Architekten des Sozialliberalismus
Mittlerweile ist offenkundig, daß die Wirtschaft eine schwere Depression durchlebt. Die Rettungsszenarien des IWF können die Wogen nicht mehr glätten, und auch die europäischen Geldmärkte bleiben von den Turbulenzen nicht unberührt. Die Stagnation des Wachstums – auf das gerade die Linke in der Vergangenheit vielfach setzte – gibt einen Vorgeschmack auf schwierigere Zeiten. Kann und soll die Politik neue Wege einschlagen? Auf welche Weise soll und wird sie sich von den überkommenen Denkbarrieren und Ideologemen lösen können? In vielen Ländern gibt es mittlerweile öffentliche und private „think tanks“, die – wie die in Paris ansässige Saint-Simon-Stiftung – eine Vermittlerrolle zwischen Linken und Rechten eingenommen haben. Eine Elite aus Wirtschaft, Verwaltung, Geschichts- und Sozialwissenschaft vernetzt ihr Wissen und ihre Beziehungen und beeinflußt zunehmend politische Entscheidungen, die somit die Aura von „objekten Notwendigkeiten“ erhalten.
Von VINCENT LAURENT *
DIE Saint-Simon-Stiftung hat ihren Sitz im sechsten Pariser Arrondissement: gut hundert Quadratmeter im Erdgeschoß eines stattlichen Gebäudes 91bis, rue du Cherche-Midi. Dieser eingetragene Verein wurde (anders als der Name vermuten läßt) erst im Dezember 1982 in einem der Salons im Hotel Lutétia gegründet – unter anderem von François Furet und Emmanuel Le Roy-Ladurie, Pierre Nora (alle Historiker), Pierre Rosanvallon (Soziologe), Alain Minc (Finanzexperte), Simon Nora (Verwaltungsbeamter) und Roger Fauroux (Generaldirektor von Saint-Gobain). Letzterer berichtete 1986: „Wir wollten erreichen, daß Leute aus dem Bereich der Wirtschaft und der Universität miteinander ins Gespräch kommen. (...) Allerdings haben wir bald erkannt, daß solche Begegnungen nur dann erfolgreich und dauerhaft sein können, wenn man auch konkrete Aktionen plant. Das heißt, wir brauchten eine rechtsfähige Organisationsform sowie einen Fonds. Also haben wir Mitglieder gesucht und eine Art Club ins Leben gerufen. Jeder von uns hat seine Freunde angesprochen: François Furet und Pierre Rosanvallon im Bereich der Universität, Alain Minc und ich im Bereich der Wirtschaft.“1
Der Name der Saint-Simon-Stiftung ist Konzept. Denn der Graf von Saint-Simon (1760-1825), auf den sich die Gründer der Stiftung berufen, war ein utopischer Sozialist, dessen Vermögen von wissenschaftlichen Projekten aufgezehrt wurde; er propagierte ein Zusammengehen aller „Industriellen“ und faßte darunter: Arbeiter, Fabrikanten, Bankiers, Wissenschaftler und Künstler. Die Bewegung der Saint- Simonisten, die sich nach seinem Tod gründete, verband ein avantgardistisches Managerdenken und Unternehmergeist mit der Forderung nach einer gerechteren, humaneren Gesellschaft. An diese Tradition anknüpfend, formulierten die Gründer der Stiftung die Absicht, „die Gleichgültigkeit, das Unverständnis, ja: das Mißtrauen“ zwischen den beiden Welten (Universität und Wirtschaft) zu überwinden, um eine „wechselseitige Befruchtung“ zu befördern und den „Bedürfnissen“ beider Seiten Rechnung zu tragen.
Vor der Eröffnung einer Glasfaserfabrik im Iran hatte sich Roger Fauroux, Generaldirektor des staatlichen Glaskonzerns Saint-Gobain, zwar über die dortigen Ressourcen an fossilen Brennstoffen kundig gemacht, nicht jedoch darüber nachgedacht, daß die Schiiten damals – am Vorabend der Islamischen Revolution – zunehmend an Einfluß gewannen. Er hat aus der Erfahrung gelernt und verficht seither die These, daß die Unternehmer „die Sozialwissenschaften“ benötigen.
