14.05.1999

Gift für die Landwirtschaft

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Gift für die Landwirtschaft

DIE in Produktion wie Gebrauch gleichermaßen gefährlichen Pestizide sind ein Beispiel dafür, wie Technologien und Produkte, die in einigen Industriestaaten bereits verboten sind, weiterhin in Entwicklungsländer exportiert werden. Meist geschieht dies im Einverständnis der nicht ganz uneigennützig handelnden politischen Führung vor Ort mit den multinationalen Konzernen. Gleichzeitig leidet die ansässige Bevölkerung unter schwerwiegenden Gesundheitsschädigungen.

Von MOHAMED LARBI BOUGUERRA *

Am 5. November 1997 explodierte in Antananarivo (Madagaskar) ein Lager des multinationalen Konzerns Hoechst und löste einen furchtbaren Brand aus, der die Reisfelder und das Trinkwasser verseuchte. Am 29. Dezember 1997 brannte ein Pestiziddepot in Surabaya (Indonesien) mit ähnlichen Folgen. Der schwerwiegendste Zwischenfall dieser Art ereignete sich jedoch am 3. Mai 1991 in Cordoba im mexikanischen Bundesstaat Veracruz, als eine Fabrik der Gesellschaft Anaversa explodierte und die Lagerbestände Feuer fingen. Tausende Liter an Pestiziden gingen in Flammen auf und verseuchten ein Wohngebiet. Der Schriftsteller John Ross, der die Stadt Ende 1997 besuchte, sprach von einem „mexikanischen Bophal“1 . Obwohl bei dem Unfall niemand unmittelbar ums Leben kam, waren die Folgen tragisch. Die Vereinigung der Opfer führt 157 Todesfälle unter ihren Mitgliedern auf. Seit dem Brand sind in Cordoba Krebs und angeborene Mißbildungen an der Tagesordnung, doch seitens der Behörden wird jeder Zusammenhang geleugnet.

John Ross erklärt sich die zurückhaltenden Reaktionen auf dieses Drama mit dem Schutz, den Anaversa von seiten mächtiger, dem ehemaligen Präsidenten Carlos Salinas nahestehender Politiker genießt. Wie eng in Mexiko das politische Establishment mit der agrochemischen Industrie verwoben ist und welche Folgen das für die Ausbeutung von Mensch und Umwelt hat, ist ausführlich belegt.2 Hinzu kommt, daß sich die Katastrophe zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt ereignete: es fanden gerade Verhandlungen über das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) statt, wo die mexikanische Regierung wegen ihres geringen Interesses an Umweltproblemen heftig kritisiert wurde.

Unter dem Druck der erschütternden Demonstrationen der Opfer und ihrer kranken Kinder sah sich Jorge Carpizo, ehemaliger mexikanischer Innenminister und zum Zeitpunkt des Unglücks Ombudsmann der (staatlichen) Nationalen Menschenrechtskommission, gezwungen, einen Bericht zu veröffentlichen, in dem eingeräumt wurde, daß es bei der Zulassung der Anaversa-Fabrik grobe Fehler gegeben habe. Empfohlen wurden insbesondere eine epidemiologische Untersuchung und die Erfassung der betroffenen Gebiete. Die Opfer waren gezwungen, die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) anzurufen. Ihr Leid ist noch lange nicht zu Ende; im ambulanten Krankenhaus der Sozialversicherung (IMSS) werden sie nur dann behandelt, wenn sie ihre Beschwerden nicht mit dem Brand von Anaversa in Verbindung bringen!

