14.05.1999

Spannungsherd für Jahrzehnte

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Spannungsherd für Jahrzehnte

Die Bombardierung Jugoslawiens und der Exodus der Kosovo-Albaner destabilisieren auch die Nachbarstaaten. In Albanien befürchtet man ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges. In Bosnien sind die Nationalisten versucht, die in Dayton erzielte Waffenruhe zu brechen. Montenegro fürchtet um die noch fragilen demokratischen Errungenschaften. Und Makedonien ist sogar in seiner Existenz bedroht.

Von JEAN-ARNAULT DÉRENS *

(http://www.bok.net.balkans).

AUF den Landstraßen, die sich im Norden Albaniens durch die Berge schlängeln, stauen sich Autos, Traktoren und Lastwagen der albanischen Armee, die Flüchtlinge aus dem Kosovo nach Tirana oder in die Küstenstädte transportieren. Der Präfekt von Kukes spricht von 160000 Menschen, die mittlerweile in dem Bergstädtchen, das nur fünfzehn Kilometer von der jugoslawischen Grenze entfernt liegt, gestrandet sind. Überall auf den Straßen schlafen Menschen, die freien Flächen um die heruntergekommenen Wohnsilos sind bis auf den letzten Quadratmeter von Zelten belegt.

Die einzige Straße nach Kukes wird am hellichten Tage von Kämpfern der UÇK patroulliert; überall in der Gegend gibt es Ausbildungslager. Viele junge Männer, die von der jugoslawischen Armee vertrieben wurden, schließen sich der UÇK an, um möglichst rasch wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. „Die ethnischen Säuberungen sind das größte ,Glück', das die Serben der UÇK bescheren konnten“, formuliert es ein Flüchtling.

Am 20. April beschuldigte der albanische Außenminister die jugoslawischen Behörden, sie würden den Strom der Flüchtlinge bewußt manipulieren, damit die Spannungen zunehmen: „Wenn die Serben die Grenzen öffnen, tun sie das, um die Nachbarregionen zu destabilisieren. Wenn man in Belgrad dagegen Druck auf die internationale Gemeinschaft ausüben will, schließt man die Grenzen, um die Welt über das Schicksal der Kosovo- Albaner im Ungewissen zu lassen.“ Nordalbanien diente der UÇK schon früher als wichtigste rückwärtige Basis: Von Tropoje aus wurden Kämpfer und Waffen über die grüne Grenze in den Kosovo geschafft. Die Untergrundarmee der Kosovaren unterhielt stets ihre eigenen Passierwege durch das verminte Grenzgebiet. Schon mehrmals nutzten die jugoslawischen Streitkräfte die Präsenz der UÇK als Vorwand, um das albanische Landesinnere zu bombardieren oder gar über die Grenze vorzudringen.

Der Norden Albaniens ist zudem die Hochburg des ehemaligen albanischen Präsidenten Sali Berisha, der in der Kosovofrage ein nationalistischer Scharfmacher ist. Die Häuser seines in Tropoje ansässigen Clans liegen nur einige hundert Meter von der Grenze entfernt. Hier verflucht man die Regierung Pandeli Maikos und die regierenden Sozialisten, die „sich an die Griechen verkauft haben“. Die Kluft zwischen Gegen (die in Nordalbanien, im Kosovo, in Makedonien und Montenegro siedeln) und Tosken (die Südalbanien bewohnen oder aus Griechenland stammen) hat sprachliche und kulturelle wie auch politische Hintergründe. Berisha und seine Anhänger sind Gegen, während die Sozialisten fast ausnahmslos Tosken sind; aber erst die politischen Rivalitäten haben die ethnische Differenz zwischen Gegen und Tosken zu einer potentiellen Bruchlinie werden lassen.