Auch die Intellektuellen haben laut Roger Fauroux zur Zeit der Stiftungsgründung den Wunsch verspürt, „ihren Elfenbeinturm zu verlassen, in dem man von der Wirtschaft nicht mehr vernahm als den Widerhall der sozialen Katastrophen“. Die direkte Umsetzung lautete: François Furet und Pierre Rosanvallon nahmen an den Aufsichtsratssitzungen der Saint- Gobain-Niederlassungen teil.
Diese Öffnung gesellschaftlicher Räume ging einher mit einem wachsenden Willen, die ideologischen Lager aufzubrechen. Durch eine ökumenische Haltung sollten innerhalb der Saint-Simon- Stiftung die Gegensätze zwischen Rechten und Linken überwunden werden (allerdings unter Ausschluß der Kommunisten, der radikalen Linken und der Rechtsextremen). Auf diese Weise sollten „bestimmte Personen innerhalb eines ideologischen Spektrums, das von der intelligenten Rechten bis zur intelligenten Linken reicht“, einander nähergebracht werden. Alain Minc erinnert sich: „Die Stiftung wurde zu einer Zeit des ideologischen und soziologischen Kalten Krieges gegründet. Heute redet man miteinander; doch darf man nicht vergessen, woher man kommt. Albert Costa de Beauregard, Wirtschaftsberater der Regierung Barre, und Jean Peyrelevade, stellvertretender Direktor im Kabinett von Mauroy, tauschen erst Ideen aus, seit sie durch die Saint-Simon-Stiftung feststellten, daß ihre Gedanken zu 70 Prozent übereinstimmten.“2
Der Club Jean Moulin, der zur Zeit des Gaullismus Gewerkschafter, hohe Regierungsbeamte und Intellektuelle zusammenbrachte, hatte – zumindest zu Beginn – eine Art Vorbildfunktion. Tatsächlich geht Roger Fauroux davon aus, daß der Club Jean Moulin „sowohl unter den rechten als auch unter den linken Regierungen praktisch alle seine Vorstellungen sanft und beharrlich durchzusetzen vermochte“3 . Die Saint-Simon-Stiftung will also ein intellektuelles Projekt einer Gesellschaftsreform sein, getragen von „Eliten“, die vorgeben, das „Gemeinwohl“ zu verkörpern.
Entsprechend versteht sie sich als ein Mittelding zwischen „dem US-amerikanischen think tank und dem französischen Modell des Philosophen-Clubs“. Pierre Rosanvallon hält derartige think tanks (Ideenfabriken) heutzutage für eine zwingende Notwendigkeit. „Nach der Zeit der Clubs ist die der think tanks gekommen. Nichts ist heute so vordringlich wie die Entwicklung neuer Ideen, Projekte und Beurteilungskriterien.“4
Mit der Bezugnahme auf das US-amerikanische Modell ging auch die Vorstellung einher, die private Finanzierung biete der Forschung größeren Spielraum. Roger Fauroux erklärt dazu: „Wir sind stolz darauf, daß es uns gelungen ist, unsere Kulturmaschine ohne öffentliche Mittel am Laufen zu halten. Unser Grundsatz lautete von Anfang an: Wir wollen vom Staat kein Geld annehmen. Und es ist uns gelungen, beachtliche Summen zu mobilisieren – jährlich gut 2 Millionen Franc.“5
Da die Beiträge der Mitglieder (1997 waren es jährlich 500 Franc) nicht ausreichten, appellierte die Stiftung an juristische Personen oder Großunternehmen, die seit Beginn jeweils 120000 Franc jährlich beisteuern. Zu den Geldgebern zählen u.a. die Caisse des Dépôts, Suez, Publicis, Sema, Crédit Local de France, die Bank Wormser, Saint-Gobain, BSN Gervais- Danone, MK2 Productions, Cap Gemini Sogeti.
Diese Spenden ermöglichen ein monatliches Arbeitsessen sowie die Einrichtung von Arbeitsgruppen, deren Ergebnisse veröffentlicht werden. Das Projekt, eine „hochkarätige Privatuniversität“ zu gründen, wurde eine Weile verfolgt, aber 1993 aufgegeben.
