Explosion oder Konföderation
Vieles deutet darauf hin, daß sich im Gefolge des Kosovo-Dramas eine völlige Neugliederung des Balkans vollzieht. Mit dem Aufleben des Nationalismus haben sich die Konflikte wie ein Schwelbrand ausgebreitet. Werden die bisherigen Grenzen bestehen bleiben, oder soll die Ethnie im Namen des Selbstbestimmungsrechts zum entscheidenden Gliederungsprinzip der Staaten werden?
Von CATHERINE SAMARY *
DIE gesamte Lösung [der Jugoslawienkrise] seit 1991 basiert auf dem Prinzip der Unantastbarkeit der Grenzen“, erläutert Jiri Dienstbier, Sonderberichterstatter der UNO für das ehemalige Jugoslawien.1 „Wird dieses Prinzip im Kosovo durchbrochen, ist die gesamte Lösung in Frage gestellt.“ Der ehemalige tschechische Außenminister schloß mit der Bemerkung: „Wenn das Kosovo die Unabhängigkeit erhält, ist meiner Ansicht nach der Weg zu einer Teilung Bosniens unaufhaltsam.“
Obwohl der Konflikt explosive Züge trägt und obwohl man befürchtete, daß die Unabhängigkeit des Kosovo die Lage in Albanien, Makedonien und Bosnien-Herzegowina destabilisieren könnte, wurde keiner dieser Staaten in den Lösungsprozeß einbezogen. In Dayton hatte man die albanische Frage und mit ihr die Frage der Serben in der kroatischen Krajina unter den Tisch fallen lassen. Im Namen der Realpolitik war man über den passiven Widerstand der albanischen Volksgruppe gegen die Herrschaft Belgrads stillschweigend hinweggegangen, so wie man im Sommer 1995 über die „ethnischen Säuberungen“ der über 300000 Serben in Kroatien hinweggesehen hatte.
Auf diesem Weg also wollte man das als „Lösung“ der Jugoslawienkrise präsentierte „Prinzip Unantastbarkeit“ durchsetzen. De facto wurden nach und nach verschiedene Grenzen als „unantastbar“ festgelegt, ohne daß die angewandten Kriterien je offen formuliert worden wären. Das von Jiri Dienstbier genannte Datum 1991 entspricht dem Jahr der Loslösung der slowenischen und der kroatischen Republiken. Seither verstand man unter „unantastbaren“ Grenzen also nicht mehr jene des ehemaligen Jugoslawien, sondern die der einzelnen Republiken. Warum dann nicht auch die Grenzen der Provinzen und insbesondere des Kosovo, fragen legitimerweise die Kosovo-Albaner.
Separatisten sind immer nur die anderen
DAS „Prinzip“ der Unantastbarkeit der Grenzen geriet in Konflikt mit jenem des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Nichts aber ist mehr dazu angetan, eine Minderheit in ein seiner selbst bewußtes „Volk“ umzuwandeln, als ihre politische Unterdrückung. Deshalb mußten sich die Antworten auf die jugoslawische und die albanische nationale Frage im Zuge der Ereignisse verändern.
