Risse im Fundament des Hauses Israel
Am 17. Mai 1999 entscheiden die Israelis über die Zusammensetzung des neuen Parlaments. Zugleich wählen sie einen Ministerpräsidenten, der eventuell erst nach einem zweiten Wahlgang am 1. Juni feststehen wird. Glaubt man den Umfragen, wird die von den religiösen Parteien gestützte Koalition der Rechten und Ultrarechten ihre parlamentarische Mehrheit verlieren. Fraglicher scheint indessen die ebenfalls prognostizierte Niederlage von Ministerpräsident Netanjahu – obwohl die Friedensverhandlungen blockert snd, die Regierung kaum wirtschaftliche und soziale Erfolge vorzuweisen hat und Netanjahus Wahlkampf eine einzige Katastrophe war. Daß der Likud-Führer noch immer eine breite politische Basis findet, liegt vor allem an seiner geschickten Ausnutzung der gesellschaftlichen Gegensätze. Der Konflikt zwischen religiösen und laizistisch orientierten Israelis und die Rivalitäten zwischen den Bevölkerungsgruppen haben sich im Gefolge der Globalisierung noch verschärft. Der jüdische Staat zeigt Risse. Jezt geht es arum, wer in Israel das Sagen hat.
Von DOMINIQUE VIDAL und JOSEPH ALGAZY *
ES ist kurz vor Mitternacht in Tel Aviv. Das kleine postmoderne Café liegt gleich neben dem Rabin-Platz, dem Ort, an dem der Ministerpräsident im November 1995 ums Leben kam. Seither hat die Zerklüftung der Gesellschaft ständig zugenommen. „Einst bestand Israel aus zwölf Stämmen“ meint der Filmemacher David Ben Schitrit, „und man weiß ja, was daraus geworden ist. Heute haben wir sechs Kontrahenten: Aschkenasim, Orientalen, Russen, Ultraorthodoxe, Ausländer und natürlich die Palästinenser.“1 Seine Aussage bestätigt eine neuere Umfrage des Steinmetz Centre an der Universität Tel Aviv: Nur 30 Prozent der Israelis sehen die größte Gefahr in Konflikten außenpolitischer Art, 60 Prozent dagegen in den innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
Schurban bedeutet im biblischen Hebräisch Zerstörung – die Zerstörung der Tempel.2 An einem milden Abend in Caesarea scheut sich der Schriftsteller Joshua Sobol nicht, dieses Wort auszusprechen. „Die Bruderkriege haben uns schon damals in die Katastrophe geführt“, meint er resigniert. Dann spricht er über sein Buch „Das Dorf“, das Erinnerungen an seine Kindheit in den vierziger Jahren verarbeitet. Sobol ist in einer aschkenasischen Familie aufgewachsen, in der jüdischen Ortschaft Tel Mond im Scharontal: „Die Einwanderer bildeten damals eine geschlossene Gesellschaft. Alle lebten in den gleichen einfachen Verhältnissen. Und alle fürchteten ein neues Massada3 – ich erinnere mich an die Begeisterung, als Rommel 1942 in El Alamein besiegt wurde. Man hatte gemeinsame Wertvorstellungen, wie die Idee der Koexistenz mit den Arabern. Es war das genaue Gegenteil der völlig zersplitterten Gesellschaft, in der wir heute leben.“
Manche reden von den „zwei Israel“4 : dem Israel der Friedensanhänger (vorwiegend laizistische Aschkenasim) und dem Israel der Nationalisten (vornehmlich orientalische Juden und Religiöse). Aber die Realität ist nicht in so einfachen Kategorien zu fassen: Auch wenn es zwei gegensätzliche Lager gibt, stehen in beiden die unterschiedlichsten Zelte.
Chomeinisierung oder Abstieg in die Dritte Welt
FRÜHLING in Jerusalem, ein ruhiger Samstag. Die Ultraorthodoxen sind auf dem Weg in die Synagoge, bekleidet mit Pelzhüten und langen schwarzen Gewändern, aus denen die weißen Fransen des Gebetsschals hervorschauen. Wenn ein Auto vorbeifährt, schimpfen sie auf jiddisch: „Schabbes!“ Aber am 14. Februar 1999 haben sich 250000 dieser Haredim (“Gottesfürchtige“) zu einer Demonstration gegen den Obersten Gerichtshof versammelt, dem sie vorwerfen, die Vormachtstellung der Ultraorthodoxen in religiösen Angelegenheiten anzuzweifeln. Neuerdings scharen sie sich um Arieh Deri, den Führer der Schas-Partei, der wegen Vorteilsnahme verurteilt wurde und den sie natürlich für unschuldig halten.
