14.05.1999

Sechs Jahrzehnte der „ethnischen Säuberung“

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Sechs Jahrzehnte der „ethnischen Säuberung“

Während des Zweiten Weltkriegs ermordeten die Nationalsozialisten Juden und Roma, aber auch Serben, Kroaten und Slowenen. An den Massakern im Gefolge des Zerfalls von Jugoslawien haben alle drei Volksgruppen Anteil – als Täter und als Opfer.

Von TOMMASO DI FRANCESCO und GIACOMO SCOTTI *

VON April bis Herbst wurden im Kosovo die Felder in Brand gesteckt und geplündert. Ich war damals im Kosovo. Die Brände und Plünderungen gingen bis Mitte Oktober; und ich werde nie vergessen, wie ich am 18. Oktober aus den Bergen des Ibar-Hochtals herunterkam und einen endlosen Elendszug von serbisch- montenegrinischen Flüchtlingen sah, die ihren geretteten Hausrat auf Karren oder auf dem Rücken mitschleppten...“

Diese Worte könnten von einem OSZE-Beobachter stammen, aber sie stehen in dem „Bericht über die jugoslawische Landwirtschaft“, den der italienische Agronom Giovanni Lorenzoni in den vierziger Jahren verfaßt hat.1 Das Zitat belegt, daß die „ethnischen Säuberungen“ auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien eine Geschichte haben. Wenn das Milosevic-Regime jetzt die Albaner aus dieser Region auf schändliche Weise zu einer tragischen Säuberungsmigration zwingt, ist dies in den Augen vieler Serben eine Vergeltung sowohl für die Bombardierung Serbiens durch die Nato als auch für die „Säuberungen“, deren Opfer sie in der Vergangenheit selber waren.

Während des Zweiten Weltkriegs teilten die nazistischen und faschistischen Besatzer Jugoslawien auf. Sie schufen Satellitenstaaten mit faschistischen Diktatoren (Ante Pavelic in Kroatien und Milan Nedic in Serbien); die übrigen Gebiete wurden annektiert2 : Italien erwarb Montenegro als Protektorat und ein Stück Sloweniens, die meisten dalmatinischen Inseln und einen Teil der kroatischen Küste, insgesamt 4550 Quadratkilometer und 336000 Einwohner. Das Dritte Reich schluckte den Hauptteil Sloweniens, insgesamt 10261 Quadratkilometer und 798000 Einwohner. Ungarn annektierte ein weiteres Stück von Slowenien und den Großteil der Vojvodina. Bulgarien nahm sich fast ganz Makedonien; Kosovo und Westmakedonien wurden „Großalbanien“ zugeschlagen, das unter der Kontrolle Italiens stand.

Alle annektierten Gebiete wurden mit terroristischen Methoden germanisiert, italianisiert, ungarisiert oder bulgarisiert. Deutschland deportierte Hunderttausende Slowenen nach Serbien oder in die Konzentrationslager. Zehntausende Slowenen und Kroaten, größtenteils Intellektuelle, kamen als Gefangene nach Italien; mindestens zehntausend von ihnen starben durch Hunger, Krankheit oder Folter. Tausende wurden in den annektierten Gebieten erschossen. Einer Anweisung Mussolinis folgend, gab General Mario Robotti im Juni 1942 den Befehl: „Ich werde mich nicht dagegen sperren, daß alle Slowenen interniert und durch Italiener ersetzt werden. (...) Es ist unser Ziel, daß die politischen und ethnischen Grenzen zusammenfallen.“

Im Kroatien der Ustascha, quasi eine deutsche Kolonie, wurde die rassische „Säuberung“ systematisch durchgeführt. Es gab entsetzliche Massaker in den Regionen mit serbischer Mehrheit und eine systematische Vernichtung der Überlebenden. In den Lagern von Slano (Pago), Jadovno, Stara Gradiska, Jasenovac starben mindestens 600000 Serben, Juden, Roma und kroatische Antifaschisten.3