Der Bruch zwischen Stalin und Tito hatte das Projekt einer Balkanföderation erledigt. Dabei hätte dieses Projekt einen völlig anderen Rahmen zur Lösung der Kosovofrage geboten: Die Provinz hätte Beziehungen sowohl zu Serbien als auch zu Albanien unterhalten können. Obwohl sich die albanischsprachige Bevölkerung des Kosovo bis Mitte der sechziger Jahre Belgrad unterordnen mußte, wurde mit der späteren Entwicklung die Tür wieder einen Spaltbreit geöffnet. Mehr allerdings nicht, denn in der serbischen Verfassung von 1974 wurde den Kosovo-Albanern der Status eines Volks (narod) vorenthalten, der die Bildung einer eigenen Republik und das Recht auf Selbstbestimmung bedeutet hätte.2 Dagegen hätte man mit dem seit 1968 geforderten Status einer Republik eine tatsächliche Rechtsgleichheit und die Würde aller Völker der Region anerkannt. Und da Enver Hoxhas Albanien keine Alternative bot, wäre das Kosovo dem jugoslawischen Bundesstaat eher näher gerückt.3 Mit dem Scheitern von Titos Jugoslawien4 und der damit einhergehenden sozioökonomischen, politischen und moralischen Krise des Vielvölkerstaates war plötzlich eine völlig neue Lage entstanden. Die bürokratische Konföderalisierung bedeutete die Verwandlung der ethnisch-kulturellen „Nationen“ in wirtschaftliche und politische Mächte.5
Die Krise gab alten wie neuen, rechten wie „linken“ Nationalismen neuen Auftrieb und forcierte die Pläne zur Errichtung von Staaten auf ethnisch-nationaler Grundlage. „Die da oben“ machten sich im Namen der Nation an die Aneignung von Territorien und Reichtümern und beriefen sich dabei entweder auf die Geschichte, das Recht des Zuerstgekommenen, oder das Kriterium der Mehrheit bzw. der lebensfähigen territorialen Einheiten. Dieselben Kriterien lehnte man selbstredend ab, wenn sich „die anderen“ darauf beriefen. Letztendlich bemühten sich alle, die orientierungslose Bevölkerung6 auf der Grundlage ethnischer Kriterien zu vereinheitlichen, wenn nötig auch mit physischem und rechtlichem Terror.
Mehr noch als der Haß war es die Angst der verunsicherten „kleinen Leute“, die dem Nationalismus eine Massenbasis verschaffte. Denn alle haben Angst, ihre Arbeit, ihre Wohnung, ihr Stück Land, ihre Rechte, ihre Identität, ja sogar ihr Leben zu verlieren, wenn sie sich nicht innerhalb der „richtigen“ Grenzen befinden und hinter die „gute“ Staatsmacht stellen.
Das Ziel des Bosnienkrieges war es, die Bevölkerung massenweise zu vertreiben, um eine territoriale Neuordnung zu erreichen.7 Im Zuge dieser Umwälzungen spielte die hinter den Kulissen getroffene Vereinbarung zwischen der serbischen und der kroatischen Führung eine entscheidende Rolle.8 Der Plan zur ethnischen Zerstückelung Bosniens, der in einen blutigen Krieg mündete, war in Zagreb und in Belgrad ausgearbeitet worden und erinnerte stark an den Teilungsplan, der dem serbisch-kroatischen Abkommen von 1939 zugrunde lag.
Auch das Dayton-Abkommen vom Dezember 1995 basierte zum Teil auf einem Kompromiß zwischen Slobodan Milosevic und seinem kroatischen Amtskollegen Franjo Tudjman. Überschattet durch die Ereignisse in Vukovar und Srebrenica, wurden die Krajina-Serben auf dem Altar des Traums von einer Republik Kroatien geopfert, in der heute nur noch 5 Prozent Serben leben, während es 1991 noch 12 Prozent waren. Ein ähnliches Opfer wurde der albanischen Bevölkerung im Kosovo abgefordert, wo der Provinzstatus in Frage gestellt, die Verwaltung und der öffentliche Dienst nach ethnischen Richtlinien gesäubert und die Privilegien der albanischen Bürokratie auf die serbischen Machthaber übertragen wurden.
Wer die Politik der ethnischen Säuberungen und die vielen Kriegstoten allein der serbischen Regierung anlastet und so die Bomben gegen Belgrad rechtfertigt, muß auf einem Auge blind sein und einen Teil der Geschichte ausklammern. Zudem beraubt er sich der Möglichkeit, auch von der serbischen Bevölkerung gehört zu werden, was für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sein wird. Eine solche Position stützt im übrigen die kroatische Regierung und Armee, die nicht nur einen zutiefst destabilisierenden Faktor in der kroatisch-muslimischen Föderation darstellt, sondern auch ein Haupthindernis für den gemeinsamen Wiederaufbau des Balkanraumes.9
Milosevic hat alle Register gezogen, um an der Macht zu bleiben. Im Gegensatz zu Tudjman setzte er dabei nicht nur auf den serbischen Nationalismus, sondern auch – in einer geschrumpften Föderation, wo 40 Prozent der Bevölkerung Nichtserben sind – auf das Jugoslawentum. Daß es sich dabei um eine Form von gebieterischem und zerstörerischem Serboslawismus seitens des ehemaligen Jugoslawien handelt, ist unbestritten. Aber diese Ideologie läßt sich pragmatisch der jeweiligen Situation anpassen. Vor dem Bombardement durch die Nato war die serbisch-montenegrinische Gesellschaft Jugoslawiens weit davon entfernt, geschlossen hinter einer faschistischen Ideologie zu stehen.10 Die Behauptung, es sei alles versucht worden, war und ist falsch. Selbst in der Kosovofrage bestand noch ein beträchtlicher Spielraum, mit dem man die Zerstückelung nach ethnischen Kritieren hätte verhindern können.
