Wie das MAI zu Fall gebracht wurde
DER Abbruch der drei Jahre währenden OECD-Verhandlungen über das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) ist ein unbestreitbarer Sieg der Bürgerinitiativen, die in zahlreichen Ländern und insbesondere in Frankreich die Öffentlichkeit mobilisiert haben, um die Unterzeichnung des Abkommens zu verhindern. Die Kampagne hat nicht nur die undurchsichtige Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftskreisen und Regierungsinstanzen enthüllt; sie hat auch gezeigt, daß die neuen, dem Zeitalter der Globalisierun angepaßten Strategien der sozialen Kämpfe und der systematische Einsatz des Internet zum Erfolg führen können.
Von CHRISTIAN DE BRIE *
„Die Entstehung von Aktivistengruppen droht die öffentliche Ordnung, die rechtmäßigen Institutionen und den demokratischen Prozeß zu untergraben. (...) Es müßten Regeln aufgestellt werden, um die Legitimität dieser aktivistischen regierungsunabhängigen Organisationen zu klären, die vorgeben, die Interessen großer Teile der Zivilgesellschaft zu vertreten.“ Der aggressive Ton dieser Erklärung, die von 450 Vorstandsvorsitzenden und Managern multinationaler Konzerne im September 1998 in Genf angenommen wurde, dokumentiert das Ressentiment der Wirtschaftsmächte gegenüber neuen Protestformen, deren Effektivität sich vor allem im Kampf gegen das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) erwiesen hat.1 Die zynische Drohung stammt von der Internationalen Handelskammer, die als weltweite Lobby der multinationalen Unternehmen auftritt und als veritable Aktivistengruppe des Big Business gelten darf. Der Präsident der Internationalen Handelskammer, der als Hardliner bekannte Nestlé-Chef Helmut O. Maucher, ist übrigens auch Vorsitzender des Europäischen Industriekreises (European Round Table of Industrialists, ERT) sowie des alljährlich tagenden Davoser Weltwirtschaftsforums – zwei Gruppen, die so eindeutig die rechtmäßigen Institutionen untergraben, wie sie jeder demokratischen Legitimation entbehren.
Über den Fortgang der 1995 begonnenen MAI-Verhandlungen wurde bekanntlich ohrenbetäubendes Stillschweigen bewahrt. Ort der Gespräche war passenderweise das Pariser Schloß „La Muette“ (“Die Stumme“); den organisatorischen Rahmen stellte die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), ein Privatclub der 29 reichsten Ländern der Welt, in dem 90 Prozent der multinationalen Unternehmen zu Hause sind. Nach dem Vertragsentwurf hätten sich die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, ihre nationalen Ressourcen, egal als welche Vermögenswerte sie sich präsentieren, vorbehalt- und bedingungslos dem nächstbesten kaufentschlossenen „Investor“ auszuliefern.
Alle anderslautenden gesetzlichen Regelungen hätten nur provisorische Gültigkeit behalten und wären in absehbarer Zeit unwiderruflich abgeschafft worden. Bei Zuwiderhandlungen waren Strafen angedroht: Gewinnmindernde Auflagen hätten die Unternehmen zu Schadenersatzforderungen berechtigt, deren Höhe von den Schiedsinstanzen der Internationalen Handelskammer festgelegt werden sollten. Mit diesen Regelungen konnte jeder multinationale Konzern zufrieden sein, der sich das Recht anmaßt, „zu investieren, wo und wann er will, zu produzieren, was er will, Ein- und Verkauf zu regeln, wie er will, und dies bei möglichst geringen [sozialen, steuerlichen und ökologischen] Auflagen“, wie der Präsident von ABB es einmal formulierte.2
Hier sollte nicht weniger als ein Recht auf Ausplünderung festgeschrieben werden, das weniger den wirklichen Investoren als vielmehr den Spekulanten zugute kommen sollte, deren flüchtige Geldanlagen auf den Finanzmärkten heute 85 Prozent aller „Investitionen“ ausmachen.3 Das ganze erinnert an das kolonialistische Diktat des Vertrags von Tien-Tsin von 1858, mit dem China gezwungen wurde, sich den damaligen „Investoren“ zu öffnen, die zufällig die großen westlichen Handelsgesellschaften waren, die den Opiumhandel monopolisierten und das Land im Namen der „Freiheit des Handels“ vergifteten.