„Wenn es in der Hauptstadt schon zugeht wie in Teheran, wird sich bald das ganze Land nicht mehr vom Iran unterscheiden.“ Arnon Yekutieli ist ehrlich empört. Der Vorsitzende der größten laizistischen Fraktion im Stadtrat von Jerusalem und Begründer der Bewegung Am Hofschi (Freies Volk) kämpft seit zehn Jahren gegen die „religiösen Zumutungen“. Überall sind die „Männer in Schwarz“ auf dem Vormarsch, nicht zuletzt dank der hohen Geburtenrate in ihrer Gemeinschaft. Sie haben ihre eigene Wirtschaft, eigene Schulen, eine eigene Polizei und Gerichtsbarkeit. Alles vom Staat bezahlt, sagt Yekutieli. „Diesen Leuten ist nur mit Gewalt beizukommen.“ Und er fügt hinzu: „Im Rahmen der Legalität natürlich.“
„Israel darf nicht werden wie der Iran.“ Die Parole, propagiert von der Linkspartei Meretz, ist nicht unumstritten. „Hier geht es doch nicht um einen ,Chomeini- Effekt', sondern darum, daß ein Großteil der Bevölkerung in die Dritte Welt abrutscht“, erklärt der Soziologe Shlomo Swirski. „Darum haben die Ultraorthodoxen solchen Zulauf – genau wie die islamistischen Bewegungen. Sie bieten den Armen ihren ,Sozialstaat'.“ Und die Veruntreuung von Staatsgeldern? Swirski antwortet schulterzuckend: „227 Millionen Mark soll die Schas-Partei unrechtmäßig kassiert haben – ein Dreizehntel der Summe, die man den Unternehmern geschenkt hat, als man sie im Januar 1997 von der ,Parallelsteuer' befreit hat.“
Shlomo Ben Ami, Spitzenkandidat der Linken in der Arbeitspartei, sieht die Haredim in der Defensive: „Sie fürchten die Laizisierung der Gesellschaft. Wir dürfen ihnen nicht antireligiös entgegentreten, sondern mit sozialen Argumenten. Die Schas haben wir Rabin und Peres zu verdanken. Die haben die Schas- Partei, um den Frieden durchzusetzen, als Werbeagentur bei den Armen benutzt und ihr dafür öffentliche Gelder überlassen. Es ist Zeit, die Sozialpolitik wieder zur Sache des Staates zu machen.“
Die Offensive militanter Laizisten zeigt Wirkung. Früher war Jerusalem am Freitag abend und am Samstag wie ausgestorben, heute haben unzählige Läden, Cafés, Restaurants und Nachtclubs geöffnet. Nach Angaben der Frauenorganisation Naamat gibt es jährlich 22000 Eheschließungen nach dem religiösen Ritus, aber immerhin 5000 Ziviltrauungen im Ausland (oder in einem Konsulat) – und 15000 Paare leben ohne Trauschein zusammen. In Beer Scheba gibt es den ersten Friedhof, auf dem weltliche Bestattungen möglich sind. Homosexualität – bis 1988 mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bedroht – wird nicht mehr verheimlicht: Im Sommer 1988 fand in Tel Aviv die erste Gay-Pride-Veranstaltung statt, auf der auch Soldaten in Uniform auftraten; homosexuelle Paare genießen heute die gleichen Rechte wie heterosexuelle. Dieser Sieg bedeutet mehr als der Sieg der transsexuellen israelischen Diva Dana International beim Grand Prix Eurovision 1998.
Die „Männer in Schwarz“ haben also durchaus Anlaß zur Empörung. Die äußert ganz unverblümt der zweite Mann der Schas-Partei, Innenminister Eliahu Suissa: „Wir sind die wahren Zionisten. Unser Alltagsleben richtet sich nach den Vorschriften der Thora und des Talmud. Für uns ist ganz Israel heilig. Die weltlichen Gesetze achten wir nur, soweit sie nicht das Religionsgesetz, die Halacha, verletzen.“ Der Status quo, vor fünfzig Jahren mit David Ben Gurion ausgehandelt, sei lediglich das „kleinere Übel“. Hier liegt für ihn der neuralgische Punkt. Der Innenminister klagt: „Heute mischt sich der Oberste Gerichtshof in religiöse Angelegenheiten ein. Aber unser Glauben ist ausschließlich unsere Sache.“ Dann folgt die Beschwerdeliste: Die Freistellung vom Militärdienst, die bislang fast 30000 Studenten der religiösen Lehranstalten zugute kam, soll abgeschafft werden; in den Religionsräten können demnächst Frauen Sitz und Stimme haben, sollen Rabbiner des Reformjudentums und der konservativen Richtung vertreten sein. „Weil sich der Rat von Jerusalem diesem Diktat widersetzt hat, wurde er zu einem Bußgeld von 15000 Mark verurteilt; und ich, als zuständiger Minister für Religionsfragen, mußte 30000 Mark zahlen.“
Am meisten empören sich die Haredim allerdings darüber, daß Übertritte zum Judentum anerkannt werden sollen, die bei Rabbinern der anderen jüdischen Glaubensrichtungen in Israel vollzogen wurden. „Ich habe es bereits als schmerzliche Pflicht empfunden, einen Goi [Nichtjuden] als Juden anerkennen zu müssen, nur weil man ihm im Ausland die Konversion gestattet hat. Aber hier in Israel? Niemals! Das würde die Existenz des jüdischen Volkes in Frage stellen.“ Wenn Eheschließungen und Konversionen von anderen abgesegnet werden dürfen, wird das nach Ansicht der Ultraorthodoxen zu einer „neuen Shoah“ führen.
