11.12.1998

Angriff auf das Leben

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Angriff auf das Leben

Die Erzeugung genetisch veränderter Organismen (GVO) ist ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die großen multinationalen Firmen – inzwischen kann man von einem genetisch-industriellen Komplex sprechen, ähnlich dem militärisch-industriellen Komplex – wollen eine Debatte über die Frage vermeiden, die sich viele Bürger stellen: Darf man Lebewesen manipulieren oder gar sterilisieren, um immer mehr Gewinn zu machen? Ist es noch zu verantworten, daß die Leitungsgremien öffentlicher Forschungseinrichtungen nd die zuständigen Ministerien diesen Firmen Rückendeckung verschaffen, denen das Gemeinwohl nichts bedeutet? In diesem Monat wird der französische Staatsrat darüber befinden, ob die im Februar getroffene Entscheidung des Landwirtschaftsministeriums, den Anbau von drei transgenen Maissorten der Firma Novartis zu genehmigen, rechtmäßig ist.

Von JEAN-PIERRE BERLAN und RICHARD C. LEWONTIN *

LEBEN zeichnet sich durch zwei widersprüchliche Grundeigenschaften aus: Es reproduziert und vermehrt sich unter Beibehaltung seiner Merkmale, und es wandelt sich, es verändert sich und entwickelt sich weiter. Auf der erstgenannten Eigenheit basiert die Landwirtschaft, auf der zweiten die Züchtung.

Im Verlauf der Erdgeschichte hat sich eine ungeheure inter- und intraspezifische genetische Variabilität herausgebildet. Auf der Grundlage und durch Erweiterung dieser naturgegebenen Variabilität haben die Menschen Pflanzen und Tiere domestiziert, gezüchtet und an ihre Bedürfnisse angepaßt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts tat sich zwischen den genannten komplementären Merkmalen des Lebens indes ein Gegensatz auf: Die Züchtung diente nun nicht mehr der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern wurde zu einem Mittel zum Profit. Die Saatgut- Investoren stellten fest, daß ihr neuer Geschäftszweig nicht genug Gewinn abwarf, solange die Landwirte das Korn aussäten, das sie ernteten. Damit geriet die Natur in Konflikt mit dem „Naturrecht“ des Profits, die Landwirtschaft und der Landwirt in Konflikt mit der Züchtung und dem Saatgutzüchter. Da es damals politisch noch nicht in Frage kam, die ärgerliche Reproduktions- und Vermehrungsfähigkeit des Lebens mit gesetzlichen Mitteln zu unterbinden, sahen sich die interessierten Kreise auf biologische Mittel verwiesen, um ihr Ziel zu erreichen. Diesem Zweck widmete die Agrargenetik nun alle ihre Anstrengungen. Ein entscheidender Schritt in die gewünschte Richtung gelang ihr im März 1998, als sich das US-amerikanische Landwirtschaftsministerium und das Saatgutunternehmen Delta and Pine Land Co. die sogenannte Terminator- Technik patentieren ließen. Bei diesem Verfahren wird in das Saatgut ein Tötungsgen eingebaut, das ein Auskeimen der geernteten Körner verhindert.

Die Pflanze entwickelt sich zwar wie gewöhnlich und erbringt eine normale Ernte, aber die Folgegeneration ist biologisch steril. Im Mai 1998 übernahm der multinationale Konzern Monsanto mit der Delta and Pine Land Co. auch die Terminator-Technik, die bereits in 87 Ländern patentiert oder zum Patent angemeldet ist; derzeit verhandelt die Firma mit dem US- Landwirtschaftsministerium über die Exklusivrechte. Ebenfalls im Mai suchte Monsanto der französischen Öffentlichkeit mit einer kostspieligen Werbekampagne die menschenfreundlichen Wunderwirkungen gentechnisch veränderter Organismen nahezubringen. Weder die betroffenen Wissenschaftler noch die Medien, noch der parlamentarische Ausschuß zur Bewertung der Folgen wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen gaben sich dabei sonderlich Mühe, zu verstehen, geschweige denn der Öffentlichkeit zu erklären, was es mit diesen gentechnisch veränderten Lebewesen auf sich hat.

