Zypern in der Raketenfalle
DIE Türkei versucht den EU-Beitritt Zyperns mit allen Mitteln zu torpedieren: Sie verhindert, daß türkische Zyprioten sich an einer gesamtzypriotischen Verhandlungsdelegation beteiligen, und droht, wenn die offiziellen Beitrittsgespräche beginnen sollten, den seit 1974 besetzten Norden der Insel zu annektieren. Doch die Hauptgefahr für eine Eskalation liegt in der „S-300-Krise“, die mit der Bestellung russischer Boden-Luft-Raketen durch die Regierung in Nicosia ausgelöst wurde. Ankara hat mehrfach angekündigt, es werde die Raketen vernichten. Nun hat Präsident Klerides die Stationierung bis November aufgeschoben und sucht gemeinsam mit Athen eine Lösung, die eine Lieferung der S-300 überflüssig macht, zumal er die EU-Beitrittsperspektive nicht nachhaltig beeinträchtigen will.
Von unserem Korrespondenten NIELS KADRITZKE
Aus dem Lautsprecher tönt die Stimme des Muezzin. „Heilige Stätte – Hunde fernhalten!“ mahnt das Schild auf englisch und griechisch. Die Omeriye-Moschee steht im griechischen Teil von Nicosia. Religiöse Unterschiede spielen im Zypernkonflikt keine Rolle – die einzige tröstliche Botschaft, die der Inselstaat heute zu bieten hat.
Ersteigt man das Minarett, läßt sich die Teilung am Horizont ablesen. Im Süden boomt eine Skyline von spiegelnden Bankpalästen. Im Norden liegt der beschauliche türkische Teil von Nicosia, dahinter die gezackte Kette des Pendadaktylos-Gebirges. Auf der Flanke des Gebirges prangt, wie von einem gigantischen Brandstock eingesengt, der weiße Halbmond mit dem Stern. Er verkündet, was seit 1974 gilt: Die Türkei ist in Zypern angekommen.
Triumphale Nationalsymbole und ein krasses ökonomisches Nord-Süd-Gefälle dokumentieren einen Status quo, der so natürlich wie unüberwindbar scheint. Aber wenn es nach den Menschen geht, ist die Teilung Zyperns weder historisch „notwendig“ noch irreversibel. Im Süden wie im Norden kann sich eine Mehrheit der Zyprioten auch heute noch eine neue, wenngleich distanziertere Form guter Nachbarschaft vorstellen. Aber die Gespräche über die einzig realistische Lösungsformel, eine bizonale föderative Republik, sind trotz jahrzehntelanger Bemühungen der UN seit August vorigen Jahres blockiert. Ihre Wiederaufnahme knüpft die türkische Seite an die Bedingung, den 1983 im Norden gegründeten Separatstaat international anzuerkennen.
Auf Zypern wurde das griechisch-türkische Zusammenleben durch die britische Kolonialherrschaft bis in die fünfziger Jahre konserviert. Die Konkurrenz der Nationalismen entbrannte erst im Befreiungskampf. Die Folge war, daß die griechische wie die türkischen Elite die bikommunale Republik von 1960 nur als dilatorischen Kompromiß sahen, der ihren Maximalzielen „Enosis“ (Vereinigung mit Griechenland) bzw. „Taksim“ (Teilung) entgegenstand. Das Duell endete 1974 mit der ironischen Pointe, daß die „Enosis“-Fanatiker ihren türkischen Rivalen zur „Taksim“ verhalfen: 1974 putschte die Athener Junta gegen die Republik Zypern und lieferte Ankara den ersehnten Anlaß zur Invasion. Die türkische Armee zerlegte Zypern in zwei „ethnisch gesäuberte“ Regionen und machte den Norden zu ihrem Protektorat, in dem bis heute 35000 Soldaten stehen.
24 Jahre nach der Teilung sehen die griechischen Zyprioten in einem EU-Beitritt die beste Chance, „Europas letzte Mauer“ doch noch abzureißen. Aber auch im Norden, wo die Einheimischen durch die Zuwanderung von anatolischen Siedlern zur Minderheit im eigenen Lande wurden, sehen viele türkische Zyprioten in einer bizonalen Föderation, die der EU angehört, den einzigen Ausweg aus ihrer heutigen Misere (siehe Beitrag unten).
