Das Debakel
Von IGNACIO RAMONET
SECHS Wochen nach Beginn der Bombenangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien ist bestürzend deutlich geworden, wie wenig planvoll, wie unvorbereitet, ja nachgerade improvisiert die Nato-Länder diesen Krieg angezettelt haben.
Zu Beginn der Kosovokrise ging es im wesentlichen um zwei Ziele: die Wiederherstellung einer substantiellen Autonomie für das Kosovo und die Anerkennung seiner (politischen, kulturellen, religiösen, sprachlichen usw.) Freiheiten. Vornehmlicher Zweck der Friedensgespräche von Rambouillet war es, diese Ziele friedlich zu erreichen, was den Unterhändlern der Serben und der Kosovaren (darunter auch Vertreter der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK) im wesentlichen auch gelungen schien, denn das Regime von Slobodan Milosevic hatte sich ausdrücklich bereit erklärt, dem Kosovo weitgehende Autonomierechte einzuräumen: Nach Abhaltung freier Wahlen sollte die Provinz Selbstverwaltungsorgane, ein eigenes Parlament, einen eigenen Präsidenten, eine eigene Gerichtsbarkeit und eigene Polizeikräfte erhalten.1
Warum aber, wenn in den wesentlichen Sachfragen Einigkeit herrschte, ist die Konferenz von Rambouillet dann gescheitert? Allein weil die Westmächte, insbesondere die USA, darauf bestanden, zur Überwachung der Vereinbarung Nato-Kräfte im Kosovo zu stationieren. Daß Belgrad sich einer derartigen Nato-Präsenz widersetzen würde, war bekannt. Und eben diese mehr als absehbare Weigerung erhob man zum casus belli. Niemand unternahm den Versuch, beispielsweise eine rein europäische Friedenstruppe oder etwa UN-Blauhelme zu stationieren. Die Alternative lautete: Nato oder Krieg. Was herauskam, war der Krieg.
Die Politik der serbischen Regierung gegenüber der albanischsprachigen Mehrheit des Kosovo war skandalös. Bereits 1981 hatten die Kosovo- Albaner, die einzige zugleich nichtslawische und vorwiegend nichtchristliche Nationalität Exjugoslawiens, heftig gegen ihren damaligen Status protestiert, den sie als diskriminierend empfanden. Um so mehr mußte ihnen die Rücknahme der (ohnehin beschränkten) Autonomierechte 1989 als Provokation erscheinen. Nach und nach wurde das kosovarische Parlament aufgelöst, albanischsprachiger Unterricht untersagt, über 150000 albanischsprachige Beschäftige aus dem öffentlichen Dienst und staatlichen Unternehmen entlassen und ein Kriegsrecht über die Region verhängt, durch welches sämtliche Machtbefugnisse de facto auf die Belgrader Repressionskräfte übergingen. Tatsächlich waren die Kosovo-Albaner in den letzten zehn Jahren zunehmend Opfer von Übergriffen, Gewalttaten und Mißhandlungen. Die albanophone Mehrheit sollte zur Auswanderung bewegt werden. Daß dies in einen Aufstand münden mußte, war unvermeidlich.
Während die Anhänger Ibrahim Rugovas passiven Widerstand leisteten, setzten die Anhänger der UÇK zunehmend auf Gewalt. In den letzten zwei Jahren begingen deren Kämpfer tödliche Anschläge auf Ordnungskräfte und die serbische Minderheit. Diese Aktionen, die in den Massenmedien breit dargestellt wurden, schlachtete das Regime in Belgrad geschickt aus: Es appellierte an die nationalistischen Gefühle der serbischen Bevölkerung und schürte den antialbanischen Rassismus.
Wie man sieht, war die Lage komplex und hatte, wie alle geopolitischen Fragen auf dem Balkan, eine lange Vorgeschichte. Die Suche nach einem Kompromiß war notgedrungen eine heikle, langwierige und schwierige Angelegenheit. Entsprechend hätte man den Friedensgesprächen von Rambouillet mehr Zeit einräumen müssen, zumal man hoffen konnte, durch die Präsenz von mehreren tausend OSZE-Beobachtern im Kosovo die Gewalt der Serben in Schranken zu halten.