Erst im April 1997 wurde das ungeheuerliche Projekt enthüllt, zunächst in Kanada und den Vereinigten Staaten, dann auch in Europa. Doch damit war sein Schicksal besiegelt. „Ein politischer Dracula wie das MAI war im Licht der Öffentlichkeit nicht lebensfähig“, schrieb Lori Wallach.4 Nachdem der Vertrag seziert und analysiert war, begannen gemeinnützige Verbände, Bürgerinitiativen und regierungsunabhängige Organisationen, die Bürger und ihre gewählten Vertreter über den Inhalt des Entwurfs zu informieren und zu mobilisieren. Bereits ein Jahr später wurden die Verhandlungen, auch dank dieser Kampagne, vorübergehend ausgesetzt. Als sich die französische Regierung dann im Oktober 1998 vom Verhandlungstisch zurückzog, war das Projekt zumindest im Rahmen der OECD endgültig gestorben.5
Für viele war es eine regelrechte Offenbarung, zu entdecken, was sich hinter der spektakulären Medienfassade der Demokratie abspielt. Zwar ist kein Bürger so naiv, zu glauben, daß die Macht wirklich vom Volk ausgeht – das verfassungsgemäß vermittelt über seine gewählten Vertreter die Macht ausübt –, doch wer wäre ernsthaft auf den Gedanken gekommen, daß man in seinem Namen heimlich und systematisch die Grundfesten der Demokratie zu untergraben versucht? Bei Verträgen wie dem MAI steht nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als der Übergang vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Völkerbestimmungsrecht der Investoren“6. Der Bürger soll fortan nicht der nationalen Gesetzgebung, beschlossen von gewählten Parlamenten und überwacht von staatlichen Gerichten, untergeordnet sein, sondern marktkonformen Regeln, die unter dem Druck der multinationalen Unternehmen ausgehandelt und durch eine private Schiedsgerichtsbarkeit durchgesetzt werden. So wird die „gesetzgebende Gewalt privatisiert und das Handelsrecht über das öffentliche Recht gesetzt“7.
Ohne die Komplizenschaft der Hüter des Gesetzes und der Repräsentanten des Gemeinwohls wäre der Überfall aber schlicht unmöglich gewesen. Diese Komplizenschaft vollzieht sich heimlich, still und leise über die zahlreichen Vermittlungsstationen, die sich zwischen die verhandlungs- und entscheidungsbefugte Staatsmacht und die Bürger schieben, in deren Auftrag sie eigentlich handeln sollen. Der einzelne Bürger wählt einen parlamentarischen Vertreter, der – wenn er zur Mehrheitspartei gehört – die Regierung unterstützt, die wiederum den ganzen MAI-Vorgang dem zuständigen Finanzminister anvertraut. Der Minister schickt einige höhere Beamte in die Verhandlungsrunde, die bei jeder heiklen Frage eine „Expertengruppe“ hinzuziehen. Die Experten holen gewöhnlich die Stellungnahme von Beratern ein, die ihrerseits häufig für multinationale Unternehmen arbeiten. Auf der Grundlage dieser qualifizierten Stellungnahme fertigt der „Experte“ seine „Expertise“ an. Der hohe Beamte nickt die Sache ab, der Minister steht hinter seinen Untergebenen und findet Rückendeckung bei seiner Regierung, die wiederum das Vertrauen der Regierungsparteien genießt, deren Abgeordnete am Ende den Gesetzestext im Namen des Bürgers verabschieden. Aus und vorbei. Je weiter man sich vom Bürger und vom Wähler entfernt und sich den Kreisen nähert, die Entscheidungen vorbereiten und vorherbestimmen, um so undurchsichtiger, ja geheimer wird die Sache.
Die dringlichste Aufgabe besteht also darin, die gewählten Vertreter in Parlament und Gemeinderat zu alarmieren, die meist wenig oder überhaupt nichts wissen: „Ich habe keine Ahnung, wer was in wessen Namen aushandelt“, räumte Jack Lang, Präsident des Auswärtiges Ausschusses der französischen Nationalversammlung, mit Blick auf das MAI ein, und dies zu einem Zeitpunkt, da es schon zwei Jahre diskutiert wurde.8 In Frankreich hat sich immerhin etwas getan. Einige Parlamentarier der Grünen, der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei griffen die Sache auf, verbreiteten die Informationen weiter und deckten die Regierung mit Anfragen ein. Diese wiederum betraute Catherine Lalumière während der Verhandlungspause im April 1998 mit einem Bericht, dessen Schlußfolgerungen für die Entscheidung Frankreichs, sich vom Verhandlungstisch zurückzuziehen, ganz sicher eine Rolle spielten.9
Nun sollten sich die Parlamentarier gewiß zur systematischen Überwachung aller laufenden Verhandlungen auf Regierungsebene durchringen – zumal sie über deren Ergebnisse irgendwann abzustimmen haben. Doch wir sollten uns keineswegs blind auf ihre Wachsamkeit verlassen – ebensowenig wie auf die Medien, die nur allzu oft die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von wichtigen Fragen ablenken. Am besten wäre es also, eigene Beobachtungsinstrumente zu schaffen, um den Instanzen, Verfahren und Projekten der neuen, weltweit agierenden Macht auf die Spur zu kommen, die ihre Machenschaften auf dem Rücken der Völker austrägt und sich hinter unverständlichen Abkürzungen versteckt. Und dabei nicht darauf zu verzichten, die Akteure, die ja vor allem anonym bleiben wollen, beim Namen zu nennen und zur Verantwortung zu ziehen.
