11.06.1999

Nachbarschaftliche Feindlichkeiten

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Nachbarschaftliche Feindlichkeiten

DIE Bombenattentate, die im Februar 1999 die usbekische Hauptstadt Taschkent erschütterten, haben sechzehn Todesopfer und über hundert Verletzte gefordert. Der Bürgerkrieg in Tadschikistan findet kein Ende. Im angrenzenden Usbekistan sind die alten Strukturen aus Sowjetzeiten noch immer intakt. Überall in der krisengeschüttelten Region haben islamische Gruppierungen wachsenden Zulauf. Brennpunkt der Krisenerscheinungen ist das Fergana-Tal, das sich durch alle drei Republiken zieht. Ethnische Spannunen und Streitigkeiten über Wasserversorgung und Land können hier jederzeit in gewaltsame Auseinandersetzungen münden.

Von unserem Korrespondenten VICKEN CHETERIAN *

Das Fergana-Tal, ein fruchtbarer Landstrich im Herzen der ansonsten rauhen Landschaft Zentralasiens: Im Norden und Westen schützen Bergketten das Tal vor dem unwirtlichen Wüstenklima und der Trockenheit der Steppe, während sich im Süden das Pamirgebirge mit mehreren über 7000 Meter hohen Gipfeln erhebt. Rund 9 Millionen Menschen, rund ein Fünftel der Bevölkerung Zentralasiens, leben in der 22000 Quadratkilometer großen Ebene. Von alters her ist Fergana das politische und religiöse Zentrum der Region, wo der Einfluß des Islam auch zu Sowjetzeiten spürbar blieb. Heute liegt das Tal im Schnittpunkt vielfältiger Konfliktlinien. Da es unter drei Staaten – Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan – aufgeteilt und zudem in zahllose Enklaven zerstückelt ist, kommt es häufig zu Grenzstreitigkeiten. Hinzu kommen ethnische Spannungen, Auseinandersetzungen über die Verteilung von Wasser und Land, Drogen- und Waffenhandel sowie politische Oppositionsbewegungen. Eine Bewegung neueren Datums ist der militante Islam, der hier als „Wahabismus“ bezeichnet wird.

In Kokand sind immer noch die Überreste des Khan-Palastes zu besichtigen. Das davorstehende Jakowlew-Flugzeug scheint den Kontrast zwischen der „Rückständigkeit“ des vergangenen Khanats und den Verheißungen der modernen Sowjetunion zu symbolisieren. Hier wurde 1918 die muslimische Regierung der autonomen Provinz Turkestan ausgerufen, die von den prosowjetischen Kräften sogleich wieder abgesetzt wurde. Dennoch ist die Stadt ein lebendiges Beispiel für den begrenzten Einfluß der Russen. Auf dem Basar verstehen die meisten Händler noch immer kaum Russisch, und die wenigen Talbewohner russischer Abstammung haben die örtlichen Gepflogenheiten übernommen. Unter den sowjetischen Machthabern wurde das Fergana-Tal zerstückelt, um die Entstehung einer gemeinsamen regionalen Identität zu verhindern, und die neuen unabhängigen Republiken führen diese Politik offenbar fort; auch sie fürchten und unterdrücken jede eigenständige politische Bewegung, die sich ihrer Kontrolle entzieht.

Das Fergana-Tal ist ein merkwürdiges Staaten-Puzzle, das den natürlichen Fluß von Handel und Verkehr nicht unerheblich behindert. Der größte Abschnitt des Tals gehört zu Usbekistan, und da in der tadschikischen Provinz Leninabad ebenso wie in Osch und in der kirgisischen Provinz Dschalal-Abad große usbekische Minderheiten leben, ist das Tal überwiegend usbekisch geprägt. Die Verbindungswege zwischen den verschiedenen Provinzen der drei Staaten verlaufen vielfach über fremdes Staatsgebiet. Die Eisenbahnlinie und die Straße zwischen der usbekischen Hauptstadt Taschkent und den drei usbekischen Fergana-Provinzen führen über die nordtadschikische Provinz Leninabad. Die Landstraßen der zweitgrößten Stadt Tadschikistans, Chudschand, und der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe führen über die usbekische Stadt Samarkand, die überwiegend von Tadschiken bewohnt ist. Die einzige direkte Straßenverbindung zwischen den beiden Städten führt über zwei Gebirgspässe in über 3000 Meter Höhe, die im Winter nicht passierbar sind. Und die Bahnreise auf der einzigen Linie zwischen dem kirgisischen Osch und der kirgisischen Hauptstadt Bischkek dauert zweiunddreißig Stunden.