DIE Geschichte lehrt, daß in dieser explosiven Region jede zur Unzeit erfolgte politische Veränderung unweigerlich eine Kette unvorhersehbarer Ereignisse nach sich zieht. Tragische Beispiele hierfür sind die Aufhebung des Autonomiestatus von Kosovo und Vojvodina durch Milosevic im Jahre 1989 und die voreilige Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens durch Deutschland und den Vatikan im Jahre 1991. Seit Beginn der Nato-Luftoffensive bewahrheitet sich dies aufs neue.
Die Luftangriffe, die eigentlich die Repressionsmaschinerie des Milosevic- Regimes zerstören sollten, führten, was durchaus voraussehbar war, zu verstärkten Repressalien. Mit ihrer kurzsichtigen Politik hat die Nato die Kosovaren in eine ähnlich gefährliche Situation gebracht wie die russische Offensive 1915 die Armenier in der Türkei. Die türkische Zentralregierung sah damals in den Armeniern eine „potentielle fünfte Kolonne“, also wurden sie umgebracht.
Unermüdlich beschreibt uns die Nato den ersten Mann Jugoslawiens als „blutrünstigen Diktator“. Da fragt man sich, ob die Nato nichts von den serbischen Säuberungsplänen und dem Tatendrang der Ultranationalistischen Bündnispartner Milosevic' wußte? Doch niemand hat sich offensichtlich – dies sei zur Entlastung der Nato gesagt – vorstellen können, daß die Antwort der Belgrader Machthaber derart verbrecherische Taten gegen die albanische Zivilbevölkerung des Kosovo vorsah.
Indes forderten die Bombenangriffe weitere Opfer, die nicht vorhergesehen wurden. Da die Luftoffensive ohne ausdrückliche Zustimmung des Sicherheitsrates erfolgte, verlieren die Vereinten Nationen weiter an Bedeutung. Hinzu kommt, daß die Exekutive in den meisten Nato-Ländern die Entscheidung ohne Beratung und Abstimmung in den Parlamenten traf, was die Glaubwürdigkeit der Vertretungsorgane herabmindert. Vor Ort treffen die Bombenangriffe nolens volens die serbische (mitunter auch die kosovarische) Zivilbevölkerung. Viele Menschen sterben durch fehlgesteuerte Waffen; die Zerstörung der Infrastruktur und der Fabrikanlagen nimmt Zehntausenden die Arbeitsstelle und macht den Alltag allmählich zur Hölle.
Im Gegensatz zu dem, was man offensichtlich erwartete, wenden sich die Menschen aufgrund der Bomben nicht von Milosevic ab. Vielmehr sehen sich die Bürger als Opfer einer kollektiven Bestrafungsaktion und rücken im Gefühl nationaler Einheit enger zusammen. „Das Vaterland ist in Gefahr“, heißt es, und in dieser aufgeheizten Atmosphäre sehen sich auch die demokratischen Regimegegner unter den Serben genötigt, als Patrioten zu reagieren und ihre Kritik an Milosevic vorerst einzustellen.
Auf diplomatischer Ebene schließlich bedeuten die Bombenangriffe eine Demütigung Rußlands. Dieses Land war in den letzten 200 Jahren ein wesentlicher geopolitischer Machtfaktor auf dem Balkan. Wird dieser nun übergangen, so droht die Gefahr, daß sich dort auf lange Sicht ein Herd der Instabilität entwickelt, der weltpolitisch unendlich viel gefährlicher wäre als die Lage auf dem Balkan selbst.
Die momentane Bilanz dieses ersten Nato-Krieges ist düster. Hinzu kommt die Gefahr, daß sich die Destabilisierung ausweiten könnte, zumal die – wiederum ohne UN-Mandat von der Nato beschlossene – Seeblockade gegen Jugoslawien zu Reibungen mit anderen Mächten führen kann – allen voran mit Rußland. Schon zeigen sich in Montenegro, Makedonien und Albanien erste Anzeichen von Instabilität. Bosnien wird ohne Zweifel in den Strudel mit hineingerissen werden, Kroatien möglicherweise auch. Doch auch Ungarn, Bulgarien und Rumänien, unter Umständen auch Griechenland, Moldawien und die Türkei könnten in den Konflikt hineingeraten. All diese Länder finden sich plötzlich in vorderster Front wieder, ihre Regierungen wie ihre Bewohner verfolgen die Ereignisse mit gemischten Gefühlen.