Auch in Serbien richteten die deutschen Besatzer und deren lokale Quislinge Vernichtungslager ein. Im Lager Sadmiste ermordeten die Nazis zwischen Ende 1941 und Frühjahr 1942 etwa 7500 Juden und 600 Roma, aber auch Häftlinge anderer Nationalitäten – insgesamt 47000 Menschen. Im Lager Bandica gab es 80000 Opfer. Zigtausend Internierte wurden nach Auschwitz, Buchenwald, Dachau usw. deportiert, wo fast alle umkamen. In Smederevska Palanka gab es ab 1942 sogar ein Lager für Kinder.

Nach den 1964 veröffentlichten endgültigen Daten fielen der „ethnischen Säuberung“ durch die Achsenmächte und deren Kollaborateure während der Besetzung Jugoslawiens über eine Million Menschen zum Opfer.

Im Kosovo

Die meisten Einwohner serbischer und montenegrinischer Herkunft wurden zwischen April 1941 und Oktober 1944 von den faschistischen kosovo-albanischen Milizen umgebracht. Diese „Bali Kombhtar“ hatten zunächst im Gefolge der Eroberung durch italienische Truppen im (auf Westmakedonien ausgedehnten) „Großalbanien“ mit den faschistischen Schwarzhemden kollaboriert. Als Mitte September 1943 die deutsche Besetzung die italienische ablöste, stellten sie sich in den Dienst der deutschen SS. Unter beiden Regimen begingen sie schreckliche Massaker an den Serben.

Mit dem Sieg von Titos Partisanen stellte die Volksrepublik Serbien ihre Souveränität im Kosovo wieder her. Doch die vertriebenen Serben wurden nicht zur Rückkehr ermutigt. Die Widerstandsbewegung wollte die Kosovaren für ihre Sache gewinnen und leitete eine Zwangsmobilisierung junger Kosovo-Albaner ein, die sie 1944/45 gegen die Deutschen einsetzten. Um die jungen Albaner zu rekrutieren, waren alle Mittel recht, auch Erschießungen, die 1945 auf dem 1. Kongreß der serbischen Kommunistischen Partei angeprangert wurden.

Trotz dieser Selbstkritik kam es in den ersten Nachkriegsjahren zu einer blutigen Repression gegen die Albaner. Geleitet wurde sie von Innenminister Aleksandar Rankovic, den Tito später aus dem Politbüro entfernte. Die in der Verfassung von 1974 zugestandene Autonomie verschaffte den Albanern des Kosovo eine echte politische, kulturelle und gesellschaftliche Hegemonie, so daß sich ab 1980 die Serben im Kosovo gegen ihre „Unterordnung“ aufzulehnen begannen. Die Zusammenstöße mit den Albanern nahmen zu. Die Spirale der Gewalt zwischen den Nationalismen führte – nach lokalen Revolten, Kampagnen gegen die „ethnischen Vergewaltigungen“ serbischer Frauen, terroristischen Attentaten und blutiger Repression – 1989 zur Ausrufung des Notstands und zur Aufhebung der Autonomie. Damit waren die Voraussetzungen für die jetzige Tragödie geschaffen.

In den letzten zehn Jahren mußten rund 400000 Einwohner des Kosovo die Region verlassen. Die meisten flohen vor der Armut, aber auch vor der wechelseitigen Rache der beiden Lager und dem bleiernen Druck von Milosevic' Militärkontrolle. Albaner und Türken, aber auch Serben (die 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen) emigrierten. Die ständige Bedrängung durch die Albaner und seit drei Jahren durch die Gewalttaten der Kosovo- Befreiungsarmee (UÇK) hat bewirkt, daß über 10000 serbische Bauern ihr Land verkauft und die Region verlassen haben.