Der Versuch Belgrads, Serben in der wieder kontrollierten Provinz anzusiedeln, war gescheitert. Das hatte den Weg zu den ersten Verhandlungen mit Ibrahim Rugova freigemacht, die in den vergangenen Monaten stattfanden. Diese Geheimverhandlungen hatten etwa im gleichen Maße stagniert wie andere internationale Verhandlungen (etwa die zur Irland-, Zypern-, Palästinenser-, Kurden- oder Baskenfrage).
Die serbische Minderheit in der Provinz Kosovo schrumpfte immer mehr, anstatt anzuwachsen und sich zu konsolidieren, wie es Milosevic geplant hatte. Die große Mehrheit der 300000 serbischen Flüchtlinge aus Kroatien, auf die Belgrad gesetzt hatte, um die ethnische Zusammensetzung des Kosovo zu verändern, verweigerte sich bis auf wenige Familien dem Plan, sie im Kosovo anzusiedeln, und ließ sich lieber in der reicheren Vojvodina mit ihrer serbischen Mehrheit nieder. Im großen und ganzen deutet nichts darauf hin, daß die jungen Serben bereit gewesen wären, für das Kosovo zu sterben. Auf serbischer Seite hatte man zwei Optionen im Sinn – und nicht etwa nur eine. Die erste, offizielle, sah die Autonomie der Provinz und die Wiedereinführung der Regierungshoheit für die albanischsprachige Bevölkerung vor, wenn auch im Rahmen der serbischen Republik. Diese Lösung war von der serbischen Nationalversammlung Ende 1998 nahezu einstimmig gutgeheißen worden.
Die zweite Option, die auf eine ethnische Teilung des Kosovo abzielte, blieb vorerst in der Schublade, und es wäre Aufgabe der internationalen Diplomatie gewesen, dafür zu sorgen, daß der Plan dort geblieben wäre. Es hätte allein den Albanern des Kosovo überlassen bleiben sollen, darüber zu befinden, ob sie einen bewaffneten Unabhängigkeitskampf führen oder einem (vorläufigen) Kompromiß zustimmen wollen.
Zwar kann niemand mit Sicherheit ausschließen, daß es die ethnischen Säuberungen so oder so gegeben hätte. Es fragt sich aber, ob sie die Unterstützung der jugoslawischen Bevölkerung gefunden hätten, die schließlich als einzige die serbische Regierung in Frage stellen kann. Warum sonst müßte das Fernsehen in Belgrad heute behaupten, die Albaner im Kosovo flöhen vor den Nato-Bomben?
Seit Beginn der jugoslawischen Krise gab es andere Optionen. Selbst in Rambouillet wäre noch eine andere Logik denkbar gewesen. Zumindest dann, wenn der Westen darauf verzichtet hätte, in den Gesprächen zwischen der serbischen Regierung und den Kosovo-Albanern auf Teufel komm raus den eigenen Plan durchzusetzen.
Diese andere Option muß nach wie vor verfolgt werden. Für die Gegenwart gilt jedoch wie für die Vergangenheit, daß bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Konflikt sämtliche Balkanstaaten, die allesamt durch die Krise in Mitleidenschaft gezogen wurden, einbezogen werden müssen. Die Befürchtung ist zwar verständlich, daß die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts zu einer endlosen Aufsplitterung des jugoslawischen Raums führen würde. Aber ebenso sicher ist, daß die Verweigerung dieses Rechts auf eine Zerstückelung hinauslaufen muß, die dann aber einzig und allein durch die machtpolitischen Gewichte bestimmt wird: durch die aktuellen Kräfteverhältnisse, durch die ungebremste Konkurrenz privater Interessen an Ressourcen und Territorien und durch politische Entscheidungen der Supermächte.
