14.05.1999

Wie Israel auf das Kosovo blickt

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Wie Israel auf das Kosovo blickt

„Die Tragödie des Kosovo hat schon einmal stattgefunden [in Palästina] und könnte sich hier erneut ereignen“1 , bemerkt einer der besten Journalisten Israels, Gidon Levy, der über die besetzten palästinensischen Gebiete arbeitet. In seinem Artikel erinnert er an die Vertreibung und die Auswanderung von etwa 700000 palästinensischen Arabern, die von einem Tag auf den anderen zu Flüchtlingen wurden. „Sie boten genau das gleiche Bild wie die Kosovo-Flüchtlinge. Es gibt keinen großen Unterschied zwischen der ethnischen Säuberung damals [in Palästina] und der heutigen im Kosovo, und die Ergebnisse sind identisch: seinerzeit wurden 419 Dörfer besetzt und zumeist dem Erdboden gleichgemacht. Seither leben Tausende Menschen in Flüchtlingslagern. Hier war das Kosovo, damals fehlten nur die Kameras“, schreibt er und wagt damit fast als einziger unter den israelischen Kommentatoren diesen Vergleich.

Israel befindet sich derzeit im Wahlkampf (vgl. dazu den Artikel von Dominique Vidal und Joseph Algazy auf den Seiten 4 und 5), und die Reaktionen der beiden großen politischen Lager auf die Nato-Bombardements lösen Erstaunen aus. Das (“linke“) Lager der Arbeitspartei sprach sich für die Bombardierung Jugoslawiens aus – die Meretz organisierte sogar eine Demonstration, um die Ausweisung des jugoslawischen Botschafters zu erwirken –, während die Stellungnahmen der Rechten zwischen Vorbehalten und offener Ablehnung schwanken.

Es kam sogar zum Skandal, als der israelische Außenminister, General Ariel Scharon, erklärte: „Israel darf die aggressive Intervention der Nato unter Führung der USA nicht legitimieren. (...) Das nächste Opfer einer Aktion im Stil der augenblicklichen Kosovo-Intervention könnte Israel selbst sein. (...) Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn die Araber in Galiläa eines Tages auf den Gedanken kämen, für dieses Gebiet Autonomie und Anbindung an die palästinensische Obrigkeit zu fordern!“2

Diese von General Scharon und anderen führenden Vertretern der nationalen Rechten geäußerte Kritik hat sicher nichts mit liberalem Gedankengut oder dem Einsatz für die Respektierung der Menschenrechte zu tun. Die führende Rolle Scharons beim Libanonkrieg 1982 und den Unterdrückungsaktionen im Gasastreifen Anfang der siebziger Jahre ist keineswegs in Vergessenheit geraten. Die Kritik gibt vor allem Aufschluß darüber, wie sehr Teile des rechten Lagers fürchten, daß die von ihnen angestrebte Vertreibung der Palästinenser (schamhaft „Transfer“ genannt) und die Fortsetzung der Besatzungspolitik im Westjordanland und im Gasastreifen den Westen zu ähnlichen Repressalien herausfordern könnte.

AMNON KAPELIUK

Fußnoten: 1 Ha'aretz, Tel Aviv, 4. April 1999. 2 Yedioth Aharonoth, Tel Aviv, 2. April 1999.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von AMNON KAPELIUK