Dieser „Logik“ kann der Oberste Gerichtshof natürlich nicht folgen. Nach Maßgabe der grundlegenden Gesetze (Israel besitzt keine geschriebene Verfassung) ist das Land „ein jüdischer und demokratischer Staat“. Wie der Rechtsanwalt Avigdor Feldmann erläutert, könne daher die Justiz im Konflikt zwischen religiösem und weltlichem Recht, der auf die Ansprüche der reformierten und konservativen Synagogen zurückgeht (die in Israel in der Minderheit, in den USA aber in der Mehrheit sind), eigentlich nur zugunsten der weltlichen Prinzipien entscheiden.
Die religiösen Parteien konnten seit 1949 nie mehr als 20 Prozent der Stimmen erringen. Und obwohl der Glauben in der Bevölkerung an Boden gewonnen hat, sind die Umfragen eindeutig: 49 Prozent der jüdischen Bürger bezeichnen sich als „weltlich“ eingestellt, 33 Prozent als „traditionell“ orientiert, 13 Prozent als „orthodox“ und nur 4,5 Prozent als „ultraorthodox“ – und 0,5 Prozent als „Nichtjuden“.5 Wobei nicht vergessen sei, daß Muslime und Christen etwa ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen. Angesichts dessen könnte man eine israelische Variante der Trennung von Kirche und Staat für die beste Lösung halten.6 Der Gedanke bringt den Minister auf die Palme: „Wenn es dazu käme, müßte ich die Koffer packen und zurück nach Marokko gehen!“ Dabei war er es, der innerhalb der Schas-Partei für die Achtung der Justiz und für Kompromißlösungen eintrat. Aber jetzt empört er sich: „Wenn der Oberste Gerichtshof sich ständig in unsere Angelegenheiten einmischt, gibt es hier Krieg.“ Man wundert sich nicht mehr, daß 70 Prozent der Israelis die Haredim für eine „Bedrohung“ halten (das gilt für 90 Prozent mit weltlicher, aber auch für 70 Prozent mit „traditioneller“ Orientierung).
Die Hafenstadt Aschod ist kaum wiederzuerkennen. Überall sind neue Wohnblöcke entstanden, die meisten von besserer Qualität als die traditionellen Sozialwohnungen. Auf den Straßen hört man ebensoviel Russisch wie Hebräisch. Eine Million Bürger der ehemaligen Sowjetunion sind seit 1986 nach Israel gekommen, viele von ihnen sind in Aschod gelandet. Für die Likud-Regierung waren diese Einwanderer damals ein Geschenk des Himmels, das sie strenggenommen Michail Gorbatschow verdankte. Und sie wollte es auf zweifache Art nutzen: Zum einen sollten die Neueinwanderer die Siedlungen im Westjordanland auffüllen, zum anderen sollten sie die Position der Aschkenasim als stärkste Bevölkerungsgruppe absichern, die seit langem durch die orientalischen Juden bedroht ist. Das erste Ziel wurde nicht erreicht, wohl aber das zweite. Doch die Integration dieser Einwanderer hat die komplizierte Balance zwischen den Bevölkerungsgruppen nachhaltig erschüttert.
Die Tragödie der Sephardim
LEW MELAMID, stellvertretender Chefredakteur von Vestil (eine von vier russischen Tageszeitungen), ist ganz zufrieden: „Die Anfangsprobleme – Wohnung und Arbeitsplatz – sind im großen und ganzen überwunden. Es gibt immer noch Ärzte, Ingenieure und Künstler, die keine ihrer Qualifikation entsprechende Anstellung haben – vor allem die Älteren haben Probleme. Aber insgesamt liegt unser Lebensstandard bereits über dem nationalen Durchschnitt, das gilt auch für das Wohneigentum.“ Anders als die orientalischen Juden wurden diese Einwanderer mit offenen Armen empfangen: Jeder bekam ein Startgeld von fast 12000 Mark, es gab billige Wohnungen, bei der Arbeitsvermittlung wurden sie bevorzugt. „Auch das Bild, das die Israelis von uns haben, hat sich gewandelt. Heute hält nicht mehr jeder russische Frauen für Prostituierte und die Männer für Mafiosi, obwohl das noch nicht ganz vorbei ist.“
Aber die Erfolgsstory hat ihre Kehrseite, weiß Lew Melamid: „Unsere Leute interessieren sich nur für ihren sozialen Aufstieg.“ Die russische Gemeinschaft verfügt über weitgefächerte Beziehungen in Wirtschaft und Handel, über ihre Theater und zwei Fernsehprogramme (via Satellit aus Moskau), über siebzig Zeitungen. Und erstmalig in der Geschichte Israels gibt es eine Partei mit einer quasi ethnischen Basis, oder vielmehr zwei: Als Konkurrenz zur Israel Bealiya (Israel der Einwanderung) des früheren Dissidenten Nathan Scharansky hat Avigdor Lieberman, die rechte Hand des Ministerpräsidenten, Israel Beitenu (Unser Haus Israel) gegründet.