Die Terminator-Technik ist nur der Endpunkt einer langen Entwicklung, in deren Verlauf das Leben zunehmend Gegenstand privater Aneignung wurde. Sie begann in dem Moment, als das biologische Erbmaterial1 in Form einer Ware verfügbar zu werden begann. Hugo de Vries, der einflußreichste Biologe des beginnenden 20. Jahrhunderts und einer der „Wiederentdecker“ der Mendelschen Gesetze, erkannte damals als einziger, daß bei einer angewandten Wissenschaft wie der Agrargenetik nicht wissenschaftliche, sondern wirtschaftliche Überlegungen den Ausschlag geben: Was einträglich ist, beeinflußt bzw. bestimmt das, was als „wissenschaftlich wahr“ angesehen wird.2

De Vries verfolgt nach, wie die zu Beginn des 19. Jahrhunderts übliche Technik, Getreidepflanzen dadurch zu verbessern, daß man sie isolierte und sie sich dann identisch reproduzieren ließ (breed true) – ein Verfahren, das dem Investor keinen Gewinn ermöglicht –, durch die Methode der kontinuierlichen Auslese ersetzt wurde. Wissenschaftlich gerechtfertigt wurde diese Methode durch die darwinistische Auffassung, daß sich die Pflanzenvarietäten auf dem Feld fortlaufend „verschlechtern“, d. h. daß sie bestimmte angezüchtete Charakteristiken mit der Zeit wieder verlieren. Wie jedoch Nilsson vom schwedischen Svalöf-Institut bereits 1892 empirisch nachwies, kann die kontinuierliche Auslese die Pflanzenqualität nicht verbessern, da sich diese Art der Züchtung notwendig auf einige wenige Merkmale beschränkt. So wurde bereits damals eine gesellschaftlich nützliche, aber unprofitable Technik durch eine gewinnträchtige Methode ersetzt, die nicht den geringsten Fortschritt brachte.

Von der Verbesserung zur Sterilisation

IN Unkenntnis der Geschichte ihrer eigenen Disziplin und namentlich der Arbeiten von De Vries3 haben die Agrargenetiker des 20. Jahrhunderts erneut auf dieses Vorgehen zurückgegriffen – Ende der dreißiger Jahre feierten sie den „Hybridmais“ als den ganz großen Durchbruch.4 Die Hybridisierung entwickelte sich weltweit zum Paradigma der agrarwissenschaftlichen Forschung und ist bislang bei rund zwanzig Nahrungspflanzen angewandt worden; ein weiteres Dutzend soll folgen. Auch Geflügel und Schweine sind heute zum Großteil „hybride“ Arten. Unter Verweis auf den Heterosiseffekt, wonach durch Hybridisierung besonders große Pflanzen entstehen5 , unternahmen die Genetiker im Anschluß an ihren Erfolg beim Mais seit Mitte der dreißiger Jahre große Anstrengungen, die Hybridisierungstechnik auf andere Pflanzenarten auszuweiten. „Hybride steigern den Ertrag“, behaupten sie, und diese Formulierung faßt die Heterosistheorie in der Tat treffend zusammen: Der Besitz anderer Gene – die „Hybridität“ einer Sorte – gilt per se als positive Eigenschaft.

