Indonesiens Doppelspiel in Ost-Timor
DIE indonesischen Parlamentswahlen vom vergangenen Wochenende sind für Ost-Timor von geringer Bedeutung. Die Zukunft der ehemaligen portugiesischen Kolonie, die 1975 von Indonesien besetzt und 1976 annektiert wurde, entscheidet sich am 8. August dieses Jahres. An diesem Tag soll ein Plebiszit stattfinden, in dem sich die Timoresen zwischen weitgehender Autonomie und Unabhängigkeit entscheiden können. Bis dahin wird die indonesische Armee in Timor bleiben. Sie schürt dort ein Klima der Gewalt, indem ie gaz offen Milizen bewaffnet, die gegen die Anhänger der Unabhängigkeit vorgehen. Es steht zu befürchten, daß ein korrekter Ablauf der Volksbefragung gefährdet ist.
Von JEAN-PIERRE CATRY *
UNO-Generalsekretär Kofi Annan und der Staat Portugal haben alles, ja fast sogar zuviel getan, damit das Referendum zustande kommt, mit dem im August über die Zukunft Osttimors entschieden wird. Am 5. Mai unterzeichneten Portugal und Indonesien einen Vertrag, der sich – ohne explizite Nennung des Inhalts – auf die Resolutionen 384 und 389 des Sicherheitsrates bezieht, in denen der Abzug der indonesischen Streitkräfte verlangt wird. Dieselben Soldaten, die für den Tod eines Drittels der timoresischen Bevölkerung verantwortlich sind, sollen nunmehr ihre Sicherheit garantieren.
Mit der Abstimmung erhalten die Timoresen die Gelegenheit zu wählen, ob die Indonesier bleiben oder abziehen sollen – eine Entscheidung, die in Anwesenheit von 30000 indonesischen Militärs stattfinden wird. Deren Rückzug ist zunächst nicht vorgesehen, in einem beigefügten Memorandum spricht der UNO- Generalsekretär lediglich von einer „Verlegung“ der Streitkräfte. Die UNO begnügt sich damit, unbewaffnete Sicherheitskräfte zu entsenden, deren Zahl jedoch nicht genau festgelegt wurde. Die Rede ist von 300 Personen. Es stellt sich die Frage, ob die Umwälzungen in Indonesien und vor allem in der Armee ein solches Vertrauen rechtfertigen.
Nach dem Sturz von Präsident Suharto im Mai 1998 schien sein Nachfolger Jusuf Habibie sich darum zu bemühen, das Problem Ost-Timor neu anzugehen, da es dem Image Indonesiens in der Welt schadet. Im Juni 1998 versprach er, die indonesischen Truppen schrittweise abzuziehen. Am 5. August unterbreitete Indonesien ein Autonomieangebot und schien damit zum ersten Mal wirklich gewillt zu sein, die Frage unter der Schirmherrschaft der UNO zu lösen. Die Gespräche über Ost- Timor waren seit 1983 ohne Ergebnis geblieben.1
Das Angebot entpuppte sich jedoch als weniger großzügig, als es zunächst den Anschein hatte. Es enthielt die inakzeptable Vorbedingung, daß die Vereinten Nationen und Portugal die Annexion von 1976 anerkennen. Dennoch entschlossen sich Kofi Annan und die portugiesische Regierung, diese Gelegenheit zu ergreifen, um weiterführende Verhandlungen in Gang zu bringen. Das UNO-Sekretariat erarbeitete ein Autonomiestatut, das die Möglichkeiten innerhalb der von Jakarta auferlegten Einschränkungen so weit wie möglich ausschöpft. Laut indonesischem Vorschlag sind so fundamentale Bereiche wie Sicherheit, Auslandsbeziehungen und bestimmte Steuereinnahmen, vor allem die Förderabgaben aus dem Erdölsektor, ausgeschlossen. Die timoresischen Führer der Unabhängigkeitsbewegung erklärten sich bereit, die Autonomie als eine Übergangsphase zu akzeptieren.
Unterdessen nutzte die timoresische Bevölkerung die eingetretene politisch- militärische Entspannung und demonstrierte für die Unabhängigkeit des Landes. Eine Abordnung der Europäischen Union, die sich im Juni vergangenen Jahres in Timor aufhielt und Zeuge der Kundgebungen wurde, unterbrach ihren Besuch unter Protest, nachdem die bewaffneten Streitkräfte mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgegangen waren und einige von ihnen getötet wurden.