„Die Idee der ethnischen Zugehörigkeit hat durch die früheren Sowjetbürger neues Gewicht erhalten“, meint Yossi Iona, der Philosophie an der Ben-Gurion- Universität in Beer Scheba lehrt. „Die meisten sind ja nicht wegen des Zionismus hergekommen, sondern weil sie nirgendwo anders hingehen konnten.“7 Fast die Hälfte von ihnen gelten gar nicht als Juden. Sie sind stolz auf ihre europäische Identität, ihre Kultur und Lebensart, und möchten sie hier durchsetzen. Damit sind sie das genaue Gegenbild der orientalischen Juden, die sich die abschätzigen und fast rassistischen Vorstellungen, die die Aschkenasim von ihnen haben, zu eigen machten.“
Tel Kabir ist halb Gefängnis, halb Leichenhaus. Das alte arabische Dorf hat sich in eine triste Vorstadt verwandelt. Ein paar alte Männer, Marokkaner und Usbeken8 , sitzen um einen kleinen Tisch und spielen Karten. Der fast achtzigjährige Abraham Buzaglo will dem Reporter sein Herz ausschütten: „Ich weiß, daß Bibi viele Fehler gemacht hat, trotzdem werde ich ihn wählen. Warum? Weil die Arbeitspartei uns hängengelassen und gedemütigt hat. Das vergesse ich denen nie. Wenn ich gewußt hätte, was die mit uns vorhaben, wäre ich in Marokko geblieben.“
Alte Geschichten? Zweifellos, aber sie werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Die Diskriminierung von heute hält die Erinnerung an frühere Erfahrungen wach. Auch wenn es den wohlmeinenden Intellektuellen nicht paßt: Die Unterschiede zwischen Aschkenasim und Sephardim werden nicht geringer, das belegen die Erhebungen des Adva-Forschungszentrums.9 1985 verdiente ein Jude westlicher Herkunft 1,7 Mal soviel wie ein orientalischer Jude (und 1,9 Mal soviel wie ein Araber); 1996 immer noch 1,6 Mal soviel wie ein Sepharde (und doppelt soviel wie ein Araber). 21 Prozent der Jugendlichen in den Retortenstädten mit orientalischer Bevölkerung (und 42 Prozent in den arabischen Städten) schaffen das Abitur nicht – in den großen Städten sind es nur 6 Prozent. „Auch die kulturelle Diskriminierung hat nicht abgenommen“ versichert der Regisseur Ben Schitrit. „Von den 820 Seiten des Geschichtsbuchs für die Oberstufe der Schulen beschäftigen sich nur fünf mit den Sephardim. Und selbst die ,Neuen Historiker' haben sich mit unserer Tragödie kaum befaßt.“
Die Verantwortung für diese Tragödie liegt in hohem Maße bei den Staatsgründern, den Politikern der Arbeitspartei. 1977 brachten die orientalischen Juden den Likud an die Macht, und obwohl es ihnen danach kaum besser ging, sind sie der Partei Begins und seiner Nachfolger treu geblieben. Wie ist das zu erklären? Die Kartenspieler in Tel Kabir sind überzeugte Anhänger der Rechten, aber sie leben von einer Mindestrente von knapp 700 Mark – mehr gewährt ihnen ihr geliebter Premierminister nicht. Es ist ihnen offenbar egal. „Eine Art Stammesdenken“, erklärt Yossi Dahan, Soziologe an der Freien Universität von Tel Aviv, „für die orientalischen Juden vertritt Netanjahu nicht die Staatsmacht, er ist gewissermaßen noch in der Opposition – im Kampf gegen die Machthaber der Arbeitspartei, gegen die Führungsschicht in der Wirtschaft, gegen die Elite in den Kibbuzim, in den Universitäten, im Kulturleben und in den Medien.“ Auf dieses Gefühl baut die Rechte – aber das Fundament hat womöglich schon Risse. Auf dem Hatikvah- Markt hört man heute Händler, die traditionell stramm rechts orientiert sind, ihren „Bibi“ kritisieren. Eine Fischhändlerin, die aus dem Irak stammt, wirft ihm vor, er habe „weder Frieden noch Sicherheit“ gebracht und damit „die Wirtschaft ruiniert“. „Fünf Kriege sind genug“, lautet ihr abschließendes Urteil.
Unter der Bezeichnung Sephardim oder orientalische Juden sind allerdings sehr unterschiedliche Gemeinschaften gefaßt. „Die Lage der Juden aus Äthiopien ist katastrophal“, warnt der ehemalige Abgeordnete Adissu Messala. „Da haben wir eine echte soziale Zeitbombe.“ Daß Messala 1996 ins Parlament gewählt wurde (für die Arbeitspartei), verdankte er seiner Rolle in der Protestbewegung nach dem „Blutspendenskandal“: Wegen der Verbreitung von Aids in Schwarzafrika hatten die Behörden die Blutspenden von Äthiopiern vernichtet. Die sogenannten Falaschen sind nicht nur Opfer allgemeiner rassistischer Vorurteile, sie müssen auch hinnehmen, daß die religiösen Autoritäten ihre Zugehörigkeit zum Judentum bezweifeln und eine offizielle Konversion verlangen. Bürgermeister wollen sie nicht in ihrer Gemeinde sehen, so daß viele in abgeschlossenen Wohngebieten oder sogar in Wohnwagensiedlungen leben müssen – im Ghetto also. Ihren Kindern wird die Einschulung verweigert. Die 60000 Falaschen sind von allen Gruppen der jüdischen Gesellschaft am schlechtesten dran und kaum integriert. Die meisten sind arbeitslos und leben von der Sozialhilfe.