In Wirklichkeit zeichnet sich dieser Varietätentypus durch abnehmende Erträge in der Folgegeneration, im Klartext: durch Sterilität aus. Der Landwirt muß sein „Saatgut“ daher jedes Jahr neu kaufen. Varietätenfortschritt kann nur durch eine Verbesserung der Populationen via Zuchtauswahl erreicht werden, jedoch wird genau dies durch die Bemühungen um „Hybride“ verhindert. Wohl ohne bewußte Absicht stellt die wissenschaftliche Gemeinschaft der Agrargenetiker die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf: Sie behauptet, den Heterosiseffekt zur Ertragssteigerung zu nutzen, wo sie inzuchtbedingt nur Sterilität erzeugt. Doch um das eigentliche Ziel – sterile Pflanzen – zu verbergen und die Sterilisation der Maispflanze politisch durchzusetzen, mußte man die Aufmerksamkeit eben auf das Zuchtverfahren und den damit vermeintlich verbundenen Verbesserungseffekt lenken. Insofern besteht zwischen der Theorie der „Verschlechterung“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der theoretischen Rechtfertigung der „Hybriden“ und der Terminator-Technik nicht der geringste Unterschied. Neu ist allein der politische Kontext.

Bis vor kurzem konnten die Investoren ihre Absicht, das Leben zu sterilisieren, nicht offen kundtun, ohne sie damit zugleich zu hintertreiben. Denn die Bauern bildeten noch eine mächtige soziale Gruppe, und das Leben galt als heilig. Aber die Bauern verschwinden langsam und verwandeln sich in Landwirte, die noch dem kleinsten „Fortschritt“ hinterherrennen, um die Abschaffung ihres Berufszweigs etwas hinauszuzögern. Und das Leben reduziert sich auf eine Profitquelle in Gestalt von DNA-Strängen.

Abgestumpft und konditioniert durch zwanzig Jahre neoliberaler Propaganda, erwartet der Bürger von Wissenschaft und Technik die Lösung aller drängenden politischen und gesellschaftlichen Probleme, während die Politiker sich mit der „Verwaltung von Sachzwängen“ begnügen. An die Stelle der Saatguthändler von einst ist ein mächtiger genetisch-industrieller Komplex getreten, dessen Verbindungen bis ins Innerste der staatlichen Forschungsinstitutionen reichen.6 Die Terminator-Technik macht lediglich deutlich, daß sich dieser Komplex nunmehr stark genug fühlt, um seinen Anspruch, alles Leben zu vereinnahmen, offen kundzutun.

Monsanto, der führende Anwender der „Wissenschaften vom Leben“, scheut nicht davor zurück, in amerikanischen Landwirtschaftszeitschriften Anzeigen zu veröffentlichen, die den Landwirten ins Gedächtnis rufen, daß sie nicht das Recht haben, einen Teil der Ernte aus genetisch verändertem und gegen das Monsanto- Herbizid „Roundup“ resistentem Biotech- Saatgut im Folgejahr wieder auszusäen: „Verletzungen des Samengut-Patents können Sie mehr als 1200 Dollar pro Hektar Anbaufläche kosten“, heißt es drohend in der Schlagzeile – es handelt sich um eine Art „vertraglich vereinbarter Sterilität“. Sollte sich der Landwirt das Roundup-Ready-Saatgut ohne Vertrag mit Monsanto beschafft haben, zum Beispiel bei einem Nachbarn, kann das Unternehmen ihn ebenfalls verklagen, weil die Varietät patentrechtlich geschützt ist – eine „gesetzlich verankerte Sterilität“.

Der Monsanto-Konzern, der vor kurzem 2500 Mitarbeiter entlassen hat, greift nicht nur auf so alte und symbolische Mittel wie den Einsatz von Pinkerton-Detektiven7 zurück, um den Farmern auf die Spur zu kommen, die sein Saatgut „vertragswidrig“ nutzen, sondern zieht auch bei den üblichen Informanten wie Nachbarn, Herbizidausbringern und Saatguthändlern Erkundigungen ein. Um einen ruinösen Prozeß zu vermeiden, blieb mehr als einhundert Farmern keine andere Wahl, als ihre Ernte zu vernichten, Schadenersatz zu leisten und den Monsanto-Inspektoren auf Jahre hinaus das Recht einzuräumen, ihre Rechnungsbücher und Felder zu überprüfen. Es ist zwar vollkommen legal, die eigenen Pflanzenfrüchte im Folgejahr wieder auszusäen – der Landwirt darf sie nur nicht an seine Nachbarn verkaufen –, aber nach Ansicht von Monsanto gilt dieses Recht nicht für genetisch verändertes, patentiertes Saatgut.8