Angesichts des Debakels steht die Frage im Raum, warum man es mit dem Kriegführen so eilig hatte.2 Aus „moralischen“ Gründen, sagt die Nato; aus „humanitären“ Gründen, beteuern einige Kommentatoren. Diese beiden äußerst achtbaren Argumente vermögen gleichwohl nicht zu überzeugen. Denn mit ebenso vielen „moralischen“ und „humanitären“ Argumenten könnte man heute beispielsweise in Kurdistan intervenieren. Seit 1984 führt die Regierung von Ankara einen erbitterten Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, verweigert ihr nicht nur den Autonomiestatus, sondern sogar das Recht, in der Schule die kurdische Sprache zu unterrichten. Bisherige Bilanz: fast 29000 Tote und mehr als eine Million Flüchtlinge.3 Weitere „moralische“ und „humanitäre“ Gründe gibt es auch im Falle von Zypern. Hier ginge es darum, das Unrecht wiedergutzumachen, das den 160000 griechischen Zyprioten widerfuhr, die 1974 Opfer einer „ethnischen Säuberung“ wurden. Die türkische Invasionsarmee, die die Menschen damals unter grauenhaften Umständen aus Nordzypern vertrieb, hält diesen Teil der Insel noch immer widerrechtlich besetzt. Mehr als 60000 Siedler aus der Türkei haben sich unter deren Protektion seither dort niedergelassen.
Und schließlich ließe sich mit „moralischen“ und „humanitären“ Gründen auch eine Intervention zugunsten von Hunderttausendenden Palästinenser rechtfertigen, die durch die israelischen Staatsorgane unterdrückt, enteignet und vertrieben wurden. Noch heute versuchen die israelischen Behörden, die verbliebene palästinensische Bevölkerung aus Ost-Jerusalem zu entfernen, und fördern unter Mißachtung der einschlägigen internationalen Abkommen und UN-Resolutionen weiterhin die jüdischen Siedlungsprojekte im Westjordanland.
Niemand wird behaupten wollen, die Lage dieser drei Gemeinschaften – der Kurden, der griechischen Zyprioten und der Palästinenser – sei weniger empörend und ihr Anliegen weniger gerecht als Lage und Anliegen der Kosovo-Albaner. Warum dann arbeitet man dort an Verhandlungslösungen, während man hier Bombenteppiche legt? Offenkundig nicht aus moralischen, sondern aus politischen Gründen. Die Türkei und Israel sind demokratische Staaten mit einer liberalen Wirtschaftsordnung; sie sind alte militärische Bündnispartner des Westens, und sie liegen überdies in einiger Entfernung vom Zentrum der EU. Serbien hingegen ist alles andere als eine Demokratie, und der Staat, der nach wie vor die Wirtschaft kontrolliert, weigert sich, das neoliberale Modell der Globalisierer zu übernehmen. Damit aber geht das Land seinen osteuropäischen Nachbarn (auch Rußland) mit schlechtem Beispiel voran, denn auch diese haben unter den bedrückenden Folgen der Wirtschaftskrise zu leiden und zeigen Anzeichen von Orientierungslosigkeit. Dies also ist der eigentliche Grund für die unnachgiebige Haltung der Nato in diesen Zeiten der sich wandelnden Weltordnung.
Die militärische Allianz, die seit 1991 eine tiefe Identitätskrise durchlebte, hat sich selbst einen neuen Auftrag gegeben, aus dem sie fortan ihre Legitimität bezieht, nämlich die Gemeinschaft der demokratischen Nationen zu erweitern und zu stärken. Als Demokratie aber gelten nur jene Staaten, die die Marktwirtschaft übernehmen und sich der Globalisierung unterwerfen. Und last, but not least: dem Hegemonieanspruch der USA.