14.05.1999

Lautloser Machtwechsel im Libanon

zurück

Lautloser Machtwechsel im Libanon

OBWOHL sie demnächst bei den Wahlen gegeneinander antreten werden, haben sowohl Benjamin Netanjahu als auch Ehud Barak den Rückzug der israelischen Armee aus dem Südlibanon zum Thema gemacht. Die Streitkräfte treffen dort auf einen bewaffneten Widerstand, der immer stärker wird. In Beirut hat der Stillstand in den israelisch-arabischen Friedensverhandlungen zum Rücktritt des Ministerpräsidenten Rafik Hariri geführt, dessen Position durch die politische, wirtschaftliche und soziale Krise des Landes breits geschwächt war. Neue Reformbemühungen und Anstrengungen im Kampf gegen die Korruption bestimmen derzeit die innenpolitische Lage. Gegen den ehemaligen Premier und einige seiner Minister sind inzwischen Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

Von WALID CHARARA *

Daß der Regierungswechsel im Libanon so reibungslos vonstatten ging, hat viele Beobachter überrascht. Im Dezember 1998 hat Selim Hoss das Amt des Ministerpräsidenten übernommen, zuvor war der General Emile Lahoud zum Staatspräsidenten gewählt worden. Rafik Hariri, der einst als der „Mann des Wiederaufbaus und der Entwicklung“ präsentiert wurde, ist zurückgetreten, ohne daß es zu dem wirtschaftlichen und finanzpolitischen Chaos kam, das seine Anhänger und auch einige seiner Gegner vorausgesagt hatten. Als Hariri im November 1992 sein Amt übernahm, drei Jahre nach den Verträgen von Taif, die im Oktober 1989 den langen libanesischen Bürgerkrieg beendet hatten, galt dies als weiterer Beleg für einen Neubeginn im Nahen Osten. Der Golfkrieg hatte die Illusionen eines arabischen Nationalismus zunichte gemacht, nun sollte eine neue Führungsschicht von Handelsherren antreten, denen man die Neuordnung des Nahen Ostens durch die Dynamik des Marktes zutraute.

Daß Rafik Hariri so allmächtig und geradezu überzeitlich wirkte, hatte natürlich mit seinem Reichtum und seinen vielfältigen Beziehungen in der arabischen Welt, in Europa und in den USA zu tun, aber auch damit, daß seine Regierungsübernahme die einzig mögliche Hoffnung schien für das von fünfzehn Jahren Bürgerkrieg erschöpfte Land. Entscheidend für seinen Aufstieg war jedoch die Lage in der Region: Nach dem Beginn der israelisch-arabischen Friedensverhandlungen im Oktober 1991 in Madrid wurde eine Annäherung zwischen Syrien, Saudi-Arabien und den USA möglich – und für den Libanon verkörperte Hariri genau diese neue Stimmung von Stabilität und Wiederaufbau. Aber nach sechs Jahren im Amt mußte er gehen – dabei spielte die rückläufige Wirtschaftsentwicklung in der Region eine Rolle, hinzu kam die weitgehend enttäuschende soziale, wirtschaftliche und politische Bilanz seiner Regierungsjahre.

Daß so große Erwartungen in ihn gesetzt worden waren, brachte die Hoffnung vieler Libanesen zum Ausdruck, der Libanon könne wieder zur wirtschaftlichen und finanziellen Drehscheibe des Nahen Ostens werden, wie vor dem Bürgerkrieg, der 1975 begann. Und genau das hatte Hariri im Sinn, als er erklärte, sein Land zum „Singapur des Nahen Ostens“ machen zu wollen. Als überzeugter Anhänger der neoliberalen Wirtschaftstheorien war er, was die wirtschaftlichen Reformen anging, ganz auf dem Kurs Washingtons. Aber schon sehr früh warnten zahlreiche Kritiker vor den Folgen dieser Politik, vor allem den sozialen Kosten, und in den schärfsten Äußerungen wurde auf die unverkennbare Ähnlichkeit in Geist und Schrift zwischen den Plänen Hariris und dem Konzept eines „Gemeinsamen Nahostmarkts“ verwiesen, wie es der damalige israelische Ministerpräsident Schimon Peres vertrat.

