14.05.1999

Der Weg zum wunschlosen Glück

zurück

Der Weg zum wunschlosen Glück

Von PAUL ARIÈS *

IN Frankreich wird sich die nächste parlamentarische Untersuchung über Sekten auf deren Beziehungen zu Unternehmen konzentrieren und dabei vor allem die Scientology-Kirche untersuchen. Denn deren Einfluß und aggressiver Bekehrungseifer (Schulungszentren, Einsatz von Stars aus Showbusiness und Spitzensport) beunruhigen die Öffentlichkeit.

Der „Erfolg“ von Scientology enthüllt einige gravierende Tendenzen der modernen Warenwelt und stellt unter diesem Aspekt ein interessantes Untersuchungsobjekt dar. Technikkult hin, Institutionenmystik her: In der Scientologykirche ist man der Meinung, daß das Problem des Menschen der Mensch selbst ist. Man müsse ihn „befreien“ von seiner eigenen Unvollkommenheit, seinen Abhängigkeiten, seinen Schwächen – kurz gesagt, von seiner menschlichen Natur. Diese menschliche Natur kann nach Auffassung von Scientology nur wieder lebenstüchtig gemacht werden, wenn man sie ersetzt durch Techniken, welche Kraft und Macht bringen sollen. Daher gibt es sogenannte Techs (Technologien) für das Denken, für die Kommunikation, für den Verkauf, für das Leben in einer Paarbeziehung etc.

Diese „Techs“ sind das Werk des Amerikaners Lafayette Ronald Hubbard (1911-1986), der Autor zahlreicher Science-fiction-Romane und zudem ein genialer Verschwörungstheoretiker war.1 Er sei, so behauptete er, das erste menschliche Wesen, das den „Weg zur totalen Freiheit“ gefunden habe. Die „Standardtech“, die er aus dieser eigenen Erfahrung heraus entwickelt hat, soll „befreiend“ sein. In Wirklichkeit aber führt sie in die Knechtschaft. Sie reduziert das Individuum auf eine Reihe von Techniken und macht es so zum beliebigen Exemplar einer auf Normen basierenden Identität. Auf diese Weise profanisiert Scientology, was gemeinhin als heilig gilt (die menschliche Natur, das soziale Band) und heiligt im Gegenzug das Profane (Geld, Technik, Markt).

So gesehen liegt die Schädlichkeit der Scientology-Bewegung nicht so sehr in ihrer Abweichung, sondern gerade darin, daß sie eine „moderne“ Gesellschaftsvision untermauert. Es geht darum, die tüchtigen Leute zu ertüchtigen, jegliche Aktivität zu standardisieren und die Menschen zu normieren. So erklären die Scientologen, die Ermüdung bei der Arbeit habe ihre Ursache in persönlichen Problemen. Sie schlagen bestimmte „Techs“ vor, die helfen sollen, „irrationale Handhabungen – wie etwa Streiks – zu verhindern, weil sie ohnehin nur die Produktion und die guten sozialen Beziehungen innerhalb der Betriebe stören“. Derlei Beschreibungen stoßen bei zahlreichen multinationalen Firmen auf Interesse, wie es die langen Listen der Kunden bezeugen, die sich – nach Angaben von Scientology – ihrer Schulungstechnik bedienen (General Motors, Citroän, Lancôme, Perrier, Mobil Oil, Epson-Amerika, Volkswagen etc.)2 bzw. die „Stiftung des Weges zum Glück“ unterstützen (Coca-Cola, McDonald's etc.).3 Die siebzehn nach Hubbard benannten Verwaltungsschulen, in denen die „Tech“ des Managements unterrichtet wird, haben großen Zulauf. Nach den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Australien und der Schweiz gibt es nun auch in Rußland vier dieser Colleges, die pro Monat ungefähr 350 Führungskräfte ausbilden. 175000 leitende Angestellte will die Scientology bereits weltweit ausgebildet haben.