Wer im November 1998 in der usbekischen Hauptstadt die Tageszeitungen aufschlug, hätte nicht vermutet, daß nur drei Autostunden entfernt, im nördlichen Tadschikistan, ein Krieg ausgebrochen war. Nur eine Kurzmeldung wies darauf hin, daß die Bahnverbindungen nach Chudschand auf unbestimmte Zeit unterbrochen und die Grenze zwischen Usbekistan und Tadschikistan geschlossen war. Der seit 1992 andauernde Bürgerkrieg in Tadschikistan hatte die nördliche Provinz Leninabad, die vom übrigen Tadschikistan durch zwei Gebirgsketten und eine eigenständige regionale Identität getrennt ist, bisher verschont. Am 3. November jedoch besetzten in Chudschand mehrere hundert Rebellen des ehemaligen Oberst Machmud Chudajberdijew strategische Plätze und brachten den Flughafen unter ihre Kontrolle. Der starke Mann von Chudschand, der frühere Premierminister Abdumalik Abulladschanow, unterstützte die Militäraktion. Die Regierung entsandte daraufhin loyale Truppen, die auf ihrem Weg nach Leninabad usbekisches Staatsgebiet überquerten, und nach einwöchigen schweren Kämpfen, die dreihundert Tote und eine größere Zahl von Verletzten verursachten, ergriffen die Anführer der Rebellen die Flucht.

„Wir hätten mit solchen Ereignissen im Norden niemals gerechnet“, empört sich der tadschikische Botschafter in Taschkent, Tadschiddin Mardonow, „sie sind uns einfach in den Rücken gefallen.“ Die Ereignisse im November werfen eine Reihe von Fragen auf. Wie konnte Chudajberdijew von seiner Bastion im südwestlichen Tadschikistan nach Chudschand gelangen? Es ist so gut wie unmöglich, 1000 bewaffnete Männer unbemerkt quer durchs Land zu transportieren. Auf welcher Ebene der usbekischen Regierung hatten die Rebellen Verbündete? Und gesetzt den Fall, die Operation war in Taschkent auf höchster Ebene geplant worden, warum erteilte die usbekische Regierung dann den tadschikischen Regierungstruppen die Erlaubnis, usbekisches Territorium zu passieren, um den Aufstand niederzuwerfen?

Es gilt als erwiesen, daß der usbekische Staatspräsident Islam Karimow den Chef der Aufständischen, Abdumalik Abulladschanow, unterstützt. „Die usbekische Führung organisiert Kommandoaktionen und gewährt den Aufständischen logistische Unterstützung, um ganz Tadschikistan unter ihre Kontrolle zu bringen“, erklärte der tadschikische Staatspräsident Imomali Rachmanow.1 Nach tadschikischen Quellen befanden sich unter den aufständischen Truppenverbänden auch afghanische Kämpfer von Usbeken-General Raschid Dostum, der in Afghanistan gegen die Taliban kämpft – ein weiterer Beweis dafür, daß Taschkent seine Finger im Spiel habe. Warum hat die usbekische Führung tadschikische Truppen passieren lassen, um die Rebellion niederzuschlagen? Wollte sie ihre Beteiligung an dieser Rebellion verschleiern? Oder handelte es sich um eine Warnung Duschanbes? Seitens der usbekischen Führung wird jede Beteiligung abgestritten.