Der in der Machtsphäre vorherrschende Klientelismus führt dazu, daß in Albanien permanent ein latentes Kriegsklima herrscht. Gleichwohl hält sich Berisha in jüngster Zeit, seit Beginn der Bombardierungen, relativ zurück. Die starke Präsenz der internationalen Gemeinschaft hat die Lage in Albanien stabilisiert, aber durch den Kosovokrieg ist das mühsam hergestellte interne Gleichgewicht bedroht, zumal plötzlich ganz automatisch wieder die Frage des nationalen Zusammenschlusses aller Albaner des Balkans auf der Tagesordnung steht.

Auch Makedonien wird durch die Flüchtlingskrise vor eine harte Belastungsprobe gestellt; dort machte die albanische Bevölkerung vor der Ankunft der Vertriebenen aus dem Kosovo über 30 Prozent der Bevölkerung aus,1 die auch noch überwiegend im Westen nahe der Grenze zu Albanien siedeln. Die Albaner Makedoniens wollen bei der Herausbildung eines unabhängigen Kosovo nicht als Ladenhüter im Regal bleiben, und das hat zwangsläufig zur Folge, daß die Forderung nach einer albanischen Vereinigung bei ihnen große Resonanz findet. Doch die Beteiligung von Arben Xaferis Albanischer Demokratischer Partei Makedoniens (PdSh) an der Regierung in Skopje hat seit dem Herbst 1998 für eine deutliche Beruhigung gesorgt. Die PdSh ist bereit, die Realität des Staates Makedonien zu akzeptieren, vorausgesetzt, dieser erkennt die verfassungsmäßige Existenz einer albanischen Volksgruppe an und garantiert dieser ihre sprachlichen und kulturellen Rechte. Die UÇK dagegen wird vom makedonischen Innenminister beschuldigt, Rückzugsbasen auf makedonischem Territorium zu etablieren, um das Land in den Konflikt hineinzuziehen.

IN Makedonien wie in Albanien können die Präsenz von Nato-Einheiten und die internationalen Hilfslieferungen die Situation entschärfen. Nicht so in Montenegro. Diese kleine Republik mit ihren 650000 Einwohnern ist Teil des 1992 gegründeten Bundesstaates Jugoslawien und empfindet es als ungerecht, daß auch sie von den Bombardierungen betroffen ist, obwohl das Land seit zwei Jahren einen Weg der Demokratisierung eingeschlagen hat und im Begriff ist, sich schrittweise von Belgrad zu lösen.

Auch Montenegro ist von den Flüchtlingsströmen betroffen. Nachdem schon 30000 Kosovaren nach der serbischen Offensive von 1998 nach Montenegro geflohen waren, sind jetzt weitere 40000 Menschen dazugekommen. Im Unterschied zu Serbien wurde in Montenegro kein Kriegszustand ausgerufen, doch droht dem Land, in dem faktisch zwei Machtzentren nebeneinander existieren, nunmehr ein Bürgerkrieg. Zwar kontrolliert die demokratische Regierung Milo Djukanovic' die Polizei und deren Spezialeinheiten, doch die Macht der Militärpolizei macht sich allenthalben bemerkbar. Sie ist in Montenegro mit nicht weniger als 15000 Mann präsent und untersteht der direkten und alleinigen Befehlsgewalt der Zweiten jugoslawischen Armee.