Die EU-Idee wurde jedoch im Süden geboren. Als die Regierung Vassiliou 1990 in Brüssel den Beitrittsantrag stellte, wollte sie damit die Zypern-Frage „europäisieren“, die EU-Länder für eine Lösung mobilisieren. Der zypriotische Antrag wurde 1995 vom EU-Ministerrat angenommen, und man hoffte in Brüssel wie in Nicosia, bis zum Vollzug des Beitritts werde das Zypern-Problem gelöst sein. Heute ist der Optimismus verflogen. Die Beitrittsverhandlungen haben zwar begonnen, aber die entscheidende Frage ist, wann sie abgeschlossen werden. Nach den ökonomischen Kriterien wäre der griechische Teil heute schon beitrittsfähig, doch in Brüssel ist es ein offenes Geheimnis, daß die meisten EU-Partner ein geteiltes Zypern nicht in der EU haben wollen.
Damit droht das best-case-scenario zum worst-case-Alptraum zu werden. Der EU-Antrag hat bislang eine politische Zypern-Lösung nicht gefördert, sondern die türkische Intransingenz noch verstärkt. Rauf Denktaș verweigert die Beteiligung der türkischen Zyprioten an den Beitrittsverhandlungen, und die Türkei droht, den Norden – endgültig und in rechtlicher Form – zu annektieren.
Die Haltung Ankaras reflektiert die Enttäuschung, daß die Türkei nicht selbst zu den EU-Beitrittskandidaten zählt. Insofern hat die Luxemburger Entscheidung, der Türkei eine verbindliche europäische Perspektive zu verwehren, zur Verhärtung der türkischen Position beigetragen. Aber die griechischen Zyprioten haben auch ihre eigene Strategie untergraben, als sie parallel zum EU-Beitrittskurs eine militärische Option entwickelten, die in die jüngste „Raketenkrise“ mündete. Wie immer sich die Anschaffung der russischen S-300 militärisch begründen läßt – politisch hat Nicosia den schweren Fehler gemacht, die Reaktion der Türkei und die Folgen für die EU-Perspektive nicht in Rechnung zu stellen.
Die S-300 als Waffe der „Ablehnungsfront“
ANKARA hat mehrfach erklärt, man werde die Aufstellung der (defensiven) Boden-Luft-Raketen1 auch mit militärischen Mitteln verhindern. Die Drohung ist zwar völkerrechtswidrig, hatte bei den EU-Partnern aber die gewünschte Wirkung. Die tun sich schwer genug mit einem geteilten Zypern, aber auf keinen Fall wollen sie ein hochmilitarisiertes, akutes Spannungsgebiet in die Union importieren.
Auch den USA sind die S-300 ein Dorn im Auge. Das Konkurrenzprodukt zum amerikanischen „Patriot“-System würde durch die Stationierung in Zypern „weltmarktfähig“. Und sein Radarsystem erfordert russische Spezialisten, die Moskau sensible Informationen über den östlichen Mittelmeerraum verschaffen könnten.2 Die Bedenken aus Washington kommen allerdings insofern verspätet, als dort die ursprüngliche Nachfrage der zypriotischen Regierung nach dem US-System „Patriot“ abschlägig beschieden worden war.
Nicosia begründet den Kauf der S-300 mit dem Argument, man müsse die Zivilbevölkerung gegen türkische Luftangriffe schützen, da man keine Luftwaffe besitze. Doch das ist der kleinere Teil der Wahrheit. Die S-300 ist vor allem der Eckstein einer Militärstrategie, die 1993 – noch zu Papandreous Zeiten – im Athener Pentagon erfunden wurde. Die neue „Gemeinsame Verteidigungsdoktrin“ erklärt den Süden Zyperns zum Bestandteil des griechischen „Verteidigungsraums“. Damit erfüllt sie eine doppelte Funktion. Zum einen ist sie eine Beistandsgarantie für die zypriotische Nationalgarde. Die Armee der griechischen Zyprioten ist den türkischen Truppen im Norden, die rasch von der Türkei aus verstärkt werden können, in der Tat kraß unterlegen (siehe Karte). Die Doktrin der „gemeinsamen Verteidigung“ ist ohne griechische Präsenz in der Luft allerdings völlig unverbindlich. Die griechische Luftwaffe braucht mit anderen Worten eine Basis in Zypern. Die wurde im April 1998 bei Paphos fertiggestellt und seitdem stillschweigend in Betrieb genommen.