François Furet sah in der zentralistischen Struktur des französischen Hochschulsystems eine Behinderung der Forschung. Als Präsident der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS, staatliche Hochschule für Sozialwissenschaften in Paris) trat er entschieden für die Entwicklung einer Hochschulstruktur ein, die von der „bürokratischen Maschinerie“ der staatlichen Hochschulen unabhängig sein sollte. Aus Anlaß der bevorstehenden Zweihundertjahrfeier der französischen und amerikanischen Revolution hatte Furet in Chicago, wo er seit 1985 an der Universität unterrichtete, von der Olin- Stiftung 470000 Dollar erhalten, um seine Revolutionsforschungen voranzutreiben.6 Seine abfällige Haltung gegenüber der öffentlichen Forschung kam 1986 deutlich zum Ausdruck, als er den Sozialisten und Bildungsminister Michel Rocard aufforderte, „einen Teil des Unterrichtswesens, etwa im universitären Bereich, wo es besonders einleuchtend und unkompliziert ist, in die Verantwortung der Gesellschaft zurückzugeben, indem das Gesetz zur Autonomie der Einrichtungen auf finanzieller, administrativer, intellektueller etc. Ebene ausgeführt wird. (...) Bis zu welchem Punkt kann man die Entstaatlichung vorantreiben?“ fragte Furet. „Sind Sie bereit, mehr Wettbewerb zwischen den Hochschulen zuzulassen und den Begriff des staatlichen Diploms in Frage zu stellen?“7
Bei den monatlichen Arbeitsessen, die im Sitz der Stiftung stattfinden, hält jeweils eines der Mitglieder beziehungsweise ein geladener Gast einen Vortrag; anschließend wird darüber diskutiert. Zu den Referenten gehörten in der Vergangenheit Helmut Schmidt, Raymond Barre, Kardinal Lustiger, Robert Badinter, Jacques Chirac, Edmond Maire, Michel Rocard, Laurent Fabius und Valéry Giscard d'Estaing. Fast alle französischen Ministerpräsidenten haben in dem erlesenen Kreis (von zumeist dreißig bis fünfzig Personen) ihre Politik erläutert. Wer dort hingeht, sucht, so Jacques Julliard, „nach dem Sinn in der Unübersichtlichkeit und ist überzeugt, dort durch den direkten Kontakt mit einflußreichen Persönlichkeiten der Macht ein wenig in die Karten gucken zu können“.
Im Zentrum der Stiftungsaktivitäten stehen jedoch die Arbeitsgruppen zu wirtschaftlichen, sozialen und internationalen Themen. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden als „Beiträge“ (notes) in Buch- oder Heftform herausgegeben, mit Titeln wie „Das Rätsel des Zerfalls des Kommunismus“, „Die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls“, „Der selektive Wohlfahrtsstaat“ und „Gehälter oder Beschäftigung?“. Seit 1991 erscheinen diese Hefte regelmäßig fast jeden Monat (neun bis zehn Ausgaben pro Jahr) in 1000 Exemplaren; sie haben einen Umfang zwischen zehn und hundert Seiten und können abonniert oder einzeln bestellt werden. Das regelmäßige Erscheinen gewährleistet eine Gruppe junger Mitarbeiter (Laurence Engel, Daniel Cohen, Nicolas Dufourcq, Antoine Garapon und Denis Oliviennes), die Pierre Rosanvallon um sich geschart hat. Er selbst verfaßt nicht nur einzelne Beiträge, sondern wählt auch die Themen aus und spricht die potentiellen Autoren an. Die Adressaten der Hefte sind vor allem Politiker, Unternehmenschefs, Manager, hohe Verwaltungsbeamte sowie einige Intellektuelle und zunehmend auch Journalisten, vorzugsweise im Fachgebiet Wirtschaft. Manchmal werden ausgewählte Beiträge auch außerhalb des Stiftungszusammenhangs veröffentlicht, etwa in Zeitschriften wie Nouvel Observateur, Esprit, Débat oder Politique Internationale. Zudem gibt die Stiftung im Verlag Calmann-Lévy eine eigene Buchreihe heraus: „Liberté de l'esprit“.
