat, dürften sich Einheimische und Zuwanderer zahlenmäßig heute die Waage halten.3 In wenigen Jahren, befürchtet Durduran, werden die türkischen Zyprioten nur noch eine Minderheit im eigenen Lande sein.
Realistisch beschrieben ist der Norden Zyperns heute ein türkisches Protektorat – und dies im zweifachen Sinne, insofern die Menschen sich sowohl entmündigt als auch beschützt fühlen. Die Schutzfunktion erkennen auch die türkischen Zyprioten an, die ihre Entmündigung beklagen. Sie macht den „Doppelcharakter“ des Regimes aus, den die meisten griechischen Zyprioten nicht verstehen wollen. Fast alle türkischen Zyprioten haben erlebte oder tradierte Erinnerungen an den Bürgerkrieg von 1963/64, die ein tiefes Bedürfnis nach „existentieller Sicherheit“ begründen.
„Es wird keine Rückkehr nach 1963/64 geben“, verkündet das Plakat, das den Besucher in Nicosia auf der türkischen Seite empfängt. Das Trauma von 1964 ist der Stoff, aus dem Rauf Denktaș seine beispiellose politische Karriere gefertigt hat. Damals organisierte er im Auftrag Ankaras die türkischen Milizen, die den bewaffneten griechischen Gruppen entgegentraten und anschließend die türkischen Enklaven absicherten (siehe Zeittafel). Denktaș konnte sich dabei auf das antagonistische Zusammenspiel mit den Nationalisten der anderen Seite verlassen. Schon vor Ausbruch des Bürgerkrieges schrieb er in einer Analyse: „Wir werden von den Fehlern der Griechen profitieren und (...) anschließend unsere volle Freiheit erringen.“ Als Stratege des Separatismus lehnt er jede Zusammenarbeit mit den griechischen Zyprioten ab, die zur „Zypriotisierung der Türken“ führe, was auf ihre „Auslöschung“ hinauslaufen würde.4
Dieses Konzept ist aufgegangen. Die „Fehler der Griechen“ und die Hilfe Ankaras machten Denktaș zum erfolgreichsten Politiker der zypriotischen Geschichte. Nach 1964 konnte er seine Volksgruppe nach Belieben kontrollieren, 1973 einen neuen Verfassungskompromiß verhindern, und seit 1974 den im Norden erbeuteten Besitz verteilen.
Nur in einem Punkt hat er historisch Unrecht behalten: Die türkischen Zyprioten sind heute – auch ohne Kontakt mit der griechischen Seite – zypriotischer als je zuvor. Ihr Identität wurde durch die Minorisierung im eigenen Lande und durch die Gefahr, von der Türkei geschluckt zu werden, erheblich verstärkt. Diese Identität ist der gemeinsame Nenner der Oppositionskräfte im Norden5 , die auch Grundlage für ein gemeinsames Minimalprogramm ist: 1. bizonale Föderation mit starker Autonomie für einen gleichberechtigten türkisch-zypriotischen Teilstaat; 2 . Entmilitarisierung und Stationierung einer internationalen Schutztruppe inklusive eines türkischen und griechischen Kontingentes; 3 . Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Das stärkste Motiv für die EU-Orientierung ist – neben einer verstärkten Rechtssicherheit durch europäische Gerichte – die ökonomische Misere.6 Auf dem trostlosen Arbeitsmarkt müssen die türkischen Zyprioten heute mit Tagelöhnern aus Anatolien konkurrieren, die ohne Grenzkontrolle einreisen können. „Hier gibt es nur zwei florierende Wirtschaftszweige“, klagt Alpay Durduran: „die Spielcasinos der türkischen Mafia und die Schein-Universitäten, die mit angelsächsischen Phantasienamen die Sprößlinge reicher Türken anlocken.“
Eine politische Lösung über den EU- Beitritt verlangen am entschiedensten die Gewerkschaften und einige Berufsverbände. Das panzypriotische Gewerkschaftsforum, das alle Gewerkschaften des Südens und des Nordens vereinigt, fordert eine künftige Wirtschaftsordnung mit freier Wahl des Arbeitsplatzes in ganz Zypern. Die Gewerkschafter treffen sich – ebenso wie kooperationsbereite Unternehmergruppen – vorwiegend im Ausland, da Denktaș seit Anfang des Jahres den Besuch von türkischen Zyprioten im Süden systematisch behindert.
Vom Nationalismus hat die Mehrheit der türkischen Zyprioten die Nase voll. Das gilt freilich auch für den Aufschwung panhellenischer Gefühle, der im Süden durch die militärische Zusammenarbeit mit Athen ausgelöst wurde. Die Opposition im Norden ist gegen die Stationierung der S-300 und vermißt bei den griechischen Zyprioten die Überlegung, daß immer mehr Soldaten und Waffen für die türkischen Zyprioten mehr Repression und weniger Bewegungsfreiheit bedeuten. Doch am meisten macht der Opposition im Norden die Angst zu schaffen, der Süden könnte am Ende der EU allein beitreten. Eine solche Entwicklung würde den Anschluß des Nordens an die Türkei besiegeln – und damit das Ende einer türkisch-zypriotischen Identität.
Im Norden fürchtet man also nicht nur die Politik der Türkei und der Denktaș- Führung. Mit Sorge sieht man, daß die griechischen Zyprioten fast nur noch über ihren eigenen EU-Beitritt diskutieren. Und man fragt sich, ob die Elite im Süden die Chance wittert, den frustrierten griechischen Zyprioten die Teilung durch den Zuckerguß der „europäischen Perspektive“ zu versüßen. Sie könnte dabei die Sicherheitsbedürfnisse mit dem Argument bedienen, daß ein EU-Territorium vor der Türkei geschützt ist, und die nationalen Gefühle mit dem Hinweis besänftigen, daß auch die Europäische Union eine Art Vereinigung mit Griechenland bedeutet.
Gegen eine solche „Teilung auf Schleichwegen“ hätte die Welt vielleicht gar nicht viel einzuwenden. Aber die großen Verlierer wären die türkischen Zyprioten, wie immer in den letzten fünfzig Jahren.
N. K.