Kein Wodka, nicht einmal bei Hochzeiten

AUF den Häuserwänden usbekischer Städte prangen Porträts von Timurlang und Präsident Karimow sowie Parolen zum Ruhm der Nation. Taschkent strebt den Ausbau seiner Vorherrschaft in Zentralasien an und lehnt die Politik Duschanbes ab. Das Friedensabkommen zwischen der Regierung und der islamisch dominierten Vereinigten Tadschikischen Opposition (UTO) räumt der UTO, dem größten Widersacher Taschkents, 30 Prozent der Regierungsämter ein. Verärgert ist die usbekische Regierung auch darüber, daß die Usbeken kaum Einfluß auf den politischen Entscheidungsprozeß in Duschanbe haben. Die Provinz Leninabad, wo die Usbeken großen Einfluß haben, ist ökonomisch die reichste Region Tadschikistans. Dennoch konnten die Usbeken ihre Interessen bei Verhandlungen über die Aufteilung der Macht nicht durchsetzen, weil sie am Bürgerkrieg nicht beteiligt waren und daher keinerlei militärische Druckmittel besitzen.

Nach den militärischen Zusammenstößen in Chudschand sind im Fergana-Tal abermals ethnische Konflikte aufgeflammt. Chudajberdijew sucht sich als Vorkämpfer für die Interessen der usbekischen Minderheit in Tadschikistan zu profilieren. Anfang der neunziger Jahre befürchteten viele Beobachter, der Zerfall der Sowjetmacht werde im Fergana-Tal zu ähnlichen Konflikten führen wie im Kaukasus. Im Mai 1989 kam es in Kokand, in Fergana und in anderen Städten zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die georgisch-türkischstämmigen Meßcheten. Innerhalb weniger Tage fanden Hunderte Menschen den Tod, Tausende verloren ihr Haus. Die Meßcheten gehören zu den von Stalin „bestraften“ Völkern, sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem südwestlichen Georgien deportiert und haben niemals eine Erlaubnis zur Rückkehr erhalten. 1990 kam es in den südkirgisischen Städten Osch und Uzgen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Usbeken und Kirgisen, die innerhalb weniger Tage Hunderte Todesopfer forderten.

Plausible Erklärungen für diese ethnischen Zusammenstöße sucht man vergeblich – aber warum die gewaltsamen Zusammenstöße nicht zu kriegerischen Auseinandersetzungen führten, kann man sich ebensowenig erklären. „Konflikte wurden vom KGB provoziert, um die muslimischen Völker gegeneinander aufzuhetzen und dadurch Zeit zu gewinnen“, meint der Rechtsanwalt und frühere Abgeordnete in Kokand, Ergaschbej Kuschmatow. Eine andere Erklärung liefert der Vorsitzende der Birlik-Partei in Fergana, Ismail Dadaschanow: „Die Meßcheten sind durchaus mitschuldig, es gab Fälle von Vergewaltigungen usbekischer Mädchen. Sie sind als Hungerleider gekommen und wurden hier reich und fett. Seit Jahren gab es Spannungen. Wenn dahinter wirklich der KGB steckte, wußte er genau, wen er zur Zielscheibe zu wählen hatte.“

Im Laufe der letzten zwei Jahre hat die Regierung jedoch begriffen, daß die einflußreichsten Faktoren der Instabilität von den islamischen Gruppen ausgehen, die man hier „Wahabiten“ nennt, obwohl sie nicht mit den Wahabiten in Saudi-Arabien in Verbindung stehen. Sie beziehen sich auf den islamischen Glauben und sind weder an dessen traditionelle Ausprägungen gebunden (wie die Muslimbrüder) noch dem Staat unterstellt. Namangan, eine der wichtigsten Städte im Tal, ist das Zentrum des islamischen Lebens. „Namangan war die einzige Stadt der Sowjetunion, in der nicht einmal bei einer Hochzeit eine Flasche Wodka auf dem Tisch stand“, erklärt Machamadali Karabajow, Vorsitzender des Menschenrechtskomitees der Stadt. Im Dezember 1997 wurden unter mysteriösen Umständen einige hochrangige Staatsdiener und Polizeibeamte ermordet. Während die Behörden die „Wahabiten“ beschuldigten, haben ausländische Beobachter die Mafia in Verdacht. Im Zuge der folgenden Repressionswelle wurden mehrere tausend „Wahabiten“ verhaftet und zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt.2