Diese Basis mit dem programmatischen Namen „Andreas Papandreou“ dient zugleich dem zweiten Ziel der neuen Militärdoktrin. Sie erweitert die operative Reichweite griechischer Flugzeuge ins östliche Mittelmeer, also zur Südküste der Türkei. Sie bedeutet eine „Osterweiterung“ des Territoriums, das Griechenland als Manövrierraum im Fall eines griechisch-türkischen Konflikts – etwa in der Ägäis – nutzen will. Es ist kein Zufall, daß diese Doktrin im griechischen Generalstab ausgebrütet wurde, als Gerasimos Arsenis Verteidigungsminister war, der eine Politik der „Einkreisung der Türkei“ propagierte und von einer griechischen Luftwaffenbasis in Syrien träumte.3
Die Basis in Paphos ist freilich wertlos, wenn sie nicht gegen Luftangriffe „gehärtet“ ist. Hier kommt die S-300 ins Spiel, die im Krisenfall als Abwehrschirm gegen türkische Luftangriffe fungieren soll. Was Ankara stört, ist also nicht die S-300 als solche. Es ist die potentielle Präsenz griechischer Flugzeuge, die von Zypern aus weit nach Anatolien vordringen könnten – etwa bis Ceyhan, wo die Türkei den Ölterminal bauen will, an dem die Pipelines aus dem kaspischen Raum enden.
Mit der Drohung, die Stationierung der S-300 mit militärischen Mitteln zu verhindern, liegt Ankara ganz auf der Linie einer militanten Außenpolitik, die schon die Zypern-Invasion von 1974 diktierte. In Athen und Nicosia hätte man antizipieren müssen, daß das militärische Projekt „Andreas Papandreou“ plus S-300 dem politischen Projekt des zypriotischen EU-Beitritts in die Quere kommt.
Warum wurde das Problem in Nicosia nicht erkannt? Die gesamte politische Klasse sah die „Doktrin der gemeinsamen Verteidigung“ zunächst als vorwiegend symbolische Geste, deren psychologische Wirkung durchaus willkommen war. Zwanzig Jahre Warten auf eine politische Lösung hatten die Menschen für Symbole empfänglich gemacht, die ihre Frustration und ihre Ängste betäuben. Wenn türkische Kampfjets über Nicosia donnerten, mochte die Vorstellung einer effektiven Luftabwehr ihre Ohnmachtsgefühle dämpfen. Doch spätestens im Wahlkampf Anfang 1998 wurde die Raketenbeschaffung von allen Parteien zur Frage des nationalen Überlebens stilisiert. Keine politische Kraft wagte es, den Sinn der S-300 anzuzweifeln. Selbst die altkommunistische AKEL vergaß im Wahlkampf ihre Raketenskepsis und überließ sich nostalgischen Gefühlen für russische Produkte.
Nach seiner Wiederwahl saß Präsident Klerides auf seinem Versprechen fest, die S-300 schnellstmöglich zu installieren. Heute läßt sich für die Raketen nur noch das Gefühl der „nationalen Würde“ beschwören, jedoch kein einziges tragfähiges Argument mehr finden. Militärtechnisch gesehen ist das (ca. vier Milliarden Mark teure) Projekt nicht einmal funktional. Eine griechische Fachzeitschrift kommt zu dem vernichtenden Ergebnis, daß es für die geographischen Gegebenheiten Zyperns völlig ungeeignet ist und von der türkischen Luftwaffe problemlos aufgespürt und ausgeschaltet werden kann.4 Strategisch gesehen ist die S-300 kontraproduktiv, da die Türkei jede Drehung der Rüstungsspirale freudig mitmacht und ihr geographischer Vorteil, die Nähe zu Zypern, mit Rüstungstechnologie nicht zu kompensieren ist.5 Rechtlich gesehen würde die Präsenz der griechischen Luftwaffe den Garantievertrag von 1960 strapazieren, auf den die Regierung Klerides ihre Proteste gegen die türkische Militärpräsenz im Norden gründet. Wirtschaftlich schadet die Raketenkrise, weil sie ausländische Touristen abschreckt, die den griechischen Zyprioten 20 Prozent ihres BIP einbringen.
Damit fehlen der S-300 alle Qualitäten eines Verhandlungschips, den sich Präsident Klerides ursprünglich einmal vorgestellt haben mochte. Und auch innenpolitisch können die Raketen für die Regierung zum Bungerang werden. Hier liegt der gewichtigste Einwand gegen das Rüstungsprojekt: Sein Betreiben wie sein mögliches Scheitern nützt vor allem den populistischen und militaristischen Elementen, die seit Jahren eine politische Lösung des Zypernkonflikts bekämpfen. Die „Ablehnungsfront“, die eine bizonale Föderation als „Verrat am Hellenismus“ bezeichnet, reicht vom orthodoxen Erzbischof Chrysóstomos bis in die Reihen der populistischen, sich „sozialistisch“ nennenden EDEK, die in der Regierung Klerides den Verteidigungsminister stellt.