Was die Gefahr einer „biologischen Verschmutzung“ und die bis zum heutigen Tag völlig ungeklärten Auswirkungen genetisch veränderter Varietäten auf die öffentliche Gesundheit und die Umwelt anbelangt, vertritt der genetisch-industrielle Komplex eine Position, die von Phil Angell, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit bei Monsanto, mit seltener Offenheit dargelegt worden ist: „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Verträglichkeit genetisch veränderter Lebensmittel zu gewährleisten. Unser Interesse ist, möglichst viel davon zu verkaufen. Die Überprüfung der Verträglichkeit ist Sache des Ernährungsministeriums.“9 Wenn man bedenkt, wie sie zugleich die Perspektiven der Genmanipulation in den schönsten Farben ausmalen10 , kann man sich ein Bild von der Durchtriebenheit dieser Unternehmer der „Branche Leben“ machen.

Raubbau am genetischen Reichtum

MONSANTO und die mit ihm verbündeten Konkurrenten Novartis, Rhône-Poulenc, Pioneer-DuPont und wie sie alle heißen haben sich also den „Wissenschaften vom Leben“ verschrieben. Eine merkwürdige „Wissenschaft vom Leben“: Verbissen attackiert sie dessen wunderbare Eigenheit, sich auf dem Feld des Bauern zu reproduzieren und zu vermehren, und kümmert sich nur darum, daß sich das Kapital der Investoren reproduziert und vermehrt. Bald wird man uns noch nötigen, Fenster und Türen zu verrammeln, um die Kerzenfabrikanten gegen den unlauteren Wettbewerb der Sonne zu schützen.11 An Argumenten, warum die Sonne tatsächlich für jeden scheint, fehlt es indes nicht. Vier davon wollen wir im folgenden kurz anführen.

Erstens ist die vorhandene Artenvielfalt das Resultat der Arbeit aller Bauern der Erde und im besonderen der Bauern in der Dritten Welt – ein Sachverhalt, der von regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) und zwischenstaatlichen Institutionen wie der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) immer wieder betont wird. In jahrtausendelanger Arbeit haben die Bauern durch Domestizierung, Auslese und Anpassung wilder Pflanzen und Tiere einen genetischen Reichtum geschaffen, von dem die Industrieländer in großem Maß zehren – um nicht zu sagen, daß sie ihn ausgeplündert und zum Teil bereits zerstört haben. Der Aufbau der US-amerikanischen Landwirtschaft wäre ohne die ungehinderte Einfuhr genetischer Ressourcen aus aller Welt schlicht unmöglich gewesen, denn von allen bedeutenden Nutzpflanzen stammt nur die Sonnenblume aus Nordamerika. Die Gerechtigkeit – so dieses Wort noch einen Sinn haben sollte – würde es gebieten, daß die Vereinigten Staaten ihre „Genschuld“ gegenüber der übrigen Welt abtragen. Zahlreiche amerikanische Bürgerinitiativen machen denn auch Front gegen die Ausbeutung dieses der gesamten Menschheit gehörenden biologischen Erbes.

Zweitens beruhte die historisch beispiellose Ertragssteigerung in den Industrieländern und in einigen Entwicklungsländern auf dem freien Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse und genetischer Ressourcen und der Forschungsarbeit öffentlicher Institutionen. Nachdem die Erträge jahrtausendelang mehr oder weniger stagniert waren, stiegen sie innerhalb der letzten beiden Generationen um das Fünffache und verdoppelten sich in den letzten zwölf bis fünfzehn Jahren. Der Beitrag privater Forschungseinrichtungen zu dieser Ertragssteigerung ist kaum der Rede wert; das gilt auch für die Vereinigten Staaten und die Entwicklung des „Hybridmaises“.