Diese Armee fordert von der Regierung die Einführung der Pressezensur und vor allem die Unterstellung der Polizei unter ihre eigene Befehlsgewalt. Damit steuert sie auf eine umfassende Konfrontation mit der montenegrinischen Regierung zu. Hauptkonfliktpunkte sind dabei die Rekrutierung zur jugoslawischen Armee und die Frage, wem die Polizei unterstehen soll. Am 12. April geriet die Militärpolizei mit der Sonderpolizei aneinander, als erstere versuchten, in Bioce (nahe der Hauptstadt Podgorica) und in Cetinje (einer traditionellen Hochburg der montenegrinischen Unabhängigkeitskämpfer) junge Leute zum Militärdienst einzuziehen. Viele potentielle Reservisten aus Podgorica schlafen aus Angst nicht mehr zu Hause. Erfolg hat die Mobilisierung aber nur in jenen Gemeinden, in denen die Bevölkerung zu dem ehemaligen Präsidenten der Republik Montenegro und heutigen Ministerpräsident Jugoslawiens, Momir Bulatovic, steht, der ein treuer Vasall von Milosevic ist. Zwischen Polizei und Militär hat sich ein Wettlauf um die Reservisten entwickelt, mit deren Rekrutierung beide Machtzentren ihren Einflußbereich ausloten wollen. Viele Montenegriner machen sich große Sorgen: „Ein Bürgerkrieg wäre buchstäblich ein Bruderkrieg; die Kämpfe würden sich unmittelbar in den Familien abspielen.“

Besonders kritisch ist die Lage im Sandschak. Die beiderseits der serbisch- montenegrinischen Grenze gelegene Region hat eine slawisch-muslimische Bevölkerungsmehrheit. Mehrere zehntausend Muslime aus dem serbischen Sandschak sind bereits nach Bosnien-Herzegowina geflüchtet, und die Städte im montenegrinischen Teil des Sandschak sind völlig von serbisch-jugoslawischen Streitkräften umzingelt. Die 20000 Einwohner der weitgehend muslimischen Stadt Rozaje unweit der Grenze zum Kosovo haben Zehntausende albanischer Flüchtlinge aufgenommen.

Die serbische Polizei hat die Grenze verletzt und Rozaje umzingelt, und die Präsenz jugoslawischer Streitkräfte hat bedrohliche Dimensionen erreicht. Um in den Süden Montenegros weiterzuziehen, müßten die Flüchtlinge das Gebiet der Gemeinden Mojkovac und Kolasin durchqueren, deren Bewohner glühende Bulatovic-Anhänger sind. Eine Lehrerin erklärt auf französisch, was viele Einwohner von Rozaje befürchten: „Wenn in Montenegro ein Bürgerkrieg ausbricht, werden wir das gleiche Schicksal erleiden wie die Einwohner von Gorazde und Srebenica in Bosnien.“

Die Bulatovic-Anhänger verschärfen ständig ihre Provokationen, um das Land in den Bürgerkrieg zu stürzen und dem jugoslawischen Militär einen Vorwand für eine Intervention zu liefern. Die Armeeführung und Milosevic verfolgen den Plan, die Nato-Bomben auf Montenegro zu lenken. Das Dilemma für die Nato ist offensichtlich: Wenn sie das Land nicht bombardiert und beispielsweise die Treibstofflager im Hafen von Bar ausspart, wird Montenegro zum Refugium für die jugoslawische Armee. Es geht also um die Alternative, entweder den Krieg gegen Jugoslawien bis zum äußersten fortzusetzen, damit aber die weitere allgemeine Destabilisierung der Region in Kauf zu nehmen, oder auf die Suche nach einer politischen Lösung zu setzen, bei der Milo Djukanovic eine bedeutende Rolle spielen könnte.

Für Serbien gibt es nur zwei mögliche Auswege: die Flucht nach vorne in den Krieg fortzusetzen oder das Kosovo zu verlieren. Die grausamen Gewalttaten der „ethnischen Säuberungen“ durch das Militär machen alle Aussichten auf eine zukünftige Autonomie im Rahmen einer jugoslawischen Föderation hinfällig. Die internationale Gemeinschaft stellt sich immer eindeutiger hinter das Konzept eines unabhängigen Kosovo, während Serbien, das bereits vor den jetzigen Bombardierungen aufgrund der Kriegshandlungen der letzten zehn Jahre verwüstet und isoliert war, sich endgültig isoliert finden wird. Es sei denn, es kann sich durch den Anschluß der serbischen Teilrepublik von Bosnien-Herzegowina stärken.