Istrien und die Vojvodina

Zwei andere pluriethnische Regionen haben in der unmittelbaren Nachkriegszeit ebenfalls eine „Säuberung“ erlebt: Istrien und die Vojvodina. Auch dort war für die Vertreibung der „unerwünschten“ nichtslawischen Bevölkerung der allmächtige jugoslawische Innenminister verantwortlich: Rankovic beschuldigte die Minderheiten der Kollaboration mit dem Feind. Viele Deutsche in der Voijvodina, zumeist Großgrundbesitzer in der Backa, hatten tatsächlich während der Besatzungszeit den Nazi-Milizen angehört: 100000 von ihnen – fast alle – wurden enteignet und vertrieben, ihre Ländereien ehemaligen Frontkämpfern zugeteilt, die aus rückständigeren und unfruchtbareren Landesteilen kamen.

In Istrien und in der Kvarner-Bucht wollten viele Bewohner nicht unter dem neuen Regime leben. Sie waren bereits in den ersten Nachkriegsjahren von Leuten attackiert worden, die aus anderen Regionen Jugoslawiens stammten und mit dem Widerstand oft gar nichts zu tun gehabt hatten. Zwischen Juni 1945 und Ende 1947 gingen 180000 Italiener über die Grenze. Hinzu kamen rund 100000 Menschen, auch ehemalige Partisanen und Antifaschisten, die nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin (1948/49) und wegen der „Triest-Krise“4 ihr Heim verließen. Heute gibt es im ehemaligen Jugoslawien nur noch knapp 1000 Deutsche und rund 40000 Italiener.

Bevor wir zu der viel bekannteren jüngsten „ethnischen Säuberung“ in Kroatien und Bosnien-Herzegowina kommen, ist daran zu erinnern, daß ein Jahrzehnt der Aufstachelung zum Haß vorausging, geschürt von den nationalistischen Führern, die nach Titos Tod in Zagreb, Belgrad und Sarajevo an die Macht gelangt waren. Die meisten Medien predigten die Trennung der Ethnien, auch durch Gewalt.

Die Lika und der „Sturm“

In Kroatien wurde mit dem Wiederauftreten der Ustascha mehr oder weniger überall die Jagd auf die Serben eröffnet. Diese reagierten entsprechend: Aus den Gebieten, wo sie in der Mehrheit waren und seit Jahrhunderten lebten – Slawonien, Kordun, Banovina, Lika – vertrieben sie an die 80000 Kroaten. Der Gegenschlag erfolgte im Mai und August 1995. Mit Billigung der Vereinigten Staaten und Unterstützung durch die Nato startete die Armee des kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman die Operationen „Blitzschlag“ in Westslawonien5 und „Sturm“ in der Krajina mit der Hauptstadt Knin. Diese beiden Operationen endeten mit der Rückeroberung dieser Region und der Vertreibung von 360000 Serben.6 Weitere zigtausend Serben wurden zur Flucht aus anderen Städten und Regionen Kroatiens gezwungen. Erst kürzlich hat Tudjman damit geprahlt, den Anteil von Serben in seinem Land von 12 Prozent im Jahr 1991 auf heute 2 oder 3 Prozent reduziert zu haben.7

Die einzige Region, in der die Serben in der Mehrheit geblieben sind, ist Ostslawonien. Zunächst unter UNO-Verwaltung, wurde sie im Juli 1997 wieder unter kroatische Oberhoheit gestellt. Seitdem findet auch dort eine „ethnische Säuberung“ statt, aber heimlich und in aller Stille. Durch politischen Druck in Verbindung mit kriminellen Anschlägen von „unbekannten“ Tätern werden die Serben von Haus und Hof verdrängt. Ihre Zahl hat sich bereits um die Hälfte reduziert.