So waren in den siebziger Jahren fast alle im „Maisgürtel“ (corn belt) angebauten „Hybriden“ das Ergebnis einer Kreuzung zweier Maislinien aus öffentlichen Forschungseinrichtungen: Die eine wurde von der Universität Iowa gezüchtet, die andere von der Universität Missouri. Die grundlegende Arbeit zur Verbesserung der Pflanzenpopulationen wird einzig und allein von der öffentlichen Forschung geleistet. Ein Saatgutexperte vom französischen Nationalen Agrarforschungsinstitut (INRA) erinnert sich, daß es zu Beginn seiner Karriere, vor dreißig Jahren, bei der Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Arbeit üblich war, das betreffende Saatgut sozusagen im Anhang beizufügen. Heute verdächtigt er manche agrarwissenschaftlichen Zeitschriften, die Leser – und die Konkurrenz – absichtlich falsch zu informieren.

Die Privatisierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, genetischen Ressourcen und Anwendungstechniken behindert die Arbeit der Forscher. Auch zahlreiche Länder der südlichen Hemisphäre erschweren seit neuestem den Zugang zu ihren genetischen Ressourcen, weil sie es leid sind, für die daraus entwickelten Sorten anschließend Lizenzgebühren bezahlen zu müssen.

Drittens zeigt die Erfahrung, daß der Preis für „genetischen Fortschritt“ aus privater Hand exorbitant hoch ist. Ein INRA- Forscher schätzte die Mehrkosten für eine bestimmte hybride Weizensaat – das heißt die Mehrkosten für die Abdichtung von Fenstern und Türen und die deshalb notwendigen „Hybrid-Kerzen“ – auf sechs bis acht Doppelzentner pro Hektar.12 Ein anderer Forscher derselben Institution – der verantwortliche Leiter des Hybridweizenprogramms, das trotz dieser wahnwitzigen Schätzung weiterverfolgt wird – veranschlagte die Mehrkosten vor kurzem gar auf acht bis zehn Doppelzentner pro Hektar.13 Das ergibt jährliche Mehrkosten von wenigstens 1 Milliarde Mark für eine Nettoertragssteigerung von kaum mal ein paar Doppelzentnern. Leichter und schneller hätte man dieses Ergebnis durch Linienzüchtung erreichen können, das heißt mit Varietäten, die der Bauer reproduziert. Aber an diesen Linien hatte der „Partner“ von INRA, das Unternehmen Lafarge-Coppée, kein Interesse.

Viertens: Wenn wir auf unser Recht am Leben verzichten, wird sich der technische Fortschritt nicht an den Bedürfnissen der Gesellschaft orientieren, sondern an den Profitinteressen des genetisch-industriellen Komplexes. Vom Fortschritt im allgemeinen zu schwadronieren, ohne dabei die konkreten Verhältnisse zu nennen, grenzt an Betrug – ähnliches gilt, wenn der Staat seine forschungspolitischen Entscheidungen mit dem Verweis auf einen angeblichen „gesellschaftlichen Bedarf“ rechtfertigt: Ein Großteil der Öffentlichkeit ist gegen genetisch veränderte Organismen (GVO). Von einem „gesellschaftlichen Bedarf“ an GVOs kann also nur insofern die Rede sein, als sich dahinter die Bedürfnisse des genetisch-industriellen Komplexes verstecken. Und dennoch wurde im französischen Évry vor kurzem das molekulargenetische Forschungs- und Therapiezentrum „Génopole“ eingeweiht.