Die Anhänger der Bewegung sind lokal organisiert, in sogenannten Orgs, die entweder Filialen der Mutterorganisation oder kommerzielle Franchise- Unternehmen sind. Alle „Orgs“ wenden die gleichen Vorgehensweisen an. Die „Basisorgs“ verkaufen Einführungsdienste (von „preclear“ bis „clear“, wobei mit dem Wort clear der durch Scientology „geklärte“ Mensch bezeichnet wird). Die „fortgeschrittenen Orgs“ vertreiben die geheimen Dienste. Die Kirche behauptet, sie habe weltweit sechs Millionen Anhänger, dabei verbucht sie jedoch jeden, der je eines ihrer Produkte oder einen ihrer Dienste (Bücher, Seminare) in Anspruch genommen hat. Bis zu den geheimen Diensten hingegen sind nur einige zehntausend vorgedrungen. Eine vollständige Ausbildung kostet mindestens 165000 Mark.

Hinter der religiösen Fassade militarisiert sich die Bewegung zusehends. Anfangs, 1950, präsentierte sich die Dianetik als wissenschaftliche und therapeutische Disziplin, doch damit rief sie schnell den Widerstand der Ärzteschaft und insbesondere der Psychiater auf den Plan. So entwickelte Hubbard die religiöse Dimension, führte entsprechende Praktiken (Gebete) ein und genoß damit den Schutz des ersten Verfassungszusatzes (Religionsfreiheit) – und Steuerfreiheit, versteht sich. Als er 1966 seinen Leitungsposten aufgab, um sich seinen Forschungen zu widmen, schiffte er sich auf einer Flottille ein und gründete die „Sea Org“ (Seeorganisation), einen paramilitärischen Orden. 1976, als die Flotte aufgegeben wurde, ließ sich der Generalstab endgültig in den USA nieder. Allerdings blieben sämtliche Direktionsposten unter der Kontrolle dieser „Mönchs-Soldaten“. David Miscavige, Sohn eines Scientologenpaares und Mitglied der „Boten des Kommandanten“, kritisierte nicht lange danach die Neuausrichtungen der Techs, die der designierte Thronfolger David Mayo unternahm, und als die Führungskräfte von der amerikanischen Justiz wegen Spionage verurteilt wurden, erreichte er ihre Absetzung. Seither nehmen die USA eine recht wohlwollende Haltung gegenüber Scientology ein, während man in Deutschland die Bewegung bekämpft.

Die mit der Organisation verbundene Mystik (Aufladung, Überhöhung, Fetischisierung) kann für labile Menschen eine Art Stütze sein. Und es existieren diverse Mechanismen, um die Anhänger zu verunsichern. Ein System von Statistiken ist darauf angelegt, daß die Menschen ihre Leistungen permanent steigern sollen – eine Aufgabe, an der sie notgedrungen scheitern. Hinzu kommen Mechanismen ständiger Überwachung und Denunziation. Zusätzlich zur freiwilligen Denunziation sind zwanzig verschiedene Berichtsformen Pflicht (Meldungen über Schäden, Verluste, Ungehorsam, über Falschmeldungen und Nichtmeldungen usw.). Diese Informationen werden zusammen mit Protokollen der Beichten in die „Bio“ des Anhängers aufgenommen, was an die derzeit übliche Praktik der „totalen Qualitätssicherung“ erinnert, bei welcher der Arbeitnehmer ununterbrochen beobachtet, evaluiert und auf eine Funktion reduziert wird.