Gemeinsam für die Modernisierung
DIE Saint-Simon-Stiftung ist nicht aus dem Nichts entstanden. Zu ihrer Gründung wurde ein kleiner Personenkreis mobilisiert, ein Netz von Freunden und Bekannten. Die Stiftung gleicht einer Anzahl konzentrischer Kreise: Von „Mittlern“ werden Einzelpersonen aus verschiedenen Schichten und Bereichen angezogen, die sich dann um einen kompakten zentralen Knotenpunkt gruppieren.
Die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei zwischen 1949 und 1956 bildete ein erstes Verbindungselement. Emmanuel Le Roy-Ladurie und François Furet zum Beispiel waren in die KPF eingetreten und bereiteten sich seinerzeit zusammen mit Denis Richet, Alain Besançon, Annie Kriegel und Jacques Ozouf auf die agrégation (eine Zusatzprüfung zum Staatsexamen) in Geschichte vor. Dieses KPF-Engagement brachte den Sohn eines Landwirtschaftsministers der Vichy-Regierung ebenso wie den Sohn eines Bankiers aus der Pariser Großbourgeoisie dazu, die Schranken ihres ursprünglichen Bezugssystems hinter sich zu lassen; doch der Verlust desselben machte sie nur dogmatischer. Ihr fundamentalistischer Antikommunismus nach 1956 entsprach der Härte der vorherigen „Prüfung“: Er hat seither all ihre intellektuellen, politischen und wissenschaftlichen Positionen geprägt. So ist es kein Zufall, daß François Furet seinen Forschungsschwerpunkt auf die Französische Revolution legte, ein Forschungsgebiet, das bis dahin die marxistische Schule um Albert Soboul besetzte. Andere versuchten, ihren Fehltritt mit reumütigen Autobiographien zu „sühnen“.8 In ihrer Feindseligkeit gegenüber der Kommunistischen Partei näherten sich die Historiker immer mehr den „Antitotalitären“ um Raymond Aron und die Zeitschriften Preuves, Contrepoint und Commentaire an, wo sie nacheinander mitarbeiteten. Dort trafen sie sich mit Spitzenfunktionären des „Plans“9 und mit christlichen Gewerkschaftern, die sich dem dominierenden Einfluß der PC-nahen CGT- Gewerkschaft ausgesetzt sahen.
Nur ein Teil der Gründungsmitglieder hatte sich dem Kampf gegen den Totalitarismus verschrieben. Dem nebulösen „Modernisierungsprojekt“ hingegen hängen sie fast alle an. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich Frankreich für einen gelenkten Kapitalismus entschieden. Die treibenden Kräfte dieser Linie (hohe Staatsbeamte, Wissenschaftler, Unternehmer, Gewerkschafter) waren der Ansicht, das vorherige ökonomische Modell – ein Laisser-faire mit protektionistischen Einsprengseln – stelle eines der größten Hindernisse für die Modernisierung dar. Um Markt und Staatsdirigismus in Einklang zu bringen, prägten sie die Formel der konzertierten Wirtschaft – ein System des permanenten Miteinanders von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaft. Diese Avantgarde – und sie versteht sich tatsächlich so – ist nicht mit einem Verband oder mit einer Partei gleichzusetzen. Sie hat keine klaren Konturen. Aber ihre Mitglieder sind durch ein Netz persönlicher Beziehungen eng miteinander verbunden.