Syrien ließ sich von solchen Mahnungen nicht beeindrucken, sondern brachte durch die Unterstützung für Hariri seine Übereinstimmung mit zwei entscheidenden Zielen der amerikanischen Politik zum Ausdruck: Man wünschte politische Stabilisierung und wirtschaftliche Öffnung. Zwei Experten auf diesem Gebiet stellen fest: „Von Anfang an stand außer Frage, daß die Wiederaufbauvorhaben Hariris nicht für das ganze Land, sondern vorwiegend für Beirut gedacht waren. Es ging nicht um Landwirtschaft und Industrie, sondern in erster Linie um den Finanzsektor. Die städtische und ökonomische Infrastruktur sollte gestärkt werden, der Arbeitsmarkt war zweitrangig. Und kurzfristig legte Hariri viel mehr Wert auf die Stabilität der Währung als auf das Wirtschaftswachstum insgesamt.“1

Vom Wiederaufbau zur Geschäftemacherei

GIGANTOMANE Vorhaben, wie das Projekt „Horizont 2000“, der Wiederaufbau des Zentrums von Beirut, der als Symbol für die Renaissance des Libanon gedacht war, führten zu einer Ausgabenpolitik, die den Anstieg der Staatsverschuldung von 2 Milliarden Dollar (1992) auf 18 Milliarden (Anfang 1999) zur Folge hatte.2 Im übrigen setzten Hariri und seine Gefolgsleute vor allem darauf, daß der vielversprechende Beginn arabisch- israelischer Verhandlungen dazu beitragen würde, dem Libanon reichlich amerikanische, europäische und arabische Investitionen zu verschaffen, wenn das Aufbauwerk erst einmal in Gang war. Aber dazu kam es nicht.

Was sie falsch eingeschätzt hatten, waren die tiefgreifenden wirtschaftlichen Veränderungen in der Region seit den sechziger Jahren. Georges Corm, der jetzt Finanzminister in der Regierung von Ministerpräsident Hoss geworden ist, erklärte bereits 1996: „Die arabischen Länder, die einst unterentwickelt waren und unter ihrem Mangel an Know-how und der fehlenden Infrastruktur litten, haben inzwischen große Fortschritte gemacht – das gilt vor allem für die Golfstaaten und Jordanien, sogar für Ägypten, dessen Wirtschaft sich dem Welthandel geöffnet hat. Auch Syrien hat eine moderne und effektive Infrastruktur aufgebaut, was dazu führt, daß heute nicht nur aus den arabischen Staaten Kapital ins Land fließt, sondern daß auch Syrer investieren, die im Ausland leben und denen es nicht an Erfahrung, Know-how und Einsicht in die Entwicklungen auf dem Weltmarkt fehlt.“3 Der Libanon konnte in diesem Rahmen seine traditionelle Rolle als einzige Schaltstelle für den Geldverkehr zwischen der arabischen Welt und dem Westen nicht länger behaupten.

Überdies blieb es nicht ohne schwerwiegende Folgen, daß nach dem Ende des Bürgerkriegs keine wirksame Sozialpolitik betrieben wurde. In ihrem Bericht über die Armut im Libanon schätzt die UN- Wirtschafts- und Sozialkommission für Vorderasien (ESCWA), daß etwa eine Million Libanesen (also 28 Prozent der Bevölkerung) unterhalb der Armutsgrenze leben. Darunter sind etwa 250000 Menschen, die in extremer Armut leben.4 Diese Entwicklung hat jedoch die Regierung nicht davon abgehalten, 1995 einen Lohnstopp zu verordnen – obwohl die Inflationsrate damals 10 Prozent betrug und die Preise nach wie vor auf dem hohen Niveau waren, das sie während der extremen Inflation vor 1993 erreicht hatten. „Diese Lohnstopp-Politik sollte die Kosten der Arbeitskraft niedrig halten, um ausländischen Investoren optimale Bedingungen zu bieten. Man muß das im Zusammenhang mit den Rezepten des Internationalen Währungsfonds sehen, der zum Beispiel die Einrichtung einer Steueroase empfohlen hat.“5

Ein weiterer wichtiger Faktor war die Abneigung Hariris gegen jede Reform der staatlichen Institutionen. Ohne solche Maßnahmen aber konnte eine Entwicklungspolitik gar nicht erst beginnen. Der Staat, den der Ministerpräsident vorfand, war aufgeteilt in „Fürstentümer“, und Hariri war nur zu gern bereit, mit den dort herrschenden Interessengruppen zusammenzuarbeiten. Schließlich gründete er seine eigene Lehnsherrschaft – seine Gefolgsleute rekrutierten sich aus dem Bereich seiner geschäftlichen Verbindungen. In welcher Weise dabei öffentliche und private Interessen verflochten waren, zeigte sich deutlich, als große Teile des Wiederaufbaus von Firmen durchgeführt wurden, die Hariri und seine Leute gegründet hatten.