An der Stadtmauer von der Küstenstadt Netanja kann man noch immer die Parole „Tod den Weißen“ entziffern. Sie wurde von jungen Äthiopiern angebracht. Sie gehören zu einer Gemeinschaft, die zu 60 Prozent aus Jugendlichen unter achtzehn Jahren besteht, von denen die meisten keine weiterführende Schule absolviert haben. Sie haben nichts zu tun und hängen auf der Straße herum. Ihre Eltern mauern sich ein – in ihren Wohnungen, in ihrem Elend und ihrer Sprachlosigkeit. „Eines Tages werden sie versuchen, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie auf legalem Weg nicht bekommen konnten“, fürchtet Adissu Messala. Wie alle jungen Äthiopier stehen auch Ascher und Yoni auf schwarze Musik, etwa Rap und Reggae. Sie sitzen unter einem Bob-Marley-Poster und träumen davon, nach Jamaika auszuwandern. „Hier geht es uns schlecht, weil wir Schwarze sind.“
Auch die Jemeniten haben hinreichend Gründe, verbittert zu sein. Es ist schon vierzig Jahre her, aber die Hintergründe des Skandals sind immer noch unklar. Damals wurden jemenitischen Eltern die Kinder weggenommen und für tot erklärt. Tatsächlich waren sie an wohlhabende, kinderlose aschkenasische Familien vermittelt worden – häufig Überlebende des Holocaust. Wie viele Kinder es waren und wer sie entführt hat, ist heute nicht mehr festzustellen. Doch das Vorgehen zeigt – selbst wenn man die Motive milde beurteilt – eine entsetzliche Arroganz gegenüber den orientalischen Juden, eine Art naiven Rassismus. Ein sephardischer Intellektueller meint: „Für die Jemeniten war das ihr kleiner Holocaust.“
Nichtjüdische Parias in Israel
AM alten Busbahnhof von Tel Aviv herrscht eine babylonische Sprachverwirrung. In den umliegenden Gassen wimmeln Asiaten, Afrikaner und Osteuropäer durcheinander, neben traditionellen Verkaufsständen florieren Sexshops und Telefonläden. Hier drängen sich die wahren Sklaven Israels – nichtjüdische Sklaven. Für die neuen Parias setzt sich die Vereinigung Kav Laoved ein. Hannah Zohar gehört zu den Gründern dieser Organisation, die den palästinensischen Arbeitern Unterstützung bietet: „Sie sind die Hühner, die goldene Eier legen. Die Regierung lehnt nicht nur jede Zuständigkeit für die Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten ab, sie kassiert für jedes Einreisevisum 3000 Mark und behält auch noch die Sozialversicherungsbeiträge ein. Die Unternehmer zahlen den Arbeitsimmigranten halb soviel wie den Israelis und drücken damit das Lohnniveau insgesamt. Und auch die Gewerkschaft kassiert Beiträge von den Palästinensern, ohne etwas für sie zu tun.“
Auf diese etwa 200000 Arbeitsimmigranten – 10 Prozent der Erwerbsbevölkerung – sind große Bereiche der Landwirtschaft, der Baubranche, der klassischen Industriezweige und der Hotellerie angewiesen. Für ihre Einreise nach Israel müssen diese Fremdarbeiter je nach Herkunftsland zwischen 3000 und 15000 Mark bezahlen. Häufig wird ihnen direkt nach Ankunft der Paß abgenommen, was eine Rechtsverletzung darstellt. Sie leben zusammengepfercht in dürftigen Behausungen, für die sie bis zu 400 Mark Monatsmiete zahlen; sie arbeiten 12 bis 16 Stunden am Tag, sind nicht renten- und zumeist nicht krankenversichert. Häufig werden sie von der Polizei mitgenommen und eingesperrt, bis jemand die Kosten für ihre Heimreise übernimmt.
„Absurderweise sind die illegalen Einwanderer weitaus besser dran“, erklärt Hannah Zohar. „Nach Israel zu kommen kostet sie nur das Flugticket, sie behalten ihren Paß und können sich selbst eine Wohnung suchen. Wir haben diesen skandalösen Zustand zum Anlaß genommen, auf die Einhaltung der Gesetze zu dringen und gegebenenfalls neue Gesetze zu fordern. Damit haben wir zunehmend Erfolg.“
Ethnischer Staat um vergessene Ortschaften
NAZARETH, 30. März. An diesem Tag begehen die Palästinenser in Israel seit 1976 den „Tag des Bodens“. Auch in Nazareth wird gestreikt und demonstriert. Die auffälligste Parole ist die Forderung, Israel von einem jüdischen Staat in einen Staat aller Bürger zu verwandeln. Oder vom „ethnischen zum bürgerlichen Staat“, wie es Samy Smooha, Hochschullehrer in Haifa, formuliert. Sein Kollege Madschid al-Hadsch erläutert, Israel sei zwar multikulturell strukturiert, habe aber keine dementsprechenden Konzepte entwickelt. Man habe vielmehr eine ethnozentristische Politik verfolgt, die das ganze öffentliche Leben bestimmt. So ist der Staat demokratisch und zugleich jüdisch-zionistisch verfaßt, er gewährt den Arabern die bürgerlichen Rechte, um sie wieder einzuschränken, weil die Araber nicht zum jüdischen Volk gehören.