Im Umkreis von Personen wie François Bloch-Lainé und Simon Nora hat sich ein „modernes“ Staatsverständnis durchgesetzt, welches auf einem hartnäckigen Mißtrauen gegenüber dem „Volk“ beruht: „Wir waren die wenigen, die besser wußten als alle anderen, was gut war für unser Land, und das war auch nicht ganz falsch. Wir waren die Schönsten, die Klügsten, die Ehrlichsten und hatten alles Recht auf unserer Seite.“10
Pierre Mendès-France spielte damals eine zentrale Rolle. Er verkörperte zu dieser Zeit die politischen Hoffnungen aller Staatsbeamten, Gewerkschafter und Intellektuellen, die den Einfluß der KPF und ihrer Gewerkschaft CGT eindämmen wollten. Er genoß die Unterstützung der neuen Zeitschriften Express und Nouvel Observateur – jener Zeitschriften, in denen sich Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten und Politiker zusammenfanden, die als „Verfechter der Modernität, aufgeklärte Individuen, Gegner jedweder Rückständigkeit und der Rechtsregierung“ galten. Aus ebenjenem geistigen Umfeld kommen auch die Mitglieder der Saint-Simon-Stiftung.
Einige von ihnen fungierten als Mittler zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. So stellte etwa Roger Fauroux Verbindungen her zwischen der Welt der Industrie und der der hohen Regierungsbeamten, denn er arbeitete sowohl an der staatlichen Verwaltungshochschule ENA11 wie bei der Finanzinspektion. Und Simon Nora spielte als hoher Verwaltungsbeamter eine Rolle; als Mitglied zahlreicher Beratungsgremien stellte er Kontakte zu den Gewerkschaften und gewerkschaftsnahen Intellektuellen her. Er gehörte zu den Mitbegründern des Express und beteiligte sich an der riskanten Gründung des Nouvel Observateur. Nicht zuletzt durch seinen Bruder Pierre pflegt er ferner Beziehungen zum Verlagswesen und zu den Intellektuellen.
Jacques Julliard sitzt am Schnittpunkt von Universität und Gewerkschaften: 1978 bis 1997 war er Studiendirektor an der EHESS, von 1962 bis 1976 Vorstandsmitglied der Lehrergewerkschaft SGEN und von 1973 bis 1978 im Vorstand der CFDT. Gleichermaßen präsent ist er in der Presse (als Leitartikler des Nouvel Observateur und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Esprit) und im Verlagsmilieu (zunächst als literarischer Berater, dann als Herausgeber der Taschenbuchreihe „Poches-politiques“ bei Seuil).
Berücksichtigt man den Zeitpunkt der Gründung und die Zusammensetzung der Saint-Simon-Stiftung, könnte man vermuten, sie habe etwas mit der „großen Furcht“ vor der Machtübernahme der Linken im Jahre 1981 zu tun. Tatsächlich haben jedoch einige ihrer Mitglieder den politischen Wechsel begleitet und sogar strategisch wichtige Positionen im Staatsapparat erhalten. Gleichwohl führte der Sieg der Linken anfangs zu einer Marginalisierung der „Modernisierer“, wie sie sich selbst nannten, und ihrer Konzepte. Daß etwa Michel Rocard, der (aus der PSU kommende) Gegenspieler Mitterrands innerhalb der Sozialisten) bei dem Versuch scheiterte, seine Positionen innerhalb der PS durchzusetzen, führte bei den Modernisierern zu erheblichen Frustrationen. Serge July kommentierte: „Die Intellektuellen haben zwar eine Rolle beim Zusammenbruch der KPF gespielt, doch ansonsten wurden sie geschlagen. Den derzeitigen Führern der Sozialisten ist gemein, daß sie an den vier großen Bewegungen der letzten 25 Jahre nicht beteiligt waren: weder an der Unabhängigkeit Algeriens und der Entkolonialisierung noch an der Reformbewegung der sechziger Jahre oder der Bewegung von 1968, die ich die neuen sozialen Beziehungen nenne; und auch die Antitotalitarismusbewegung ist an ihnen vorbeigegangen. Der Zufall will es, daß die Männer, die jetzt am Ruder sind und de facto an der Spitze der Linken stehen, bei all dem nicht dabei waren. Egal, wie gut Rocard sein mag, letztendlich ist er schlecht, denn er hat verloren.“12
Die Stiftung, die Intellektuellen und die Macht
DIE Modernisierer hatten das Gefühl, um die Früchte ihrer Anstrengungen betrogen worden zu sein – wenn die Intelligenz und die Medien hinter Michel Rocard standen, warum konnte er sich dann in der Sozialistischen Partei nicht durchsetzen? Hinzu kommt jedoch ein weiterer Faktor: die feindselige Haltung einiger Mitglieder – darunter François Furet – gegenüber François Mitterrand, der seinerseits der Stiftung gegenüber äußerst mißtrauisch war. Doch nichts berechtigt zu der Annahme, daß alle Stiftungsmitglieder dasselbe Ziel verfolgten. Hier liefen lediglich zu einem bestimmten Zeitpunkt die verschiedenen Vorhaben von verstreuten Einzelpersonen zusammen, die in der Stiftung ein Mittel sahen, ihre gesellschaftliche Macht zu stärken. So mobilisierte François Furet, ein Gegner der marxistischen Revolutionsgeschichtsschreibung, anläßlich der Vorbereitungen der Zweihundertjahrfeier (die 1982 begannen) Gleichgesinnte in den Medien, der Verwaltung und der Politik, um in diesem Themenbereich das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu entscheiden. Auch andere Experten, die sich bei der Regierung nicht durchsetzen konnten, suchten bei anerkannten Intellektuellen Rückhalt.