Um dem Bau von Moscheen Einhalt zu gebieten, hat die Regierung im Mai 1998 ein Gesetz verabschiedet, das sämtliche religiöse Institutionen zwingt, eine neue Genehmigung zu beantragen. „Vor dem Gesetzerlaß“, so Karabajow, „gab es 904 zugelassene Moscheen, einschließlich der nicht zugelassenen belief sich ihre Zahl auf über 1000. Heute gibt es im usbekischen Teil des Fergana-Tals nur noch 93 zugelassene Moscheen, und die 5, die in meiner Nachbarschaft existierten, sind nun geschlossen.“

Im Februar 1999 explodierten in Taschkent sechs Bomben, eine davon vor dem Eingang zum Parlamentsgebäude, wenige Minuten vor Ankunft von Staatspräsident Islam Karimow. 16 Menschen starben, weitere hundertdreißig wurden verletzt. Für die Regierung war dies ein versuchtes Attentat auf den Präsidenten, und sie machte islamische Kräfte dafür verantwortlich. Das usbekische Fernsehen zeigte Bilder der mutmaßlichen Bombenleger, es handelte sich um einen Mann aus Namangan und seine Frau. Nach Angaben des russischen Menschenrechtlers Witali Ponomarjow wurden nach den Bombenanschlägen zweihundert Menschen verhaftet. Einige von ihnen sind Mitglieder der laizistischen Oppositionspartei Erk.

Viele ausländische Beobachter sind der Auffassung, daß die „Wahabiten“ der Regierung als Sündenbock sehr zupaß kommen. Zum einen lassen sich damit die autoritären Tendenzen des Regimes rechtfertigen, zum anderen lenkt man von der weit größeren Gefahr ethnischer Konflikte ab. In jedem Fall sind die Regierenden eher am Erhalt ihrer Macht als an stabilen Verhältnissen interessiert.

Im übrigen fürchtet die usbekische Elite den Islam durchaus. Angesichts der Siege der Taliban in den letzten Jahren hat sich Taschkent politisch umorientiert und favorisiert nun nicht mehr das Bündnis mit Pakistan, sondern übt sich in einer Art Gleichgewicht zwischen Moskau und Washington, um einen von beiden als Partner für die regionale Entwicklung zu gewinnen. Ethnische Konflikte könnten zwar zerstörerisch wirken, doch zeigten die „nationalistischen“ oder „ethnischen“ Parteien Zentralasiens bisher keine große Mobilisierungsfähigkeit. Doch auch wenn sie vorerst keine wirkliche Bedrohung für die Machthabenden darstellen, könnten sie mittelfristig eine Alternative zu den derzeitigen „sowjet-nationalistischen“ Eliten bieten. Als Erbfolger des alten Regimes haben sie dessen Ideologie teilweise übernommen – insbesondere jene Elemente, die die Schaffung einer eigenständigen Republik mit eigener Geschichte, Sprache, Kultur und Literatur legitimieren –, wobei sie den Symbolgehalt dieser ideologischen Versatzstücke ihren eigenen Bedürfnissen anpaßten.3 „Ich kenne die Namen von einhundert Personen, die das Tal verlassen haben, um sich den islamischen Kräften in Tadschikistan und Afghanistan anzuschließen“, erklärt eine den militanten Islamisten nahestehende Persönlichkeit und fügt hinzu: „Die Gesamtzahl könnte bei rund eintausend liegen.“