In siebzehn israelischen Gesetzen sind Bestimmungen enthalten, die eine Diskriminierung der arabischen Staatsbürger bedeuten. So steht es in einem Gutachten für die Vereinten Nationen10 , das vor allem auf das Rückkehrergesetz verweist, das Juden aus aller Welt die Einbürgerung garantiert. Arabische Staatsbürger, die mit Nichtisraelis verheiratet sind, haben dagegen kein Recht auf Familienzusammenführung und müssen sogar mit Ausweisung rechnen. Kritisiert werden auch die Bestimmungen, die jede arabische Partei von den Wahlen ausschließt, die den jüdischen Charakter des Staates nicht anerkennt; ebenso die Paragraphen in den Ausnahmegesetzen von 1945, nach denen arabisches Land beschlagnahmt werden kann (die Palästinenser haben heute nur noch 10 Prozent des Bodens, der ihnen vor 1948 gehörte). Kritisiert wird überdies das Gesetz über das Bildungssystem, das als Erziehungsziel die Förderung der jüdischen Kultur und der zionistischen Ideologie festlegt. Nach wie vor weigert sich der Staat Israel, die Existenz von rund sechzig palästinensischen Ortschaften anzuerkennen, weil ihnen die „grundlegenden öffentlichen Einrichtungen“ fehlen. Etliche Politiker der Arbeitspartei wie des Likud räumen ein, daß die arabische Bevölkerung bei den öffentlichen Versorgungsleistungen seit fünfzig Jahren benachteiligt wird: Für sie lagen die öffentlichen Zuschüsse weit unter denen für die jüdischen Städte.
In den Räumen des Journalistenverbands von Tel Aviv kann man einem historischen Ereignis beiwohnen: Zum ersten Mal tritt ein Palästinenser vor die Kameras und Mikrofone, um seine Kandidatur für das Amt des israelischen Ministerpräsidenten bekanntzugeben. Natürlich weiß der Abgeordnete Asmi Bischara, daß er nicht die geringste Chance hat. Überdies ist seine Kandidatur unter den arabischen Parteien umstritten, man wirft ihm vor, das Lager der Netanjahu-Gegner zu spalten. Innerhalb des palästinensischen Lagers haben sich tiefe Gegensätze aufgetan. Das klarste Beispiel ist die Verschärfung der Gegensätze zwischen Christen und Muslimen, die auf tragische Weise bei den schweren Osterunruhen in Nazareth zutage traten. Aber Asmi Bischara ist überzeugt, es sei „an der Zeit, die Frage der arabischen Bevölkerung ins Zentrum der politischen Diskussion zu stellen. Meine Teilnahme am Wahlkampf steht für die Idee, daß Israel ein Staat für alle seine Bürger werden muß.“ Zwar hat er doch noch in letzter Minute zugunsten eines Kandidaten der Linken verzichtet, aber der symbolische Akt besagt eine Menge über die Entschlossenheit der Araber in Israel, zu gleichberechtigten Staatsbürgern zu werden.
So hat sich auch am Abend zuvor Professor Ephraim Yuchtman-Yaar von der Universität Ramat Aviv geäußert: „Die zionistische Ideologie steht heute vor zwei ganz unterschiedlichen Herausforderungen. Die kleinere Gefahr geht von Gruppen wie den orientalischen Juden aus, die lediglich eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Lage verlangen. Weit bedrohlicher sind die Ultraorthodoxen, die Russen und natürlich die Araber – ihre Ansprüche stellen den Charakter des Staates in Frage.“
Am Schluß seiner Schrift „Der Judenstaat“ schrieb Theodor Herzl: „Der Feind ist nötig für die höchsten Anstrengungen der Persönlichkeit.“11 Sollte etwa die Möglichkeit eines Friedensschlusses mit den arabischen Nachbarn dazu geführt haben, daß die Israelis sich wieder lustvoll in internen Auseinandersetzungen zerfleischen? Die These wird in den Medien breit diskutiert, hat jedoch nicht viel für sich. Unabhängig von der Proklamation eines Palästinenserstaates wird sich die Entstehung eines echten palästinensischen Staatswesens, die Hauptfrage für die Koexistenz in der Region, ganz sicher nicht von heute auf morgen vollziehen. Wir haben es hier mit Langzeitphänomenen zu tun, die derzeit nicht unbedingt deutliche Konturen haben, deren Ursprünge aber weit in die Vergangenheit zurückreichen.
„Die Zionisten träumten davon, einen Israeli aus einem Guß zu schaffen, eine Art jüdischen Arier, Soldat und Bauer zugleich“, erklärt Shlomo Ben Ami. „Aber wie man in der Sowjetunion und anderswo sehen konnte, ist es leichter, die Lebensumstände zu verändern, als den Menschen.“ Ähnlich sieht es der Soziologe Yossi Dahan. Für ihn ist der augenblickliche Zusammenprall der Kulturen vor allem „eine verspätete Reaktion auf die brutale Gleichmacherei der fünfziger und sechziger Jahre.“ Auch der Philosoph Yossi Iona meint, die Einwanderer seien „nicht integriert, sondern assimiliert worden. Man strebte eine Gesellschaft aus Juden mit gleichen Rechten und einheitlicher Gesinnung an. Aber diese Idee hat sich überlebt. Heute fordern die verschiedenen Gruppen nicht nur ihre eigene Identität und ihren Platz in der Gesellschaft, sondern wollen die Hegemonie.“
Das mag so sein. Aber warum gerade jetzt? Zweifellos spielt das 1996 verabschiedete Wahlrecht eine Rolle: Seither kann sich jeder Israeli für ein politisches „Lager“ entscheiden (bei der Wahl des Ministerpräsidenten) und sich zugleich ein „Zelt“ aussuchen (mit der Wahl eines bestimmten Parlamentskandidaten). Shlomo Swirski sieht darin „die Absegnung der Ethnifizierung der Politik“. Bei den Parlamentswahlen am 17. Mai 1999 treten rund dreißig Parteien an, was einen Rekord bedeutet.