Das Dayton-Abkommen vom Herbst 1995 garantiert die Unverletzlichkeit der Grenzen für die Republiken, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind. Mit welchem Argument soll man, wenn man dem Kosovo die Unabhängigkeit zugesteht, die bosnischen Serben davon abhalten, sich dem serbischen „Mutterland“ anzuschließen? Wiewohl General Manojlo Milovanovic, der Verteidigungsminister der Republika Srpska, die Verbindungen zwischen den jugoslawischen Streitkräften und der von ihm befehligten Armee herunterspielt, wird letztere bereits vielfach als „Vierte jugoslawische Armee“ bezeichnet.

Noch stärker als in Albanien oder Makedonien hat die Nato in Bosnien mit Hilfe ihrer 40000 Mann starken SFOR- Truppen die Dinge unter Kontrolle. Aber die Bombardierungen sind nicht nur ungeeignet, die Stabilität der Region zu erhöhen, sie treiben im Gegenteil die Widersprüche derart auf die Spitze, daß am Ende die Errichtung eines internationalen Protektorats stehen wird. Ein solches Protektorat aber würde sich über die gesamte Balkanregion erstrecken müssen.

Eine offene Sezession der Republika Srpska von der Republik Bosnien-Herzegowina würde sich zwar mit militärischen Mitteln verhindern lassen, doch das fragile Vertragsgerüst von Dayton bliebe dabei auf der Strecke. Die Europäische Entwicklungsbank plant bereits, in großem Maßstab Kredite für den Wiederaufbau der Volkswirtschaften in der Balkanregion zur Verfügung zu stellen. Doch angesichts des Kriegsgeschehens, der um sich greifenden politischen Instabilität und der Massen von herumirrenden Flüchtlingen und Vertriebenen wird die Balkanhalbinsel immer mehr zum Katastrophengebiet. Und das gilt nach wie vor am krassesten für Serbien. „Sehen Sie sich dieses Land an“, ereifert sich ein Reservist aus Montenegro, der gegen seinen Willen zum Militär eingezogen wurde. „Früher war es reich, jetzt machen die Bombardierungen die Zerstörung komplett, die in den letzten zehn Jahren durch Krieg, Krisen und Isolierung vorangetrieben wurde. Milosevic sollte von seinem Volk dafür verurteilt werden, daß er es in den Ruin geführt hat, aber auch die internationale Gemeinschaft hat einen Teil der Verantwortung.“ Wie immer der Krieg ausgehen mag: Danach braucht Serbien eine massive internationale Unterstützung, die nur mit der Hilfe vergleichbar ist, die die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 erhalten hat. Darüber hinaus bedarf es einer entschiedenen Unterstützung der demokratischen Kräfte, die unter sehr schwierigen Bedingungen die kleine Flamme eines mutigen Widerstandes vor dem völligen Erlöschen bewahrt haben. Geschieht das nicht, wird uns im Herzen des Balkans – und Europas – auf lange Zeit ein Herd der Instabilität und der Spannungen erhalten bleiben.

dt. Marie Luise Knott

*Journalist, Cetinje, Chefredakteur des Courrier des Balkans

Fußnote: 1 Nach dem offiziellen Zensus, der 1994 unter internationaler Aufsicht stattfand, beträgt der Anteil der Albaner an der Gesamtbevölkerung nur 22,9 Prozent. Dabei wurden allerdings nur die Albaner erfaßt, die schon zehn Jahre lang in Makedonien leben. Damit wurden diejenigen Kosovo-Albaner nicht mitgezählt, die seit der Aufhebung der Autonomie des Kosovo nach Makedonien zugewandert sind. Es gibt also eine Differenz zwischen albanischen Staatsbürgern Makedoniens und der albanischen Wohnbevölkerung in Makedonien. Letztere soll nach albanischen Angaben schon vor der jüngsten Flüchtlingswelle über 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausgemacht haben.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von JEAN-ARNAULT DÉRENS