Im äußersten Osten des usbekischen Teils des Fergana-Tals liegt Andidschan. In dieser Stadt steht das Symbol der wirtschaftlichen Errungenschaften der unabhängigen Republik Usbekistan: die Autofabrik von Daewoo. Der Ableger des südkoreanischen Automobilherstellers produziert fast sämtliche Personenwagen, die auf dem geschützten usbekischen Markt zu staatlich festgelegten Preisen verkauft werden. Usbekistan gehört zu den wenigen ehemaligen Sowjetrepubliken, die von umfassenden Privatisierungen Abstand nahmen und das staatswirtschaftliche Gefüge weitgehend beibehielten. Der Staat kontrolliert die Einfuhren und subventioniert alle Grundbedarfsgüter (Lebensmittel, Strom, Personenverkehr usw.). Im Gegensatz zu russischen und kasachischen Kollegen bekommen die usbekischen Arbeitnehmer ihre Löhne ausbezahlt. Das „usbekische Wirtschaftsmodell“ ist in einer Reihe von Büchern beschrieben, die den Staatspräsidenten als Verfasser ausweisen. Gerade vor dem Hintergrund der offenkundig gescheiterten „Reformen“ in den Nachbarstaaten hat dieses Modell große Aufmerksamkeit erregt. Demzufolge werden Wirtschaftsreformen in Usbekistan „schrittweise“ eingeführt, um stabile Verhältnisse zu garantieren und ausländische Investoren anzuziehen. Nach Auffassung mancher Beobachter gelang es Usbekistan dadurch, drastische Zusammenbrüche zu vermeiden, wie sie andernorts infolge marktwirtschaftlicher Radikalkuren auftraten.

Doch stößt offenbar auch dieses Modell auf Schwierigkeiten.4 Die Auslandsinvestitionen gehen zurück, und selbst die bereits etablierten Investoren haben mit ernsthaften Problemen zu kämpfen, verursacht durch die schwerfällige usbekische Bürokratie und ein schwer verträgliches Maß an Korruption. Nur Unternehmen mit einer staatlichen Sonderlizenz können die lokale Währung zum offiziellen Wechselkurs von 127 Usbekistan-Sum je Dollar wechseln – der Schwarzmarktpreis für einen Dollar liegt bei 375 Sum.

Die Subventionierung der Grundbedarfsgüter wird in erster Linie durch den staatlich monopolisierten Export von Baumwolle (rund die Hälfte aller Exporte) und Gold (16 Prozent) finanziert. Der Fall der Weltmarktpreise für Gold und die bereits im zweiten Jahr rückläufigen Ernteerträge bei Baumwolle könnten in diesem bevölkerungsreichsten Land Zentralasiens zu ernsthaften Wirtschaftsproblemen führen.

Das usbekische Andidschan ist durch keine natürliche Grenze von Osch, der zweitwichtigsten Stadt Kirgisistans, getrennt. Osch empfängt den Besucher mit dem stolzen Hinweis, daß man im Jahr 2000 das 3000jährige Bestehen der Stadt feiern wird. Auf den Straßen hört man häufig Russisch, Wodka kann man an jedem Kiosk kaufen, und die Bevölkerung besteht aus Usbeken, Kirgisen und Russen. Wenn man aus Usbekistan nach Osch kommt, hat man den Eindruck, daß hier ein Hauch Freiheit weht. Freie Meinungsäußerung und Kritik an der Reformpolitik von Präsident Askar Akajew ist möglich, ohne daß die Einwohner Angst vor der Polizei haben müßten. Zahlreiche lokale NGOs suchen drängende Probleme vor Ort zu lösen, ebenso hat Osch einige internationale Organisationen gewinnen können, die spezielle Programme für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen in der Region verfolgen.

Der Abgeordnete Bakit Beschimow arbeitet an einem Pilotprojekt der UNO, ein Entwicklungsprogramm für das Fergana- Tal, das sich mit den Ursachen der sozialen und wirtschaftlichen Spannungen im Tal beschäftigt. „Das Bevölkerungswachstum im Fergana-Tal ist höher als in anderen Regionen Zentralasiens, und auch dort liegt es über dem weltweiten Durchschnitt. Dies wird im Hinblick auf die natürlichen Ressourcen wie Wasser und Land zu zusätzlichen Spannungen führen, die sich in politischer Gewalt äußern könnten.“

Im Oktober 1998 wurde in Kirgisistan per Referendum ein Gesetz zur Privatisierung von Grund und Boden verabschiedet, in Zentralasien das erste seiner Art. Absamat Masalijew, von 1985 bis 1991 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Kirgisistans, ließ über die Medien verlauten, die Mehrheit der Kirgisen lehne die Privatisierung ab. Letztere sei Kirgisistan von den internationalen Währungsinstitutionen aufgezwungen worden, als Preis für die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO).