In den Ländern der Südhalbkugel ist die Chemie eine weitere Gefahr, die zu den bereits bestehenden Mühen und Leiden des Alltags hinzukommt. In einem Expertenbericht heißt es dazu: „Durch den Einsatz von Pestiziden, die das Immunsystem schwächen, wird sich die Sterblichkeit aufgrund von Infektionskrankheiten, die zu den gravierendsten Gesundheitsproblemen in den Entwicklungsländern zählen, weiter erhöhen.“3 Die Lagerbestände an zu entsorgenden Pestiziden in Entwicklungsländern sowie in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR belaufen sich laut Angaben eines Berichts der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) vom 4 . März 1998 auf 100000 Tonnen. Die Kosten ihrer Vernichtung werden auf 80 Milliarden Dollar geschätzt. Zu diesem Zweck fordert die Organisation einen „substantielleren Beitrag der agrochemischen Industrie“ und kommt zu dem Schluß, daß die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln „stark reduziert werden muß“.

Am 3. Juli 1998 ging eine erste Runde von Gesprächen zu Ende, an denen sich auf Initiative des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep) Delegierte aus 94 Nationen beteiligten, um bis zum Jahr 2000 ein internationales Abkommen über die Beseitigung von zwölf „langlebigen organischen Schadstoffen“ (engl. POP) auszuhandeln. Unter diesen befinden sich acht Pestizide. Um das Abkommen auch umsetzen zu können, müßten die Länder der Südhalbkugel als Hauptverbraucher der billigen POPs, die eine globale Umweltbedrohung darstellen, bedeutende finanzielle Unterstützung erhalten. Ohne sich Illusionen über die Schwierigkeit dieses Unterfangens zu machen, weist der Christian Science Monitor auf den Präzedenzfall von Substanzen hin, die die Ozonschicht angreifen: „Die Welt braucht ein globales Verbot dieser gefährlichen agrochemischen Produkte (...), deren Einsatz in den Herstellerländern bereits verboten oder streng geregelt ist.“ Dies sei um so wichtiger, als „selbst die amerikanische Regierung nicht im Besitz einer vollständigen Liste der exportierten Pestizide ist“4.

Medardo Varela, führendes Mitglied einer Bewegung von Bananenarbeitern, wurde am 12. Mai 1998 in Honduras ermordet.5 Er hatte sich gegen den Einsatz giftiger Pflanzenschutzmittel durch die großen amerikanischen Fruit Companies gewehrt und sich für eine Abfindung der 5000 Arbeiter eingesetzt, die dadurch zu Schaden gekommen waren. Die Arbeiter hatten unter anderem eine Blockade der Bananenexporte durchgeführt, um ihrer Forderung nach Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Entschädigung der Opfer von „Nemagon“ Nachdruck zu verleihen. Dieses unter dem Namen Dichlorbromproban (DBCP) bekannte Nematizid6 ist in den Vereinigten Staaten seit 1979 verboten, wurde in den Ländern des Südens aber bis Mitte der achtziger Jahre eingesetzt.

Costaricanische Bananenarbeiter, die unter den Folgen des Pestizideinsatzes leiden, konnten gewisse Erfolge verzeichnen: Nach einem unendlichen Prozeßmarathon gab 1992 ein kalifornisches Gericht den Arbeitern recht, die in der Folge des DBCP-Einsatzes auf Plantagen, die sich im Besitz amerikanischer Unternehmen befinden, unter Sterilität leiden. In Costa Rica werden von den amerikanischen Unternehmen pro Einwohner vier Kilo Pestizide eingesetzt, was achtmal über dem weltweiten Durchschnitt liegt. Im Mai 1997 unterzeichneten die drei multinationalen DBCP-Hersteller eine gütliche Vereinbarung, in der 16000 unter Sterilität leidenden Arbeitern in zwölf südlichen Ländern 41,5 Millionen Dollar zugesprochen wurden. Und dies, „obwohl weder Verschulden noch Verantwortung vorliegt“, wie eines der Unternehmen in einer Erklärung festhält. Daneben bemüht sich eine honduranische Untersuchungskommission, das Rätsel der Geburt von 18 anencephalischen Kindern (unter 2000 Neugeborenen eines Spitals im Departement Yoro) aufzuklären. Wegen seiner Wirkung auf das zentrale Nervensystem deutet vieles auf DBCP als Verursacher hin.8