Für die großhellenischen Fundamentalisten ist das Militärbündnis mit Griechenland keine Verteidigungsdoktrin, sondern die militärische Alternative zur Verhandlungslösung. Der Erzbischof hat sie nach dem gemeinsamen Manöver, das Nationalgarde und griechische Armee im Oktober 1997 gemeinsam im Süden Zyperns abhielten, so beschworen: „Mögen wir das nächste Manöver in den besetzten Gebieten erleben. Vereint und mit dem Beistand Griechenlands können wir unsere versklavten Gebiete befreien.“ Daß kein Politiker in Nicosia den klerikalen Schwadroneur zu attackieren wagt6 , ist bezeichnend für eine populistische Feigheit, der die griechischen Zyprioten fast alle Katastrophen ihrer Geschichte verdanken.
Fragt man zypriotische Politiker unter vier Augen, warum sie die „Ablehnungsfront“ nicht bekämpfen, antworten sie: „Die würden nur noch lauter schreien.“ Daraus spricht eine berechtigte Angst vor der propagandistischen Macht der Kirche, die mit ihrem Fernsehsender „Logos“ die öffentliche Meinung erheblich beeinflussen kann. Die Antwort ist aber auch eine Ausrede für die entscheidende Schwäche der meisten Politiker im Süden. In öffentlichen Äußerungen benutzen sie häufig denselben Jargon wie die „Ablehnungsfront“, haben also keine Sprache, in der sie die Nationalisten attackieren könnten. Deshalb können die Panhellenisten, die im Zweifel vielleicht 20 Prozent der griechischen Zyprioten mobilisieren könnten, die Tonart des politischen Diskurses bestimmen und eine rationale Debatte über S-300 und Verteidigungsdoktrin blockieren.
In diesem ideologischen Klima können sich militärische Argumente verselbständigen und die politischen Ziele überlagern. Das zeigte sich in der peinlichen Episode, die mit dem letzten Gipfel der Europäischen Union zusammenfiel. Am 16. Juni, als in Cardiff auch über die Türkei und Zypern diskutiert wurde, landeten vier griechische Kampfflugzeuge auf der Basis von Paphos. Der „Übungsflug“ erfolgte hinter dem Rücken von Präsident Clerides und Ministerpräsident Simitis. Die Verteidigungsminister hatten ihre Regierungschefs nicht informiert, weil die griechische Luftwaffe strengste Geheimhaltung verordnet hatte, um die Radarüberwachung der Türken auszutricksen.7 Die Übung erfüllte zwar ihren militärischen Zweck, verletzte aber wichtige politische Interessen, indem sie die EU-Partner mit griechischem „Säbelrasseln“ irritierte.
Um diese Partner zu beschwichtigen und einen bewaffneten Konflikt mit der Türkei zu vermeiden, hat die zypriotische Regierung die Lieferung der Raketen zunächst bis November ausgesetzt. Darüber hinaus legte Präsident Clerides dem UN- Generalsekretär erneut seinen Plan zur Entmilitarisierung von ganz Zypern vor. Seine Formulierung, schon ein Fortschritt „bei einem Zeitplan für Maßnahmen in Richtung des Zieles Entmilitarisierung“ würde ausreichen, um die Stationierung der S-300 zu überdenken, signalisiert das verzweifelte Bemühen von Klerides, sich aus der Raketenfalle zu befreien.
Einen zweiten Ausweg hat der griechische Außenminister Pangalos im Auge: Ein Flugverbot über Zypern soll die S-300 entbehrlich machen. Das Athener Pentagon ist gegenüber dieser Idee eher reserviert, würde sie doch das Ende der Luftwaffenbasis Paphos bedeuten und damit das Ende einer Osterweiterung des griechischen Verteidigungsraumes. Mit Sicherheit gibt es im griechischen Generalstab eine Fraktion, die eine vollständige Entmilitarisierung Zyperns als Rückschlag für die Interessen des „Hellenismus“ ansehen würde.8
Die Raketenkrise hat auch einen untergründigen Konflikt zwischen Athen und Nicosia über die Verantwortung für das „Waterloo“ der S-300 ausgelöst. In Athen würde man gern vergessen, daß die russischen Raketen Präsident Klerides von Experten des griechischen Generalstabs nahegebracht wurden und eine Konsequenz der „gemeinsamen Verteidigungsdoktrin“ sind, die ebenfalls auf griechischem Mist gewachsen ist.9 Einig sind sich Griechen und griechische Zyprioten jedoch in der Verbitterung über die „Doppelmoral“ der EU-Partner und der USA, die das „Nachrüsten“ des Südens kritisieren, ohne die Türkei zum Abbau ihres viel massiveren Militärpotentials im Norden zu drängen. Wobei sie darauf hinweisen, daß die von den USA gelieferten Panzer, die der türkischen Armee im Norden ihre Feuerkraft verleihen, nach US-amerikanischem Recht nicht in den besetzten Gebieten stationiert sein dürften.