Im kirgisischen Teil des Fergana-Tals könnte die Privatisierung von Grund und Boden Rivalitäten zwischen der usbekisch- und der kirgisischstämmigen Bevölkerung auslösen. Obwohl seit 1990 keine größeren Gewalttätigkeiten zu vermelden waren, bestehen die Spannungen fort. Die Bevölkerung der Region ist schwer bewaffnet, und Rivalitäten um Land und Wasser könnten zu ethnischen Auseinandersetzungen oder zwischenstaatlichen Konflikten führen.

Der Bürgerkrieg in Tadschikistan

WER mit dem Auto von Osch nach Dschalal-Abad fährt (beide Städte liegen in Kirgisistan), muß zwei usbekische Enklaven durchqueren und also acht Zollkontrollen über sich ergehen lassen. In unmittelbarer Nähe der Transitstraße haben die Usbeken in den letzten Jahren eine Militärbasis errichtet, die man in Kirgisistan als Bedrohung wahrnimmt. Wie es heißt, könnte die usbekische Armee, die stärkste in der Region, die Basis nutzen, um im Fall ethnischer Konflikte in Osch oder Dschalal-Abad auf usbekischer Seite einzugreifen. Außerdem könnte der Posten als Ausgangsbasis für eine mögliche militärische Besetzung des Toktogul- Staudamms im Fergana-Massiv dienen. Kirgisistan bezieht von Usbekistan Erdgas, kann die Importe aber nicht mit harten Devisen bezahlen. Im Februar dieses Jahres, als sich die Schulden auf mehr als 3 Millionen US-Dollar beliefen, drehte Usbekistan zum wiederholten Mal den Gashahn zu.5 Im Gegenzug fordert die kirgisische Staatsführung nun, Usbekistan solle das Wasser aus den kirgisischen Bergen bezahlen, das in die Bewässerungsanlagen der usbekischen Baumwollplantagen fließt. Bischkek verlangt 5 Millionen US- Dollar für die Instandhaltung der Infrastruktur, doch Usbekistan hat diesbezügliche Gespräche bisher strikt verweigert.

Probleme mit der Wasseraufteilung vergiften auch die Beziehungen zwischen den Dörfern im äußersten Südwesten Kirgisistans. Raja Kadirowa aus Bischkek, Mitarbeiterin einer NGO, kommt gerade von einer Inspektionsreise in die Region Batken zurück. „Die kirgisischen Dorfbewohner machen die Tadschiken einer nahe gelegenen Enklave für die Wasserknappheit verantwortlich. Während die Wasserleitungen größtenteils auf kirgisischem Terrain liegen, befinden die Wasserhähne sich meist auf tadschikischer Seite.“ Aufgrund des knappen Ackerlands in der tadschikischen Enklave haben manche Bewohner ihr Haus illegal auf kirgisischem Boden errichtet. Durch die Ankunft tadschikischer Bürgerkriegsflüchtlinge nimmt die Zahl dieser Bauten weiter zu. Bei der kirgisischen Bevölkerung löst dieser Vorgang Angst und Verärgerung aus; sie betrachten die Wasserknappheit als Ergebnis einer tadschikischen Verschwörung: Man wolle sie von ihrem Land vertreiben und ihre Dörfer in Besitz nehmen. „Im Süden von Kirgisistan kann man die Konfliktregionen kaum näher bestimmen. Hier ist jedes einzelne Dorf ein potentieller Konfliktherd“, erklärt Kadirowa.