Am 3. Februar 1998 versuchte ein indischer Bauer aus Andhra Pradesh, sich vor den Augen des Ministerpräsidenten dieses Bundesstaates umzubringen, um die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der kleinen Baumwollproduzenten zu lenken. Die bei den Pestizidhändlern verschuldeten Baumwollbauern, deren Ernten durch Insektenbefall zerstört und die von den Behörden im Stich gelassen wurden, greifen zu diesem extremen Mittel, um auf ihre Lage hinzuweisen. Allein im indischen Baumwolldistrikt Warangal mußten im Jahr 1997 elf Selbstmorde verzeichnet werden.9 Zusätzlich zu ungünstigen klimatischen Bedingungen war es in der Saison 1996/97 zu einem katastrophalen Schädlingsbefall gekommen, der schwere Ernteausfälle befürchten ließ. Die verzweifelten Bauern, die noch dazu gepachtete Parzellen bewirtschaften, setzten wie besessen verschiedenste höchst gefährliche Insektizide ein. Diese zum Teil nicht mehr wirksamen, verfälschten oder abgelaufenen Produkte waren von Händlernetzen, die Hand in Hand mit zwielichtigen Beamten arbeiten, marktschreierisch angepriesen und zu Wucherzinsen auf Kredit angeboten worden.10

Die Behandlung scheiterte auch daran, daß die Insekten resistent geworden waren. Eine solche Resistenz war weder von Fachleuten noch von den Behörden vorausgesehen worden, obwohl diese seit den siebziger Jahren den Anbau von Baumwolle auf Kosten der Nahrungsmittelselbstversorgung forciert hatten und der verstärkte Schädlingsbefall auf den Feldern eine Folge der Aufgabe der regelmäßigen Fruchtfolge von Reis, Leguminosen und Gemüse war. Allerdings ist in Andhra Pradesh die agrochemische Lobby ganz besonders mächtig und hat alles darangesetzt, den Anbau von Baumwolle zu fördern, der einen hohen Pestizideinsatz erfordert.11

Um dem Einfluß von Pressure-groups zu begegnen und die Selbstmorde der Bauern zu stoppen, hat sich am 30. Mai 1998 in Neu-Delhi das Forum von Bauernorganisationen zur Frage der Globalisierung und Landwirtschaft gebildet. Dieses Bündnis hat sich zum Ziel gesetzt, die Kleinbauern von den Zwängen einer kapitalistischen, profitorientierten intensiven Landwirtschaft zu befreien, die sie zwingt, sich in Schulden zu stürzen, um Pestizide, Hybridsaatgut und Bewässerungsmaterial kaufen zu können. Das Forum fordert von der Regierung unter anderem, angesichts der zahlreichen verfälschten Produkte strengere Vorschriften für die agrochemische Industrie zu erlassen12 und die Kreditvergabe durch Pestizidhändler zu verbieten. Da die Baumwolle für die Wirtschaft und den Handel Indiens eine bedeutende Rolle spielt, müssen gemeinsame Lösungen gefunden werden, um den Pestizideinsatz auf ein Minimum zu reduzieren und die durch resistente Schädlinge verursachten enormen Schäden zu vermeiden. Das wird nicht ohne die Unterstützung der politischen Führung und der wissenschaftlichen Institutionen möglich sein.

In einer Welt, in der Globalisierung und Freihandel den Ton angeben, scheint das ein hoher Anspruch zu sein. Während in einem Staat wie Dänemark angesichts der Anreicherung von Pestiziden im Wasser deren Totalverbot angestrebt ist13 , wurde zwischen einem multinationalen Konzern, Senegal, das diese Produkte stark subventioniert, und Kamerun soeben ein Vertrag unterzeichnet, der den besseren Vertrieb über private Verteilernetze zum Ziel hat.

dt. Birgit Althaler

* Hochschuldozent, Autor unter anderem von „La Pollution invisible“, Paris (PUF) 1997.