Fünfzehn Jahre sind seit der Gründung der Saint-Simon-Stiftung vergangen, und es gibt sie immer noch. Ihre Mitgliederzahl ist sogar von 72 auf 120 gestiegen. Die Themen sind andere geworden; zentrale Persönlichkeiten haben sich zurückgezogen oder ihr Engagement reduziert; dafür sind neue Personen in Erscheinung getreten – mit neuen Erwartungen oder neuen Absichten. Die Stiftung, die noch immer Intellektuelle, hohe Staatsfunktionäre und Industrielle zusammenbringt, möchte weiterhin „ein Ort der Anregungen für neue Projekte sein, die ein besseres Verständnis unserer derzeitigen Gesellschaften ermöglichen“. Ein Raum also, in dem neue Wahrnehmungsweisen der sozialen Welt erarbeitet werden. Hier kristallisieren sich gemeinsame Gesellschaftsvisionen heraus, aus denen eine Reihe Fragestellungen sowie die dadurch implizierten Antworten resultieren, und man kommt zu Schlußfolgerungen, die dann – ohne jemals wissenschaftlich oder gar in der Praxis verifiziert worden zu sein – als „Tatsachen“ gelten, so daß nicht länger darüber diskutiert werden muß.
Es geht also weniger um ein „Einheitsdenken“, bei dem eine Gruppe in konzertierter Aktion ein gemeinsames Interesse verfolgt – angemessener wäre ein galaktisches Bild wie die „Halo-Erscheinung“13 , insofern eine gemeinsame Analyse dadurch entsteht, daß sich die einzelnen im zirkulären Zusammenschluß gegenseitig bekräftigen. Gestärkt wird diese Kohärenz durch die gesellschaftliche Nähe zu Akteuren, die aufgrund ihrer Stellung in die öffentlichen Debatten einzugreifen vermögen. Zudem funktioniert diese Nähe nach dem Modell der Wahlverwandtschaften: Die Stiftung rekrutiert ihre Mitglieder durch Kooptation, was voraussetzt, daß unter den Mitgliedern ein Konsens darüber herrscht, was ein „würdiger“ Kandidat ist. Jean Daniel erklärt seine besonderen Beziehungen zu François Furet, Mona Ozouf oder Pierre Nora folgendermaßen: „Ich hielt diese Männer und Frauen nicht deshalb für etwas Besonderes, weil sie meine Freunde waren, sondern ich hatte mich mit ihnen angefreundet, weil sie etwas Besonderes waren.“
Das typische Mitgliederprofil entspricht also dem eines „Kulturadels“, dessen wesentliche Überlegenheit sich folglich beschreiben läßt als „breiter Ideenhorizont, Weitblick, umfassende Bildung und die Fähigkeit zur Synthese; kurz, eine Ansammlung von Tugenden, welche die Entscheidungsträger sich selbst zuschreiben und dementsprechend auch von den zu kooptierenden Anwärtern verlangen“14 . In der festen Überzeugung, den aufgeklärten Teil der Elite zu repräsentieren und mit Leuten in Kontakt zu sein, die genauso „intelligent“ sind wie man selbst, übernimmt, verbreitet und fördert natürlich jedes einzelne der Mitglieder die Äußerungen der anderen.