Der entscheidende Faktor ist freilich die Globalisierung. „Die aschkenasische Führungsschicht – die Nachkommen der Staatsgründer – hat sich zunehmend in den führenden Sektoren der Weltwirtschaft, vor allem im High-Tech-Bereich engagiert“, erläutert der Soziologe Samy Smooha. „Für sie ist der Staat zu einem Hemmfaktor geworden – daher die Privatisierungen und der Abbau des Sozialstaats. Nach einem Friedensschluß mit den Arabern könnte man den Investoren die geforderte Stabilität bieten und gleichzeitig neue Märkte erschließen. Unter dem vielzitierten „Neuen Nahen Osten“ von Schimon Peres muß man sich auch die nach Jordanien oder Ägypten verlagerten Fabriken vorstellen, mit Arbeitskräften, die sich mit einem Monatslohn von 150 Mark begnügen. Offenbar bekommt die große Mehrheit der Israelis jetzt die Auswirkungen dieser Entwicklung in aller Härte zu spüren, und das trägt zur Aufspaltung der Gesellschaft in verschiedene Lager bei.“ Das mag sich anhören wie allgemeines Gerede, aber die Praxis spricht für diese Annahmen.
Eine Zeitung publiziert die Liste der zehn reichsten Israelis.12 An der Spitze steht Benny Gaon, Eigner der Firmengruppe Koor – er verdient die Kleinigkeit von 270000 Mark im Monat. Der gesetzliche Mindestlohn liegt knapp unter 1300 Mark, die Arbeitslosenunterstützung knapp über 1000 Mark. „Ich war mal in einer Textilfabrik“, erinnert sich Benjamin Gonen vom Gewerkschaftsverband Histadrut, „wo der Direktor so viel verdiente wie alle Arbeiter zusammen.“ Drei Viertel der Arbeiter in Israel bringen weniger als das Durchschnittseinkommen nach Hause. Und Frauen verdienen 40 Prozent weniger als Männer.
„Mit der Kritik an den allgemeinen Tarifverträgen ging es schon los, als der Likud an die Macht kam“, sagt der Rechtsanwalt Yael Ungar, „aber daß jetzt immer mehr individuelle Arbeitsverträge abgeschlossen werden, ist ein ganz neues Phänomen.“ Nach Angaben aus Gewerkschaftskreisen sollen die Arbeitnehmer, die sich so mit Haut und Haaren an ihren Arbeitgeber verkaufen, inzwischen 40 Prozent der Erwerbsbevölkerung ausmachen. „Das Schlimmste sind diese Zeitarbeitsfirmen“, erklärt Yael Ungar. „Sie bezahlen die Leute, die sie vermitteln, auf Stundenbasis, es gibt weder Urlaubsanspruch noch Sozialversicherungsbeiträge. Der Oberste Gerichtshof hat übrigens vor diesen Praktiken gewarnt.“ Nach Gewerkschaftsangaben sind bereits 7 Prozent aller Arbeitnehmer Zeitarbeitskräfte, im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen bis zu 30 Prozent.
Die Armut: Eine neuere Veröffentlichung des Adva Center13 weist aus, daß der Anteil der Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben, von 1979 bis 1996 von 27,9 Prozent auf 34,4 Prozent gestiegen ist. Der Prozentsatz betroffener Kinder hat sich in diesem Zeitraum von 23,1 Prozent auf 33,4 Prozent erhöht.
Die Mehrheit will den Frieden – und vielleicht Netanjahu
RIESIGE Abfallhaufen auf den Bürgersteigen, geschlossene Banken, Chaos auf den Flughäfen – im März erlebte Israel einen der erbittertsten Generalstreiks der neunziger Jahre. 500000 Arbeitnehmer waren im Ausstand. Hintergrund ist die Wirtschaftsentwicklung 1998 mit den „schlechtesten Werten des Jahrzehnts“14 : Das Wachstum sank auf 1,9 Prozent, die Investitionen aus dem Ausland gingen um 42 Prozent zurück, die Arbeitslosenquote stieg auf 8,7 Prozent, die Inflation auf 8,6 Prozent. Die Regierung bot zunächst nur 3,1 Prozent Lohnerhöhung an. Am Ende einigte man sich auf 4,8 Prozent. Bis 1996 hatten der Oslo-Friedensprozeß und die Effekte der Einwanderung aus Rußland der Wirtschaft einen Boom mit einer jährlichen Wachstumsrate von 7 Prozent beschert. Daß die Friedensverhandlungen in die Sackgasse gerieten, löste eine Gegenreaktion aus. Seitdem sind die Gebrechen der israelischen Gesellschaft um so schmerzlicher zu spüren.