Wie diese Mystifizierung funktioniert, läßt sich am Beispiel der Hybriden gut deutlich machen. Der Landwirt verlangt nach qualitativ besseren Varietäten, die pro Kosteneinheit einen höheren Ertrag erbringen, aber er kann nicht angeben, wie diese Verbesserung zu erreichen ist. Die Wissenschaftler werden ihm leider nicht erklären, daß es hier verschiedene Wege gibt und die Entscheidung für eine freie oder eine „hybride“ Varietät nicht wissenschaftlicher, sondern politischer Natur ist. Aber Wissenschaftler sind ja bekanntermaßen unpolitisch. Der Investor wiederum folgt seinem Profitmaximierungsinteresse und entscheidet sich für den einträglichsten Varietätentypus, die sterilen „Hybriden“. Die Forschung macht sich – aus eigenem Antrieb oder aufgrund eines Auftrags – sogleich an die Arbeit und konzentriert sich ganz darauf, diese „Hybriden“ erfolgreich zu entwickeln. Über kurz oder lang funktioniert das Ganze dann, und das gilt als Beweis, daß die anfängliche Entscheidung richtig war. Mit der Technik ist es wie mit bestimmten Vorhersagen: Sie bewahrheitet sich selbst. Aus dem Bedarf des Landwirts an besseren Varietäten wird schließlich die Nachfrage nach „Hybriden“.

Auf dem Gebiet der angewandten Biologie, das heißt im Gesundheits- und Medizinbereich, ist ähnliches zu beobachten: Wir wären gern die großen Plagen unserer Zeit los – Krebs, Fettleibigkeit, Alkoholismus – aber wir wissen nicht, wie. Der genetisch-industrielle Komplex wiederum sucht nach ständig neuen Profitquellen. Also hämmert er uns ein, all diese gesellschaftlich bedingten endemischen Krankheiten seien genetischer Natur und würden durch die individuellen Erbanlagen jedes einzelnen verursacht. Damit wird jeder Gesunde zum potentiell Kranken, und der genetisch-industrielle Komplex kann seinen Markt ebenso ausdehnen, wie er es zuvor mit den „Hybriden“ getan hat und in Zukunft mit der Terminator-Technik tun wird. Daß wir alle Träger „genetischer Krankheiten“ sind, liegt in der Natur der Sache. Da sämtliche Proteine durch Gene produziert werden und Proteine an sämtlichen Lebensfunktionen beteiligt sind, ist der Begriff der „genetischen“ Krankheiten fast schon eine Tautologie. In einer Gesellschaft, in der die sozialen und politischen Ursachen einer Krankheit nicht existieren, kommt das genetische Agens aber nicht oder nur sehr selten zum Tragen.14 Die Individualisierung und Biologisierung sozialer und politischer Ursachen bedeutet das Ende eines jeden Sozialversicherungssystems, wie wir alltäglich aus der endlosen Diskussion über das chronische, aber höchst profitable Defizit der Sozialversicherung ersehen können.

Im Glauben, sich unter Berufung auf ihre Objektivität und ihre Methoden den sozialen Mechanismen entziehen zu können, werden die Anhänger der Biologisierung zu Opfern ihres eigenen beschränkten Kausalitätsverständnisses und ihrer ahistorischen Betrachtungsweise und sind für die Investoren eine leichte Beute. Die Gelehrtenrepublik erweist sich als Operettenstaat, an dessen Spitze mächtige Geldgeber stehen. Nur wenn sich die Forscher gegenüber ihrer Umwelt öffnen, können sie einen Beitrag leisten zu jener besseren Welt, die die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung wünscht. Dies setzt allerdings eine Demokratisierung des Wissenschaftsbereichs voraus.

Der genetisch-industrielle Komplex versucht, politische Fragen zu technisch- wissenschaftlichen Problemen zu erklären, um ihre Behandlung in Instanzen zu verlagern, in denen er das Sagen hat. Mit der weißen Weste der Uneigennützigkeit und Objektivität angetan, führen seine Experten die Öffentlichkeit in die Irre. Anschließend schlüpfen sie in ihren Verwaltungsrats-Dreiteiler, um hinter den Kulissen die Richtlinien für ihre eigene Arbeit auszuarbeiten, über ihr neuestes Patent zu verhandeln oder sich in Ausschüssen zu versammeln, die – auch wieder „ganz objektiv“ – die Öffentlichkeit aufklären. Schlimm für die Demokratie, daß sie keine unabhängigen Gutachter mehr hat und auf die Zivilcourage und wissenschaftliche Redlichkeit vereinzelter Forscher angewiesen ist, wie sich vor allem bei der Atomkraft gezeigt hat.