Nach Vorstellung der Kosmogonie der Scientologykirche sind die Menschen „Thetane“ (der Thetan ist das unsterbliche spirituelle Prinzip), die das Universum geschaffen haben, sich aber dann durch unglückliche Umstände in ihrer eigenen Schöpfung verfangen haben. Ein „Thetan“, der wieder handlungsfähig geworden ist, ein sogenannter „OT“ (operierender Thetan) beherrscht Materie, Energie, Raum und Zeit. Ein Anhänger von Scientology muß sich deshalb zunächst von seinen Giftstoffen, Drogen und Strahlungen reinigen und sich dann von seinen „falschen Zielen“ und „Valenzen“ lösen. (Unter „Valenzen“ verstehen die Scientologen kulturelle Identität, von der Familie übernommene Vorstellungen, nicht „techgemäße“ Freundschaften). Diese Lehre rüttelt also letztlich an den Fundamenten jedes Gefühls von Individualität, sie attackiert die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Du, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Scientology unterscheidet die Menschen in Auserwählte, Verdächtige und Asoziale. Zunächst stellt sie „die Guten“ den „Unterdrückern“ (suppressive Personen) gegenüber, wobei sie alle, die ihr feindlich gesinnt sind, automatisch als „Unterdrücker“ ansehen. Außerdem gibt es eine dritte Kategorie, die problematischer ist, weil sie sich aus PTS (potential trouble sources, potentiellen Störfaktoren) zusammensetzt. PTS sind all jene, die „Tonusschwankungen“, Störungen des Energiehaushaltes (durch Unfall, Krankheit, Häresie) aufweisen. Tatsächlich fällt die ganze Menschheit unter diese Kategorie. Die Scientology verbreitet eine Ideologie, die Schwäche abwehrt und den Schwachen verachtet. Konsequenterweise kritisiert sie den Wohlfahrtsstaat und Gewerkschaften, aber sie unterbreitet auch Vorschläge zur Unternehmensführung. Sie gibt an, unpolitisch zu sein, doch sie predigt einen undemokratischen Ultraliberalimus. Die Demokratie (das gemeinschaftliche Denken) ist in ihren Augen ein Ausdruck des „reaktiven Geistes“.

Wie alle Bewertungen der Scientologen, kann man auch die politischen Einstellungen numerisch auf der „Tonskala“ erfassen. Vierzig verschiedene „Tonstufen“ stehen zur Verfügung und ermöglichen es, Einfluß auf den psychischen Zustand eines Menschen zu nehmen. Personen, deren Bewertung unter der Stufe 2,0 liegt, sollten ihrer Bürgerrechte beraubt werden. Die „rote“ Subversion nimmt dabei den niedrigsten Platz ein (zwischen 1,1 und 1,3 auf der Tonskala), denn hier werden Hilfeleistungen unterstützt, die der Privatinitiative und dem Reichtum abträglich sind.

Die Linke verspricht Freiheit und Gleichheit, erdrückt aber die Starken: damit schadet sie dem Überleben. Sie ist die Religion der Schwachen, all jener, denen man nicht helfen kann. „Um eine vernünftige und brauchbare Welt zu schaffen, muß man nicht alle Welt zu clears machen“, schrieb Hubbard. „Man muß hierfür nur alle jene Personen ausschalten, die auf der Stufe 2,0 oder darunter liegen. Dies kann entweder erreicht werden, indem man sie ausreichend auditiert, um sie über 2,0 hinauszuführen, oder aber indem man sie von der Gesellschaft absondert.“4

Die Scientologykirche ist also eine Kriegsmaschinerie, die sich gegen den Humanismus und den republikanischen Gesellschaftsvertrag richtet. Sie ist das Laboratorium einer möglichen Welt. Gewiß: Unsere Gesellschaft soll unterschiedliche Zugangsweisen zum Universellen fördern. Muß sie aber deshalb eine solch radikale Infragestellung ihrer großen Gründungsprinzipien tolerieren?

dt. Dorothea Schlink-Zykan

* Politologe, Autor von „Les fils de McDo“, Paris (L'Harmattan) 1997 und „La Scientologie, laboratoire du futur. Les Secrets d'une machine infernale“, Lyon (Golias) 1999.

Fußnoten: 1 Russell Miller, „Ron Hubbard, le gourou démasqué“, Paris (Plon) 1993, (englischer Titel: „Bare-faced messiah: the true story of L. Ron Hubbard“, vergriffen). 2 „Qu'est-ce que la Scientologie?“, New Era, Los Angeles 1993, S. 424. Dieses und die folgenden Werke sind von Scientology herausgegeben. 3 „Ethique, justice et civilisation“, Ron Hubbard Library, 1995, S. 75f. 4 Lafayette Ron Hubbard, „Sciences de la survie. Prédiction du comportement humain“, Dianetikstiftung, Wichita 1951. Deutschsprachige Literatur zum Thema: Tom Voltz, „Scientology und (k)ein Ende“, Düsseldorf (Walter) 1995; Jörg Herrmann (Hg.), „Mission mit allen Mitteln. Der Scientology-Konzern auf Seelenfang“, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1992.

Le Monde diplomatique vom 14.05.1999, von PAUL ARIÈS