Bosnien

In Bosnien-Herzegowina wurde umfassend und radikal „ethnisch gesäubert“. Nicht einmal eine Million der vier Millionen Einwohner (vor dem Krieg waren es fünf Millionen) leben heute noch dort, wo sie geboren sind. Die Kroaten haben „ihre“ Herzegowina durch Vertreibung von Serben und Muslimen gesäubert. Die gleiche Operation hat in bestimmten Regionen Zentralbosniens und in der bosnischen Posavina stattgefunden. Die Muslime verjagten Serben und Kroaten aus Sarajevo (80000 bis 100000 von ihnen flohen im März 1996 nach den Luftschlägen der Nato gegen die Truppen der bosnisch-serbischen Belagerer aus der Stadt), aber auch aus anderen Regionen, die auf dem Territorium der Föderation mit Waffengewalt erobert wurden. Die Serben ihrerseits haben sich in ihrer Republika Srpska der Muslime und der Kroaten entledigt. Die häufigste Form der physischen bzw. psychischen Gewaltanwendung bei den brutalen, wechselseitigen „ethnischen Säuberungen“ sind die barbarischen Mißhandlungen in den Gefangenenlagern, sowohl der Kroaten als auch der Serben. Berüchtigt ist vor allem das Lager von Omarska wegen der Vergewaltigungen von Frauen. Die Muslime mißhandelten ihre Opfer ebenso grausam, wenn auch in geringerem Ausmaß, vor allem in Tarcin und Celebici. Außerdem „säuberten“ sie sogar innerhalb ihrer eigenen Ethnie und verjagten die „rebellischen“ Religionsgenossen aus der „Republik“ des zweifelhaften Geschäftsmannes Fikret Abdic.

Insgesamt gibt es in ganz Bosnien derzeit mindestens zwei Millionen Flüchtlinge. Einige leben im Ausland, andere in Bosnien-Herzegowina, andere schließlich in anderen Republiken des ehemaligen Jugoslawien – allein Serbien hat über 700000 aufgenommen. Jeder oder fast jeder von ihnen weiß, daß kaum Aussicht besteht, in seine Heimat zurückzukehren. Alle oder fast alle sind zum Exil verdammt, und das für immer.

Die Balkankriege bringen nicht nur Sieger hervor, sondern auch und vor allem Haß und Rachegefühle. Solange Gewalt als „Lösung“ erscheint, sind Greueltaten und „ethnische Säuberungen“ eine Vergangenheit, die nicht vergeht.

dt. Sigrid Vagt

* Leiter des Auslandsressorts bei der Tageszeitung il manifesto, Rom; Geschichtswissenschaftler mit Schwerpunkt Balkan, lebt in Kroatien.

Fußnoten: 1 Marco Dogo, „Kosovo“, Lungro di Cosenza (Marco ed.) 1992. 2 „L'occupazione nazifascista in Europa“, hrg. v. Enzo Collotti, Rom (Editori Riuniti) 1964. 3 Bericht des Unterstaatssekretärs der Vereinigten Staaten, Stuart Eizenstat, „US and Allied Wartime and Postwar Relations and Negociations with Argentina, Portugal, Spain, Sweden and Turkey on Looted Gold and Germany External Assets and US Concern about the Fate of the Wartime Ustacha Treasury“, hrg. v. William Slany, Washington D.C., Juni 1998; vgl. auch Walter Manoschek, „Serbien ist judenfrei. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42“, München, Oldenbourg 1993. 4 Seit der Befreiung stand die Stadt unter einer alliierten Militärverwaltung. Nach deren Aufhebung traten die Alliierten Triest einseitig an Italien ab und provozierten damit starke Spannungen mit Belgrad: Rom stellte sogar Militärdivisionen an der jugoslawischen Grenze auf. Und die Angst vor einem Krieg trieb viele Einwohner in die Flucht. 5 Die Bombardements verschonten nicht einmal das ehemalige Vernichtungslager Jasenovac. 6 Giacomo Scotti, „L'operazione Tempesta“, Rom (Gamberetti Editore) 1996. 7 Rede Präsident Tudjmans an die Nation im kroatischen Parlament im Januar 1999.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von TOMMASO DI FRANCESCO und GIACOMO SCOTTI