Langsam regt sich Widerstand gegen diesen Mißstand. So verlangen einige amerikanische Biologie-Zeitschriften von den Einsendern wissenschaftlicher Beiträge, daß sie ihre persönlichen Interessen in Biotech-Unternehmen sowie ihre Finanzierungsquellen offenlegen. Dieses Minimum an Transparenz sollte man von jedem fordern, der öffentlich das Wort ergreift oder in Expertenausschüssen sitzt, die als unabhängig gelten. Es würde sich zeigen, wie verzweigt der genetisch-industrielle Komplex ist.

Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir den biologischen Teil unseres Menschseins einigen multinationalen Konzernen überlassen und ihnen biologische, gesetzliche und vertragsrechtliche Sonderrechte auf das Leben einräumen? Oder wollen wir unsere Selbstverantwortung und Autonomie bewahren? Werden die Bauernverbände sich weiterhin ruinöse Techniken aufdrängen lassen, oder entschließen sie sich, mit einer neuausgerichteten öffentlichen Forschung und einem Zusammenschluß von Agrarwissenschaftlern und Züchtern in einen Diskussionsprozeß darüber einzutreten, welche Maßnahmen sowohl im Interesse der Landwirte wie der Öffentlichkeit wären? Und schließlich, welche Ziele hat die „öffentliche“ agrarwissenschaftliche Forschung, die das organische Leben jahrzehntelang wirtschaftlich – und nun auch biologisch – privaten Interessen ausgeliefert hat?

Ein anderer Weg ist gangbar. Wir müssen der derzeitigen EU-Politik den Rücken kehren, die hinsichtlich der Patentierbarkeit des Lebens nur blind die Vorgaben aus den USA übernommen hat, und wir müssen das Leben zum „gemeinsamen Gut der Menschheit“ erklären. Wir brauchen einen öffentlichen Forschungsbetrieb, der dieses gemeinsame Gut auch tatsächlich im Namen und zum Nutzen der Öffentlichkeit pflegt und der bereits weit fortgeschrittenen privaten Aneignung der genetischen Ressourcen entgegenarbeitet. Denn mit dieser Aneignung geht der Versuch einher, jede wissenschaftliche Alternative zu unterdrücken, die zu einer ökologisch verantwortungsbewußten und nachhaltigen Landwirtschaft beitragen könnte. Wir müssen den freien Austausch von Wissen und genetischen Ressourcen sicherstellen, der die außerordentlichen Fortschritte der letzten sechzig Jahre ermöglicht hat. Wir müssen die Macht über das Leben wieder in die Hände der Landwirte legen, das heißt, wir müssen dieses Problem selbst anpacken. An die Stelle von Wirtschaftskrieg und Ausplünderung der genetischen Ressourcen muß Frieden und internationale Zusammenarbeit treten.

dt. Bodo Schulze

* Jean-Pierre Berlan ist Studienleiter am Institut national de la recherche agronomique (INRA), Richard C. Lewontin Inhaber des Alexander-Agassiz-Lehrstuhls für Zoologie und Professor für Populationsgenetik an der Harvard University. Von ihm erschien unter anderem „Die Gene sind es nicht... : Biologie, Ideologie und menschliche Natur“, Heidelberg (Spektrum) 1987.