Fußnoten: 1 John Ross, „The Anaversa disaster: Mexico's Bophal“, Global Pesticide Campaigner, Bd. 7, Nr. 4, San Francisco, Dezember 1997. 2 Angus Wright, „The Death of Ramón Gonzales“, Texas University Press 1990. Nach Wright hängen die Malariaepidemien im Staat Sinaloa direkt mit der Intensivierung des landwirtschaftlichen Einsatzes von Insektiziden auf den gewinnorientierten großen Anbauflächen zusammen. 3 Charles Marwick, „,Provocative' report issued on use of pesticides“, Journal of the American Medical Association (JAMA), Bd. 275, Nr. 12, Chicago, 27. März 1996. 4 Robert C. Owen, „The next global alert“, Christian Science Monitor, Boston, 16. April 1996. 5 International Herald Tribune, Paris, 13. Mai 1998. 6 Dieses Mittel wird gegen Nematoden, d. h. Fadenwürmer, eingesetzt, die sich in die Wurzeln des Bananenbaums fressen. 7 Cino Colina, „Pesticides: killers and predators“, Bericht der internationalen Konferenz über den Einsatz von Pestiziden in der Dritten Welt, San José, Costa Rica, Februar 1998 (in Granma international, elektronische Ausgabe, 10. März 1998). 8 In Chile hat die Zahl von Mißbildungen bei neugeborenen Kindern von Landarbeitern, die Pflanzenschutzmitteln ausgesetzt sind, im gleichen Verhältnis zugenommen wie die Erhöhung der Importe von Pestiziden. Lake Sagaris, „Conspiracy of silence in Chile's fields: Pesticide spraying of fruit results in high levels of birth defects“, Montréal Gazette, 27. November 1995. 9 S. Ramakrishna, „Pesticides play havoc with farmers' lives“, The Indian Express, Delhi, 31. Dezember 1997. 10 Ravi Sharma, „Farmers in distress“, Frontline – The Hindu, Delhi, Bd. 15, Nr. 7, 4.-17. April 1998. 11 Am Problem der Resistenzen wird die transgene Baumwolle nichts ändern, wie die Forschungsarbeiten von Fred Gould an der Universität des US-Bundesstaates North Carolina und von Bruce Tabashnik an der Universität Arizona nachweisen; siehe American Scientist, Triangle Park, NC, Vereinigte Staaten, Januar/Februar 1999. 12 Für den Süden ist dies nicht ungewöhnlich. Die ägyptische Gesellschaft für Toxikologie hat im März 1998 „klare Richtlinien für den Einsatz von Pestiziden und eine nationale Kommission zur Nahrungsmittelkontrolle“ gefordert. In China haben die Vergiftungen durch Pestizide so stark zugenommen, daß biologische Produkte auf den Pekinger Märkten reißenden Absatz finden. 1997 haben der Dachverband chinesischer Frauen und die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) eine Fernsehkampagne gestartet, um Vergiftungen und Selbstmorden von Frauen auf dem Land durch leicht erhältliche, hochgiftige Pestizide auf Organophosphatbasis vorzubeugen. 56 Prozent der weltweit zu verzeichnenden Selbstmorde von Frauen werden in China begangen (Elisabeth Rosenthal, „Suicides reveal bitter roots of Chinese rural life“, New York Times, 24. Januar 1999). In Vietnam haben Lebensmittelvergiftungen durch Pestizide im Verlauf des ersten Halbjahrs 1998 156 Menschenleben gefordert, gegenüber insgesamt 229 im Jahr 1997. (AP, New York Times auf dem Web, 10. Oktober 1998). 13 New Scientist, 7. Juni 1998.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von MOHAMED LARBI BOUGUERRA