14.05.1999

Genetische Diskriminierung am Arbeitsplatz?

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Genetische Diskriminierung am Arbeitsplatz?

IM Rahmen eines Vertrags mit dem französischen Institut für Forschung und Sicherheit (INRS, Institut nationale de recherche et de securité) hat das Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm, Institut national de la santé et de la recherche médicale) mit den Vorbereitungen für ein gemeinsames Projekt über „Genetische Risiken und Arbeit“ begonnen. Die beiden im INRS vertretenen Gewerkschaften CGT und CGC haben gegen die Wahl dieses Forschungsthemas protestiert. Sie stimmten gegen die Einführung dieses Forschungsschwerpunktes, gemeinsam mit der Gewerkschaft der Arbeitsmediziner und verschiedenen Verbänden für Gesundheit am Arbeitsplatz. Ohne der Opposition Rechnung zu tragen, setzte sich die Direktion des INRS mit der Inserm-Leitung in Verbindung, um grünes Licht von den Forschern zu erhalten, wenn schon ein Teil der Sozialpartner seine Unterstützung verweigert.

Das Ziel dieses Forschungsprojektes ist die „Identifikation von gefährdeten Personen“, was auf eine Strategie der Auslese hinauslaufen würde. Vorbeugende Maßnahmen am Arbeitsplatz könnte man sich dann ersparen, und die Anerkennung bestimmter Berufskrankheiten würde bei Personen, denen genetisch eine Anfälligkeit für ein berufsbedingtes Risiko bescheinigt wird, in Frage gestellt. Das Arbeitsrecht verbietet jede Diskriminierung aus gesundheitlichen Gründen. Das geplante Programm läuft aber direkt auf eine „prädiktive“ Medizin hinaus. Sie hätte zur Folge, daß beim Auftreten von Krankheiten angezweifelt werden kann, wieweit berufsbedingte Gefahren dafür verantwortlich zu machen sind – etwa wenn ein Arbeiter mit Asbest oder ionisierter Strahlung in Berührung kommt. Zur großen Zufriedenheit der Arbeitgeber ließe sich damit der Einfluß berufsspezifischer Faktoren bei Krebserkrankungen „wissenschaftlich“ relativieren.1

Das INRS wird über Kredite der staatlichen Krankenkasse (CNAM, Caisse nationale d'assurance-maladie) finanziert, die für Prävention vorgesehen sind. Seine Prioritätensetzung hat im Bereich der Arbeitsgesundheit unmittelbare soziale Relevanz. Verschiedene Vorfälle in jüngster Zeit haben die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit des Instituts arg in Mitleidenschaft gezogen, und Verwaltungsrat wie Direktion sträuben sich aktiv dagegen, den Ernst der Lage hinsichtlich der Verbreitung von Krebs als Berufskrankheit in Frankreich anzuerkennen. Im Fall von Asbest hatte das INRS jahrelang den „kontrollierten Einsatz“ dieses hochgradig karzinogenen Baustoffs empfohlen, der heute überall in Wohnungen, öffentlichen Gebäuden und am Arbeitsplatz zu finden ist. Ein Forscher des INRS, der den Fehler beging, sich zu genau für die krebserregende Wirkung der Glycoläther zu interessieren, wurde prompt entlassen.2 Erst kürzlich wurde ein Teil der Ergebnisse einer epidemiologischen Untersuchung über die Risiken im Umgang mit Aluminium kurz vor der Veröffentlichung schlicht und einfach gelöscht.3

INDEM das INRS sich an das Inserm wendet, versucht es, sich wissenschaftlich reinzuwaschen und gleichzeitig seine Forschungsschwerpunkte auf das Gebiet der Genetik zu verlagern, anstatt sich darum zu bemühen, die Berufsrisiken in den Griff zu bekommen. Mit dem Gesuch wird eine Politik fortgesetzt, die dazu geführt hat, daß in Frankreich die Arbeiten an der Industrietoxikologie allmählich zugunsten des Bereichs der Molekularbiologie und Genetik aufgegeben wurden. Womit gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze und die Umweltverschmutzung als Verursacher der immer häufigeren Krebserkrankungen aus der Verantwortung entbunden sind.

ANNIE THÉBAUD MONDY,

Forscherin am Nationalen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm), Paris.

Fußnoten: 1 In Frankreich werden pro Jahr nicht einmal 300 Fälle von Krebs als Berufskrankheit anerkannt; epidemiologische Studien gehen davon aus, daß 5000 bis 10000 tödliche Krebsfälle beruflich bedingt sind. 2 Im Prozeß, den der Betroffene wegen mißbräuchlicher Kündigung gegen das INRS anstrengte, wurde dieses mit der Begründung verurteilt, daß „trotz eines mit jedem Arbeitsvertrag verbundenen Unterordnungsverhältnisses im vorliegenden Fall der Arbeitgeber seine Dienstbefugnis im Rahmen der Grenzen auszuüben hat, die im Einklang mit der Art der dem Betroffenen übertragenen Verantwortung stehen und die Unabhängigkeit, die den Spezialisten für Arbeitsgesundheit gebührt, wahren müssen“. (Zitiert nach Santé et travail, Nr. 25, 1998. 3 Santé et travail, Nr. 25, 1998.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von ANNIE THÉBAUD MONDY