Ein Beispiel sind die Beziehungen zwischen dem Rat für Entwicklung und Wiederaufbau (CDR), einer staatlichen Einrichtung, und dem Unternehmen Solidaire, zu dessen Hauptaktionären Hariri gehört. „Kurz gesagt, ein millionenschwerer Geschäftsmann hält wesentliche Anteile an einem privaten Unternehmen, dem die von ihm geführte Regierung den größten Auftrag im Rahmen des Wiederaufbaus zugesprochen hat, während eine staatliche Institution (der CDR) der Firma entscheidende Unterstützung leistet. Diese Übertragung staatlicher Mittel und Rechte an eine Reihe von quasistaatlichen Einrichtungen, die der Ministerpräsident geschaffen hat und kontrolliert, erscheint vielen Libanesen als eine Saudisierung ihres Landes.“6

Die Korruption, die längst überall im Staatsapparat wucherte, weitet sich nun im Namen der „Effektivität“ noch mehr aus. Als General Emile Lahoud Staatspräsident wurde, befaßte sich die Justiz mit der Affäre um die Veruntreuung von Geldern der Caisse autonome des municipalités – einer Einrichtung des Finanzministeriums, die im Auftrag der Bürgermeistereien verschiedene Steuern eintreibt. „Nach Angaben in der libanesischen Presse betrug die unterschlagene Summe 600 Millionen Dollar.“7 Die neue Regierung wird nun auch überprüfen lassen, welche Aufträge in den vergangenen drei Jahren von sieben Institutionen vergeben wurden, die dem Ministerpräsidenten Hariri direkt unterstellt waren. Es geht vor allem um die finanziellen Transaktionen des CDR.

Durch die Gegensätze innerhalb des politischen Systems werden die kommunitären Strukturen deutlicher hervortreten und sich verfestigen. Vor allem der Unmut der Christen wird in dieser Situation wachsen. Ihre feindliche Haltung resultiert zum großen Teil aus Mobilisierungsstrategien führender Kreise der christlichen Gemeinschaft – Mitglieder der Eliten, die nach den Abkommen von Taif ihre Vormachtstellung im politischen System eingebüßt haben und auch wirtschaftlich von Hariri aus dem Geschäft gedrängt wurden.

Ein weiterer Grund für das Auseinanderdriften ist, daß es an politischen Führern von Format mangelt. Als Hariri antrat, kam ihm zugute, daß seine potentiellen Gegner, die Gewerkschaft und die Organisationen der Linken, geschwächt aus der jüngsten Geschichte hervorgegangen waren, da man nicht zuletzt sie mit dem Umschlagen der kommunitären Konflikte in den Bürgerkrieg – mit seinem furchtbaren Preis an Gütern und Menschenleben – in Verbindung brachte.

Die 1982 im Anschluß an die iranische Revolution gegründete Hisbollah, die unter den Schiiten großen Einfluß besitzt, teilte zwar die Kritik an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kosten, die Hariris Vorgehen verursachte, widmete sich aber ausschließlich ihrem Kampf gegen die israelische Besatzung im Südlibanon. Durch diesen Widerstand waren im übrigen alle Kräfte genötigt, sich in der politischen Auseinandersetzung zurückzuhalten, um die innenpolitische Stabilität nicht zu gefährden. Dennoch gab es Anlässe, die zum Wiederaufleben des sozialen und politischen Protests führten, etwa die Vorlage eines neuen Informationsgesetzes, durch das die Regierung die Medien in den Griff bekommen wollte, oder der Versuch, dem Gewerkschaftsbund CGTL (Conféderation générale des travailleurs du Liban) eine regierungstreue Führung aufzuzwingen.

Syrien befürwortet Veränderungen

UNTER dem Dach der Opposition fand sich ein Bündnis aus ganz unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kräften zusammen, dem sowohl die Kommunistische Partei und die verschiedenen Fraktionen der Linken angehörten als auch liberale Reformer, Anhänger des früheren Generals Michel Aoun und schließlich sogar die Armee. Die Militärs betrachteten den zunehmenden Einfluß Hariris im Bereich der Wirtschaft, der Medien und der staatlichen Verwaltung mit steigendem Mißtrauen. General Lahoud, dem es vor seiner Wahl zum Präsidenten gelungen war, die Gräben zwischen den Gemeinschaften zu überwinden und die Armee nach den Jahren des Bürgerkriegs neu zu formieren, sowie die Reformregierung um Ministerpräsident Selim Hoss können also mit der Unterstützung durch sehr verschiedene Kräfte der Opposition rechnen.