Fußnoten: 1 Der Begriff des biologischen Erbguts taucht Mitte des 19. Jahrhunderts zeitgleich mit der Ware Erbgut auf. 2 Hugo de Vries, „Plant-Breeding“, Chicago (The Open Court Publishing Co.) 1907. 3 Zur Geschichtsvergessenheit der wissenschaftlichen Forschung vgl. Jean-Marc Lévy-Leblond, „La Pierre de touche. La Science à l'épreuve de ... la société“, Paris (Gallimard) 1996. 4 Zwischen 1922, als das amerikanische Landwirtschaftsministerium seinen Saatgutzüchtern die Entwicklung von „Hybriden“ aufzwang, und deren Durchsetzung im Mittleren Westen in den Jahren 1945-1946 stieg der Ertrag dieser Maissorten um 18 Prozent, die Ertragssteigerung bei Weizen lag im gleichen Zeitraum bei 32 Prozent. Aber die Weizenzüchter dienten ja nur dem Gemeinwohl, während die „Hybridisierer“ eine neue Profitquelle auftaten und damit zu Helden der Wissenschaft avancierten. 5 Dazu „The Genetics and Exploitation of Heterosis in Crops“, in „Book of abstracts“, internationales Symposium, Mexico, CIMMYT, 1997. Dieses Symposium, das die „Hybridisierungstechnik“ weltweit ausdehnen und auf andere Pflanzenarten anwenden wollte, stand unter der Schirmherrschaft der Creme des genetisch-industriellen Komplexes, darunter Unternehmen wie Monsanto, Novartis, Pioneer, DeKalb und Asgrow. 6 1986 rühmte sich ein ehemaliger Generaldirektor der INRA seiner Posten im Aufsichtsrat von Rhône- Poulenc, des Entreprise Minière et Chimique und der Société Commerciale des Potasses d'Alsace et de l'Azote. Der derzeitige Generaldirektor dieser öffentlichen Forschungseinrichtung saß von 1989-1994 im Aufsichtsrat von Rhône-Poulenc Agrochimie. 7 Die Privatdetektei Pinkerton versorgte die Arbeitgeber traditionell mit Streikbrechern und Provokateuren. 8 Dazu Progressive Farmer, Birmingham/Al. (USA), 26. Februar 1998. Monsanto hat vor kurzem präzisiert, welche Sanktionen Landwirte in Zukunft zu gewärtigen haben, die gegen die Varietäten-Patente des Unternehmens verstoßen. Sie werden auf Schadenersatz verklagt und müssen ihren Betrieb fünf Jahre lang von Monsanto-Inspektoren überprüfen lassen. So wurden zwei Farmer aus Kentucky zu 25000 Dollar Schadenersatz verurteilt. In Frankreich machen sich die Landwirte der Confédération Paysanne gegen genetisch veränderte Organismen (GVO) stark. Siehe die monatlich erscheinende Verbandszeitschrift Campagnes solidaires (104, rue Robespierre, F-93170 Bagnolet, Tel. (00331) 43628282). Vgl. auch das GVO-Dossier in der Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Regards, Paris. 9 Mündliche Äußerung, zit. n. Michael Pollan, „Playing God in the Garden“, New York Times Magazine, 28. Oktober 1998. 10 Dazu das Interview mit Axel Kahn, „Les OGM permettront de nourrir la planète en respectant l'environnement“, Les Échos, 18. Dezember 1997. Kahn ist Mitglied des Comité National Consultatif d'Éthique, Leiter am Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale (Inserm), stellvertretender Direktor der Abteilung „Wissenschaften vom Leben“ bei Rhône- Poulenc und war von 1988 bis 1997 Präsident der Commission du Génie Biomoléculaire. 11 Dazu Jean-Pierre Berlan u. Richard C. Lewontin, „Plant Breeders' Rights and the Patenting of Life Forms“, Nature, 322 (28. August 1986), London, S. 785-788. 12 Michel Rousset, „Les blés hybrides sortent du laboratoire“, La Recherche, Nr. 173 (Januar 1986), Paris. 13 Gérard Doussinault, „Rapport au conseil scientifique du département d'économie de l'INRA“, Dezember 1996. 14 Dazu Richard C. Lewontin, „The Doctrine of DNA. Biology as Ideology“, London (Penguin) 1993.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von JEAN-PIERRE BERLAN und RICHARD C. LEWONTIN