Osch hat sich zur regionalen Drehscheibe des Drogenhandels entwickelt. „Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist die 1200 Kilometer lange Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan durchlässig wie ein Sieb geworden“, sagt Alexander Selitschenko von der kirgisischen Drogenpolizei. Ursprünglich wurde das Opium von Afghanistan über die tadschikische Gebirgsprovinz Gorno-Badachschan nach Osch transportiert, von wo aus es nach Rußland und Europa gelangte. Seit einem Jahr tritt nach Angaben der Polizei zunehmend Heroin an die Stelle von Opium. Die meisten Transportwege führen nun von Afghanistan über Turkmenistan. „Noch vor zwei Jahren befanden sich die Heroinlabors im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, doch in letzter Zeit wurden sie in den nördlichen Teil Afghanistans verlegt“, fügt Selitschenko hinzu. Angesichts der Wirtschaftskrise in Kirgisistan und Tadschikistan nimmt der Drogenhandel besorgniserregende Ausmaße an. Selitschenko zufolge kostet ein Kilogramm Heroin an der afghanisch-tadschikischen Grenze 1500 Dollar, in Osch kostet es 5000 Dollar, und in der kasachischen Hauptstadt Almaty 20000 Dollar. Ein Polizeibeamnter etwa verdient in Kirgisistan monatlich ganze 40 Dollar.

Gelder aus dem Drogenhandel könnten in die Finanzierung schwelender Konflikte fließen oder gar neue Konflikte auslösen. Tadschikische und afghanische Warlords benutzen mangels Bargeld Opium und Heroin als Devisenersatz, um Lebensmittel, Benzin und Waffen zu kaufen. Selitschenko ist besorgt über Anzeichen, daß sich die Drogenströme über die afghanische Grenze in Richtung Osten verlagern könnten: „Falls sich der Drogenhandel mit der separatistischen Bewegung der Uiguren verquickt, könnte es in der chinesischen Autonomen Region Xinjiang massive Problemen geben.“6

Die Autofahrt von Osch nach Bischkek dauert zwischen zehn und zwölf Stunden. Die Straße führt durch eine Hochgebirgslandschaft mit wunderschönen Ausblicken auf Bergseen und Bäche, bevor sie ins Chuy-Tal hinabsteigt, wo die Hauptstadt Kirgisistans, Bischkek, liegt. Die Reise zeigt, wie sehr Kirgisistan in gewisser Hinsicht aus zwei Ländern besteht: Das eine liegt im Fergana-Tal und ist nach Usbekistan hin orientiert, das andere blickt nach dem weitgehend russisch geprägten Kasachstan. Dazwischen liegen kahle Bergketten, die im Winter mehrere Monate lang unzugänglich sind. Beim Verlassen des Fergana-Tals muß man unweigerlich an die Gefahren zurückdenken, die dieses lebenspendende Tal bedrohen. Die internationalen Organisationen sind sich daher zunehmend bewußt, daß Eile geboten ist, um eine Explosion der Gewalt zu verhindern. Die Fähigkeit zur „Konfliktprävention“ könnte gerade im Fergana- Tal unter Beweis gestellt werden. Doch wie sollte ein solches Projekt aussehen, das sich zugleich auf das demokratische, aber chaotische Kirgisistan, das autoritäre und mißtrauische Usbekistan und das vom Bürgerkrieg zerrissene Tadschikistan anwenden läßt?

dt. Bodo Schulze

* Journalist, Genf.

Fußnoten: 1 Reuters, Duschanbe, 12. November 1998. 2 Dazu der detaillierte Bericht von Human Rights Watch, „Crackdown in the Ferghona Valley: Arbitrary Arrests and Religious Discrimination“, Bd. 4, Nr. 1 (D), Mai 1998. 3 Dazu Olivier Roy, „L'Asie centrale et le national- soviétisme“, Cahiers internationaux de sociologie, Paris, Bd. XCVI, S. 177-189. 4 Eine interessante Erörterung dieser Frage findet sich bei Andrew Apostolou, „The Mistake of the Uzbek Economic Model“, Central Asia Monitor 2 (1998) – http://www.chalidze.com/cam98a/apostolou.htm. 5 Radio Free Europe/Radio Liberty Newsline, elektronisches Bulletin, Prag, 26. Februar 1999. 6 Dazu Vincent Fourniau, „Die Uiguren von Sinkiang sollen zu Chinesen werden“, und Claude Liscia, „Das große Heimweh der Flüchtlinge in Kasachstan“, Le Monde diplomatique, September 1997.

Le Monde diplomatique vom 11.06.1999, von VICKEN CHETERIAN