Aus der Anti-MAI-Kampagne ergibt sich eine zweite Lektion: Auch mit sehr bescheidenen Mitteln lassen sich Erfolge erzielen, wenn man mit Hilfe von Multiplikatoren wie gemeinnützigen Verbänden und Bürgerinitiativen weite Teile der Bevölkerung mobilisiert und damit die Kräfteverhältnisse zu eigenen Gunsten verändert. In Frankreich zum Beispiel beteiligten sich an der Anti-MAI-Initiative so unterschiedliche Organisationen wie die Arbeitsloseninitiative AC!, die Bauernorganisation Confédération Paysanne, die Vereinigung Droits devant, die Gewerkschaften Syndicat National Unifié des Impôts und Féderation des Finances CGT sowie Oxfam und Dutzende anderer Organisationen, die zum Teil auch die Initiative Attac10 unterstützen. Solche Bündnisse könnten nicht nur Feuerwehraktionen gegen dieses oder jenes verheerende Projekt organisieren, sondern auch eigenständige Vorschläge ausarbeiten. Ähnliche Initiativen entstanden in Belgien, den Niederlanden, der Schweiz, den Vereinigten Staaten, Kanada und anderen Ländern.
Zur realen Möglichkeit wurde der globale Informationsaustausch und Widerstand gegen das MAI aber erst durch das Internet. Blitzschnell wurden die in der Diskussion befindlichen – und als vertraulich geltenden – Vertragstexte in englischer und französischer Sprache verbreitet.11 Kritische Gutachten und Analysen, die bei solch komplizierten Fachfragen unerläßlich sind, wurden grenzüberschreitend ausgetauscht und veröffentlicht. Diskussionsforen, Abklärung von Aktionsvorschlägen und die länderübergreifende Abstimmung des weiteren Vorgehens, die Beobachtung der Folgeprojekte des MAI – all diese Aktivitäten liefen über das Internet.
Bis vor kurzem konnten sich nur multinationale Unternehmen und einige größere Staaten ein weltweites Informationssystem leisten, um ihre Macht zu konsolidieren. Mit dem Internet ergeben sich nun auch neue Perspektiven für die Globalisierung des Widerstands. „Dies wird man künftig in Rechnung stellen müssen“, meinte der französische Wirtschafts-, Finanz- und Industrieminister Dominique Strauss-Kahn und fügte hinzu: „Nach dem MAI wird man nicht mehr auf dieselbe Weise verhandeln wie zuvor. Die Niederlage des MAI ist in gewisser Weise ein Sieg der Globalisierung.“12 Nur daß diese Globalisierung kaum etwas mit der gemein hat, die seit zehn Jahren von den multinationalen Unternehmen und zwischenstaatlichen Organisationen betrieben wird.
Doch Politik und Wirtschaft holen bereits zum Gegenschlag aus. Nachdem das MAI im Rahmen der OECD gestorben ist, lauert Dracula – oder seine geklonte Version – bereits an anderer Stelle. Bei der Welthandelsorganisation (WTO) beispielsweise könnte das Projekt, das dort vor vier Jahren gestartet wurde, bereits im nächsten Jahr erneut auf den Verhandlungstisch kommen, und zwar als eigenständige Initiative oder im Rahmen einer „Verhandlungsrunde zur Jahrtausendwende“. Und im Rahmen der Transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft (TWP), die eine transatlantische Freihandelszone anstrebt – die neueste Version eines alten, gegen Europa gerichteten Projektes – wird auf der Grundlage von Empfehlungen des „Transatlantic Business Dialogue“13 bereits jetzt intensiv über eine MAI-ähnliche Liberalisierung der Investitionen verhandelt. Das MAI sollte allen spekulativen Investoren und investierenden Spekulanten schlagartig den Zugriff auf sämtliche Reichtümer der Welt ermöglichen. Ohne den entschlossenen Widerstand der Bürger vieler Länder besteht nicht die geringste Aussicht, daß sich die multinationalen Unternehmen von diesem Vorhaben abbringen lassen.
dt. Bodo Schulze
* Observatoire de la Mondialisation.