Die scheinbare Distanz zwischen diesen Personen und die Undurchschaubarkeit der Verbindungen (denn eigentlich bestehen keine Gemeinsamkeiten zwischen einem Historiker der EHESS, dem Generaldirektor eines Staatsbetriebs und einem angesehenen Journalisten) erhöhen die Wirkung dieser übereinstimmenden Diagnosen. Jede Offenlegung der engen Verbindungen wird sofort als Denunziation betrachtet und als solche angeprangert. Intellektuelle, Verwaltungsbeamte, Journalisten und Industrielle zusammenzubringen macht einen besonderen Sinn, wenn man weiß, daß zahlreiche Mitglieder nacheinander oder gleichzeitig alle diese Positionen eingenommen haben. Roger Fauroux, der immer wieder betont, daß „die Industriellen der Saint-Simon- Stiftung nicht einfach nur Geld einzahlen, damit die anderen für sie arbeiten, sondern sich selbst ein wenig als Intellektuelle ansehen“15 –, ebendieser Roger Fauroux ist ein ideales Beispiel für die genannte Multifunktionalität: Er war Generaldirektor und anschließend Ehrenvorsitzender des Staatsbetriebes Saint-Gobain, kommt von der ENA und war Finanzinspektor; außerdem kann er sich seiner Nähe zu Intellektuellenkreisen rühmen, denn er ist Absolvent der ENS, der Ecole Normale Supérieure, und hat die agrégation in Germanistik absolviert. Als Eigner von Anteilsscheinen für außenstehende Gesellschafter bei Le Monde verfügt er auch über Beziehungen zur Presse. Diese Allgegenwart hat er mit zahlreichen anderen Stiftungsmitgliedern gemein, was sie in die Lage versetzt, an unterschiedlichen Orten in verschiedenen Funktionen präsent zu sein.
Diese gesellschaftliche Beweglichkeit begünstigt eine Zirkulation der Sprachen, Stile, Themen und Fragen, was zur Herausbildung von gemeinsamen Problemstellungen beiträgt; sie erzeugt ein Gefühl der Vertrautheit und Solidarität, das die politischen Spaltungen überwindet.
Obgleich sich die Stiftung darum „bemüht, so unengagiert wie möglich zu sein“16 , wie es François Furet einmal formuliert hat, und auch keiner Partei angehört, waren doch viele ihrer Mitglieder an Regierungen beteiligt, sei es als technische Berater oder als Amtsträger. Die Zusammensetzung diverser Kommissionen zeigt, wie massiv die Stiftung präsent ist: Von den 36 Mitgliedern der Kommission, die 1994 den sozialliberalen Minc-Bericht „La France de l'an 2000“ (Das Frankreich des Jahres 2000) verfaßten, waren 12 Stiftungsangehörige.17 Die Bildungskommission unter dem Vorsitz von Fauroux zählte 6 Stiftungsmitglieder unter ihren 24 Mitarbeitern.18 Auch „unabhängige“ Persönlichkeiten haben bereits ihre Pläne und Vorhaben in den Beitragsheften der Stiftung veröffentlicht: hier erschienen der Weil-Bericht über die Immigration19 sowie die Pläne zur „Reform“ der sozialen Sicherheit, die von der Regierung Juppé in die Wege geleitet wurde.