Dennoch wäre die Ablösung Hariris ohne die veränderte Lage in der Region wohl kaum möglich gewesen. Der Stillstand der Friedensverhandlungen liegt nicht zuletzt daran, daß Israel und die arabischen Staaten gegensätzliche Vorstellungen von den künftigen Strukturen in der Region haben. Der Wissenschaftler Volker Perthes unterscheidet zwei Konzepte8 : Das eine wird von Schimon Peres, einem Teil der israelischen Führungsschichten und von den Vereinigten Staaten befürwortet; es sieht eine Art wirtschaftlicher Integration der Region vor und wird von Peres selbst als „Prinzip des Zusammenwirkens“ bezeichnet. Das andere, das sogenannte Prinzip der Trennung, ist zwar nicht Ausdruck der Ablehnung einer politischen Lösung des Konflikts, steht aber für die Befürchtung, eine Integrationslösung in der Region könne in der Praxis nur die wirtschaftliche und militärische Vormachtstellung Israels bedeuten.

Diesen Standpunkt hat Syriens Präsident Hafis al-Assad in aller Deutlichkeit vertreten, als er Ende 1994 erklärte, Damaskus ziehe einem Frieden zu den Bedingungen Israels und der USA den Status quo vor. In ähnlicher Weise hat sich auch der ägyptische Außenminister Amr Mussa geäußert.

Die Weigerung der arabischen Staaten, sich auf einen „Gemeinsamen Markt“ im Nahen Osten einzulassen, in dem sie nur eine Nebenrolle hätten, während wirtschaftlich und technologisch Israel im Mittelpunkt stände, hat zur Entstehung einer politischen Achse geführt, die Ägypten, Syrien und Saudi-Arabien verbindet. Das Klima verschlechterte sich weiter, als im Juni 1996 Benjamin Netanjahu sein Amt antrat, der aus seiner Ablehnung eines Rückzugs von den Golanhöhen nie ein Hehl gemacht hatte. Außerdem wurden die Spannungen in der Region und die Befürchtungen in Damaskus durch das Militärbündnis zwischen Ankara und Tel Aviv genährt. Die türkischen Militärs verfolgen gleichzeitig eine aggressive antisyrische Politik, die etwa in der jüngsten Krise zwischen den beiden Ländern im September und Oktober 1998 Ausdruck fand. Hinzu kommt die Gefahr eines Zusammenbruchs im Irak.

Die Gesamtheit dieser Umstände hat Syrien veranlaßt, die Veränderungen im Libanon zu befürworten, auch um die Situation zu entschärfen: Von sozialen Unruhen oder einer Zunahme der Spannungen zwischen den Gemeinschaften könnten schließlich Israel und die Türkei profitieren. Daß es in Syrien Baschar al-Assad, der voraussichtliche Nachfolger des amtierenden Präsidenten war, der die Regelung dieser Angelegenheiten übernahm, deutet nicht nur darauf hin, daß die Vorbereitungen für seine Amtsübernahme in Damaskus bereits im Gange sind, sondern zeigt auch, daß die jetzige Entwicklung im Libanon Teil der syrischen Strategie in der Region ist.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist in Beirut.

Fußnoten: 1 Guilain Denux und Robert Springborg, „Hariri's Lebanon“, Middle East Policy (Washington), Bd. VI, Nr. 2, Oktober 1998; siehe dazu auch Samir Kassir, „Désordre établi au Liban“, Le Monde diplomatique, Februar 1997. 2 El Quds El Arabi (London) vom 27./28. März 1999. 3 Georges Corm, „Zum Verständnis des Libanon und der Libanesen“ (arab.), Beirut (Dar al-Dschadid) 1996. Siehe auch, vom selben Autor, „Wo das Wunder auf sich warten läßt“, Le Monde diplomatique, September 1998. 4 Das bedeutet ein durchschnittliches Monatseinkommen von 306 Dollar für eine fünfköpfige Familie. Siehe dazu Antoine Haddad, „Die Armut im Libanon“ (arab.). Amman (ESCWA) 1996. 5 Ali Nassar, „Hariris System und die Voraussetzungen für einen sozialen Frieden“ (arab.), al-Hukul, Beirut, Januar 1999. 6 Guilain Denux und Robert Springborg, a.a.O. 7 Libération, 3. April 1999. 8 Volker Perthes, „Trennung oder Zusammenwirken im Nahost-Friedensprozeß“ (arab.), Schu'n al- Awsat (Beirut) Nr. 48, Januar 1996.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von WALID CHARARA