Das Selbstbestimmungsrecht läßt sich im übrigen nicht auf nur eine Lösung und insbesondere nicht darauf reduzieren, daß alle „ihren ethnischen Staat“ bekommen. Vielmehr sollte jede Gemeinschaft den günstigsten politischen Rahmen zur Verteidigung ihrer Rechte wählen können. Die Anerkennung dieses Rechts ist also eine Vorbedingung für eine fortschrittliche Neugliederung im Balkan, die nur im Rahmen eines demokratischen Aufbaus von Europa vorstellbar ist. Die Balkanvölker teilen mit allen anderen Völkern die Hoffnung auf wirtschaftliche Entwicklung, die Verbesserung ihres Lebensstandards und ihrer kulturellen Bedingungen sowie auf Gleichbehandlung. Es ist durch nichts bewiesen, daß auf ausschließlich ethnischen oder nationalen Kriterien begründete Staaten die beste institutionelle Struktur darstellen, um diese Hoffnungen zu erfüllen. Zumal wenn es sich um kleinformatige Staaten handelt, die durch Kriegsprofiteure und Händler, die von der politischen Blockade und dem Wirtschaftsboykott profitieren, territorial ins Unendliche zerstückelt wurden.11 Noch fraglicher ist, ob die wilden Privatisierungen sich für die Bevölkerung positiv auswirken und der Stabilisierung der Region nützen werden. Vetternwirtschaft, Korruption und die Verschärfung der sozialen Ungleichheiten zeigen überall, wer von den neuen Regierungen profitiert, die eigentlich „ihr“ Volk verteidigen sollten.
Alles in allem wird sich die Fiktion einer auf der Grundlage ethnischer Zugehörigkeit vereinheitlichten Bevölkerung angesichts der kulturellen Abgründe, die sich zwischen der Masse der Flüchtlinge aus armen, ländlichen Regionen und der aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzten städtischen Bevölkerung auftut, nicht halten können. Um so tragischer ist es, daß sich die verwundbarsten Bevölkerungsschichten demagogischen Bewegungen zuwenden, weil die von den Demokraten verordneten liberalen Rezepte nur zu höherer Arbeitslosigkeit und verstärkter Unsicherheit führen. In jeder der zerrissenen Volksgruppen der Balkanregion, die keine „Minderheit“ sein wollten, hegte die einfache Bevölkerung dieselben Hoffnungen.
Wie der in der Vojvodina lebende ungarische Jurist Tibor Varady feststellt, ist die Minderheitenfrage zugleich der Schwachpunkt und der Schlüssel zum Frieden im Balkan. In diesem Pulverfaß ist eine gerechte und damit dauerhafte Lösung der sich überschneidenden nationalen und sozialen Frage nur denkbar, wenn die einzelnen Ethnien sich gegenseitig gleiche soziale und kulturelle Rechte zuerkennen und wenn man die konföderativen Beziehungen zwischen den Staaten derart neu gestaltet, daß sich die Bedeutung der Grenzen zwischen den Völkern abschwächt. Es sollte also zumindest versucht werden, im Rahmen einer Balkankonferenz die Bedingungen für eine europäische Sicherheitspolitik zu suchen, die den Staaten der Region dabei hilft, ihre Beziehungen untereinander und zur europäischen Region zu festigen. Auf dieser Ebene und im Rahmen einer solchen Hilfe wäre auch das Rückkehrrecht der vertriebenen Bevölkerung zu rechtfertigen.
Ein B-2-Bomber kostet bekanntlich mehr Geld, als das jährliche Bruttoinlandsprodukt Albaniens ausmacht. Gleichzeitig werden die Chancen für einen fortschrittlichen politischen Ausweg aus Konflikten vertan, deren Beilegung letztlich davon abhängen wird, daß die Bevölkerung es schafft, die Verantwortlichen für ihre Misere zum Teufel zu jagen. Die Nato-Bomben bewirken das genaue Gegenteil. Sie töten nicht nur, sondern machen auch blind.
dt. Birgit Althaler
* Dozentin an der Universität Paris-Dauphine und Autorin von „Die Zerstörung Jugoslawiens. Ein europäischer Krieg“, aus d. Franz. v. Birgit Althaler, Köln (Neuer Isp-Verlag) 1995.