Solche Klagen sind berechtigt, entheben aber nicht der Entscheidung, was mit den S-300 geschehen soll. Mit einer gesichtswahrenden Lösung kann Nicosia bis November kaum rechnen, weil Ankara die Abrüstungspläne von Klerides beharrlich ablehnt und auch der Idee einer Flugverbotszone eine Absage erteilt hat. Deshalb ist damit zu rechnen, daß die Stationierung nochmals um ein halbes Jahr aufgeschoben wird, was sich mit dem Beginn der konkreten EU-Verhandlungsphase und dem türkischen Wahltermin im April 1999 begründen ließe. Doch eine solche „weiche Linie“ könnte eine Regierungskrise in Nicosia auslösen, wo nicht nur die Opposition, sondern auch die Regierungspartei EDEK gefordert hat, bei einem Raketenverzicht ohne türkische Gegenleistung solle Präsident Klerides zurücktreten und Neuwahlen ausschreiben. Eine Regierungskrise aus Anlaß der S-300 würde eine Atmosphäre erzeugen, von der nur die „Ablehnungsfront“ profitieren könnte. Denn da man den Leuten die Raketen als Garant ihrer Sicherheit und ihrer „nationalen Souveränität“ eingeredet hat, würde der Verzicht ein Gefühl von Unsicherheit und Demütigung auslösen.
Die Türkei zwischen Militär- und Europa-Politik
AUCH Gefühle sind Daten der Realpolitik. Die Menschen im Süden fühlen sich tatsächlich bedroht. Nach Umfragen glauben 72 Prozent, die S-300 würden ihre Sicherheit erhöhen und die Türken davon abschrecken, ganz Zypern zu erobern. Letzteres ist – nüchtern betrachtet – eine höchst irreale Befürchtung: Die Türkei hat ihr strategisches Ziel bereits 1974 erreicht, als sie sich auf Zypern militärisch festsetzte. Sie hat kein rationales Motiv, über eine UN-Friedenstruppe hinweg nach Süden zu marschieren und sich damit jede europäische Perspektive zu verbauen. Doch auf rationale Erwägungen wollen sich die meisten Zyprioten nicht verlassen, sie wollen auch gegen eine „irrational“ agierende Türkei eine Chance haben. Die Raketenkrise entspringt den Ängsten von Menschen, die sich von aller Welt im Stich gelassen fühlen, weil weder EU noch Nato noch OSZE bereit oder fähig waren, die Türkei zu einer föderativen Lösung oder auch nur zu einem militärischen Teilrückzug zu bewegen.
Wie selbst Richard Holbrooke, der „Wundertäter“ von Dayton, erfahren mußte, hat der Generalstab in Ankara derzeit keine Zypern-Lösung im Angebot. Um so vordringlicher wäre es, wenigstens eine heiße Zypernkrise zu vermeiden. Aber die Türkei hat den Abrüstungsvorschlag von Klerides stets abgelehnt und gegenüber dem US-Zypernbeauftragten Thomas Miller auch der Flugverbotszone eine Absage erteilt. Ihr Interesse geht dahin, die Raketenkrise zur weiteren Aufrüstung des Nordens zu nutzen. Um die Lage wenigstens psychologisch zu stabilisieren, könnten UN, EU oder Nato die Türkei allerdings darauf verpflichten, die „grüne Linie“ in Zypern niemals zu überschreiten. Das würde die politische Lösung noch nicht näherbringen, aber die Nervosität der griechischen Zyprioten und ihr Bedürfnis nach Raketen eindämmen.
Eine gerechte Zypern-Lösung hingegen erfordert, das Problem Türkei langfristig und in einem weiteren Rahmen zu sehen. Ankara wird einem Rückzug von der Insel – als Bedingung einer entmilitarisierten bizonalen Föderation – nur zustimmen, wenn sie Aussicht auf etwas hat, was ihr wichtiger ist als die Militärbasis Nord- Zypern. Das setzt voraus, daß EU-Europa den Türken verbindlich – wenn auch unter präzisen Voraussetzungen – eine künftige Mitgliedschaft zusichert.10 Auch in diesem Sinne ist die Lösung des Zypern- Problems eine gesamteuropäische Frage.