Die Situation ist absurd: Die Mehrheit der Israelis will den Frieden, aber bislang haben sie Benjamin Netanjahu an der Macht gehalten. Nach einer Studie des Steinmetz Center15 , die auf fünfzig Umfragen im Zeitraum von vier Jahren basiert, haben über die Hälfte der Israelis die Umsetzung der Oslo-Verträge stets herbeigesehnt: „Seit 1996 ist dieser Anteil sogar noch gestiegen“, erläutert Professor Yuchtman-Yaar. „Das rührt daher, daß auch die Koalition der Rechten sich zu Verhandlungen mit Arafat bereit erklärte.“ Deshalb korreliert heute eine pazifistische Gesinnung immer weniger mit ethnischen Faktoren und mehr mit Parteipräferenz, religiöser Überzeugung und Einkommensniveau. Insgesamt scheint sich die israelische Gesellschaft mit dem Gedanken anzufreunden, daß sie mit einem palästinensischen Staat koexistieren kann – jedenfalls mit einem Staat, wie ihn die Vereinbarungen von Wye River vorsehen. Besonders glühende Nationalisten sehen darin sogar eine Garantie für den künftigen jüdischen Charakter des Staates Israel: Die Fortsetzung der Besatzung würde ja irgendwann zu einem binationalen Staat mit deutlicher arabischer Mehrheit führen.
Shlomo Ben Ami sieht es so: „Benjamin Netanjahu ist es nur gelungen, den Friedensprozeß zu stoppen, weil er mit der Orientierungslosigkeit und den Ängsten in der Gesellschaft rechnen konnte. Er hat die Enttäuschungen der benachteiligten sozialen Schichten und die Rivalitäten zwischen den Bevölkerungsgruppen ausgenutzt.“ Daß Netanjahu trotz seiner katastrophalen politischen Bilanz immer noch über eine solide politische Basis verfügt (Ben Ami schätzt sie auf 40 Prozent) liegt auch daran, daß sich keine Alternativen bieten: „Eine echte Linke hat es nie gegeben. In der Arbeitspartei gibt eine westlich orientierte Führungsschicht den Ton an, die umstandslos die Maßgaben der Globalisierung akzeptiert. Der Frieden, den sie anstrebt, ist etwas für die Business-Kreise, die Intellektuellen, die aschkenasische Oberschicht, es ist ein Frieden für die Reichen.“
Gestützt auf seinen Sieg bei den innerparteilichen Vorwahlen und auf seine marokkanische Herkunft, erhebt Shlomo Ben Ami jetzt den Anspruch, der Arbeitspartei mit einiger Verspätung ein ganz neues politisches Profil zu verschaffen. „Wir müssen nicht nur einen Modus vivendi mit unseren palästinensischen und arabischen Nachbarn finden, sondern auch den Mut zu einer neuen Sozialpolitik. Die Lösung des Konflikts kann nur darin liegen, die Nöte der ärmeren Schichten vor allem der orientalischen Juden, ernstzunehmen. Kurzum: Der äußere Frieden ist untrennbar verknüpft mit dem inneren Frieden.“
Gewiß, irgendwann vielleicht. Bis es soweit ist, darf man sich nicht allzu große Hoffnungen machen, auch wenn es zu einem Wechsel an der Spitze kommen sollte. Yossi Dahan prognostiziert: „Wenn die Entwicklung zum ultraliberalen Kapitalismus so weitergeht und das Anspruchsdenken der verschiedenen Gemeinschaften nährt, wird die Gesellschaft immer mehr zersplittern und immer weniger demokratisch sein.“ Und Shlomo Swirski meint: „Diesen Staat hält letztlich nur die Armee zusammen.“ Und da haben bekanntlich nicht nur die Israelis mitzureden. Samy Smooha befürchtet, daß die inneren Spannungen auch durch die Beendigung des Kriegszustands nicht aufzuheben sein werden: „Im Frieden wird sich der Gobalisierungsprozeß noch beschleunigen. Davon profitieren die Oberschichten, für die unteren bedeutet es dagegen den Verlust von Arbeitsplätzen und sozialer Absicherung, aber auch der eigenen Identität.“ Noch düsterer sieht es Iossi Iona. Er ist überzeugt, daß sich die sozialen und ethnischen Gegensätze weiter verschärfen werden und sogar zu einem „Bürgerkrieg“ führen können. Er sieht die einzige Lösung darin, „rechtzeitig eine Form von binationalem Staat für Israelis und Palästinenser zu etablieren“.
Ähnlich denkt Joshua Sobol, wenngleich er nur Israel im Auge hat: „Die abweisende Haltung der Juden gegenüber den anderen ist eine Erblast der Geschichte ihrer Ghettoisierung. Wir sehen uns eben immer als bedrohte Minderheit. Und diese Idee hat auch die Israelis stark beeinflußt. Die Jahrzehnte der Auseinandersetzung mit den Palästinensern haben uns immerhin eine etwas andere Sichtweise beigebracht. Arabische und jüdische Israelis werden sich immer ähnlicher; das läßt mich inzwischen auf den Tag hoffen, an dem Israel nicht mehr ein jüdischer Staat, sondern ein Staat aller seiner Bürger sein wird.“
dt. Edgar Peinelt
* Joseph Algazy ist Redakteur bei der Tageszeitung Ha'aretz in Tel Aviv.