Vom Einschwenken in den Gang der Dinge
DIE Ausrufung des „Endes der Ideologien“ – welche ja immer unter dem Verdacht der „Debattenverschmutzung“ standen – hat es ermöglicht, die politischen Spaltungen zu überwinden und gemeinsam einen Katalog der „eigentlichen Fragen“ zu erstellen. Das wird klar in einem Gespräch zwischen dem Präsidenten der Stiftung, François Furet, und einem ihrer politischen „Schirmherren“, Raymond Barre: „Eine Tatsache hat mich immer wieder frappiert, daß nämlich die politische Klasse Frankreichs stärker durch die Ideologie beherrscht und durch ideologische Denkschemata gespalten ist als die politischen Klassen anderer Länder. (...) In der politischen Klasse Frankreichs ist es äußerst schwierig, sich über eine Reihe von Themen objektiv, also unabhängig von Ideologemen auszutauschen. (...) In den USA oder in Großbritannien gibt es einen breiten Konsens darüber, was Gesellschaft ist, und außerdem werden die wesentlichen Methoden der Gesellschaftsanalyse weitgehend geteilt. Ich war vor kurzem in den USA, um mich mit Problemen der internationalen Politik zu beschäftigen. Ich traf dort zwei Männer: Der eine war in der Carter-Regierung Vorsitzender des Council of Economic Advisers, und der zweite hatte dieselbe Funktion in der Regierung Ford inne. Bei unserem Gespräch über amerikanische und internationale Fragen gelangten wir zu einer gemeinsamen Analyse, ohne daß irgendwelche ideologischen Voreingenommenheiten eine Rolle gespielt hätten.“ François Furet: „Aber mit Experten können Sie auch in Frankreich ein solches Resultat erzielen; mit Politikern allerdings ist dies per definitionem unmöglich.“20
Um die „konkreten Probleme“ unserer Gesellschaften auf „objektive“ Weise zu lösen, wäre es demnach ausreichend, die Situation gut zu kennen (das heißt in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben integriert zu sein) und über die einschlägigen analytischen Instrumente (die Sozialwissenschaften) zu verfügen. „Ideologische“ Betrachtungsweisen rühren von einer schädlichen Logik her und wirken hier nur störend. So entsteht ein neues Modellbild des durch Akten- und Faktenwissen aufgeklärten und folglich von jeder Allgemeinreflexion befreiten Intellektuellen. Vom autonomen Intellektuellen gelangen wir auf diese Weise umstandslos zum „Fach“-Intellektuellen.
Dieses Markenzeichen garantiert den Mitgliedern Legitimität qua Wissenschaftlichkeit. Es ermöglicht darüber hinaus, die Wissenschaft zu einem Werkzeug der Politik zu machen und in ihrem Namen die Forderungen der „Gegner“ (kritische Intellektuelle, Gewerkschafter sowie die in den sozialen Bewegungen Aktiven) als „ideologische“ Positionen zu disqualifizieren. Durch die Wissenschaft, insbesondere die Wirtschaftswissenschaft, legitimiert, fügen sich die politischen Vorhaben dieser „Experten“ (die sich oft sogar als „links“ verstehen) ein in den „Gang der Dinge“. Dieser neuartige Pragmatismus, der sich auf den Wert der „Verantwortung“ beruft, bestimmt die öffentliche Debatte: Er bezichtigt die Gegner des „Idealismus“ und der „Abgehobenheit“ und wirft ihnen vor, sich dem „Lauf der Geschichte“ entgegenstellen zu wollen.
Doch diese gemeinsamen Weltanschauungen, die – wenngleich nur partiell kohärent – ein Ganzes bilden, sind ihrerseits nichts anderes als eine Ideologie, die ihren Namen verschweigt. Die Saint-Simon-Stiftung ermöglicht es einem kleinen Kreis von Einzelpersonen, die in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen einflußreiche Posten innehaben, unter Berufung auf ihre praktische Erfahrung und ihren „wissenschaftlichen“ Hintergrund gemeinsame Vorstellungen zu vertreten, wobei der Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Stellung der einzelnen und ihren ideologischen Positionen verwischt wird. Damit verrichtet die Stiftung eine ideologische Arbeit: die Verschleierung der politischen Arbeit. Dabei geht es darum, die Voraussetzungen für ein konservatives Gesellschaftsprojekt zu schaffen, das als einzig mögliches präsentiert wird. Auf diese Weise entstand jener „schmale Pfad“, dem die verschiedenen französischen Regierungen der letzten fünfzehn Jahre gefolgt sind. Aus dieser Sicht erscheint die Demokratie des Marktes als „das Ende der Geschichte“ und der Sozialliberalismus als einziger, unüberschreitbarer Horizont.
dt. Brunhilde Wehinger
* Sozialwissenschaftler