Seither mehren sich die Anzeichen dafür, daß Indonesien ein doppeltes Spiel treibt. Im Juli 1998 lud die Armee Hunderte Journalisten in die timoresische Hauptstadt Dili ein, die dem Abzug von tausend Soldaten beiwohnen sollten. Weitab der Fernsehkameras gingen jedoch gleichzeitig mehrere tausend Soldaten im Schutz der Nacht oder an entlegenen Stränden an Land.2 Nach einer viermonatigen Pause wurden Anfang Oktober auch die militärischen Operationen wieder aufgenommen, so daß Kofi Annan sich gezwungen sah, eine „substantielle Truppenreduzierung“ zu fordern. Der indonesische Außenminister Ali Alatas entgegnete daraufhin, in Ost-Timor seien nicht mehr als 6000 Soldaten stationiert.
Drei Tage später war jedoch in detaillierten offiziellen Militärstatistiken zu lesen, daß sich die Truppenstärke auf 21000 Mann beläuft. Der Zivilbeamte in der Behörde für Militärstatistiken in Dili, der diese Informationen durchsickern ließ, enthüllte außerdem, daß weitere 11000 Militärs, die der Kontrolle des militärischen Informationsdienstes (SGI) unterstehen, in diesen Statistiken nicht enthalten seien. Damit beläuft sich die Zahl der Soldaten auf 32000. Bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 800000 Menschen kommt auf 25 Einwohner ein Soldat.3
Vertreter Indonesiens und Portugals trafen sich im November erneut in New York, als Informationen über Massaker an der Zivilbevölkerung in der Region Alas an die Öffentlichkeit gelangten. Portugal forderte, die Verhandlungen so lange zu unterbrechen, bis Indonesien eine von der UNO geleitete Untersuchung der Vorfälle akzeptiert. Die indonesischen Diplomaten überbrachten das Einverständnis ihrer Regierung. Tamrat Samuel wurde als UNO- Beauftragter nach Timor entsandt, dort aber von den Militärs daran gehindert, nach Alas zu gelangen. Die Untersuchung hat daher niemals stattgefunden.
Im Dezember 1998 erklärten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bei ihrem Treffen in Wien: „Der Europäische Rat vertritt die Ansicht, daß eine endgültige Lösung der Ost- Timor-Frage ohne eine freie Befragung, die den Willen der Bevölkerung zum Ausdruck bringt, nicht möglich ist.“4 Daraufhin sorgte die indonesische Führung am 27. Januar 1999 für eine große Überraschung. Die indonesische Regierung müsse die soeben gewählte Beratende Volksversammlung (DPR) auffordern, die 1976 getroffene Entscheidung über die Integration aufzuheben, falls die Timoresen die angebotene Autonomie nicht akzeptieren.5 Dieses Mal scheint das Angebot zu schön, um wahr zu sein.
Bevor der Präsident diese Entscheidung traf, habe er nur einige Personen aus dem engsten Kreis befragt, vertraute Dewi Anwar Fortuna, wichtigste Beraterin von Präsident Habibie in der Ost-Timor- Frage, der Jakarta Post an. Minister Ali Alatas, einflußreichster und entschiedenster Verteidiger der Annexion auf internationaler Ebene, wurde nur wenige Tage vor der öffentlichen Erklärung davon unterrichtet. Dieser Vorgang ist bezeichnend für die Differenzen, die auf den höchsten Ebenen der Macht in Indonesien herrschen. Dewi Anwar Fortuna versicherte, Alatas und General Wiranto, Chef des Generalstabs und Verteidigungsminister, hätten die Entscheidung zwar akzeptiert, aber gleichzeitig erklärt, daß die Annexion gerechtfertigt gewesen sei.6
Habibies Vorschlag benannte die Möglichkeit einer eventuellen „Ablehnung“ der Autonomie durch die Timoresen, Ali Alatas hingegen sprach sich nach wie vor gegen ein Referendum aus, in dem die Bevölkerung eine solche Ablehnung äußern könnte. In diesem Punkt bewiesen die Vereinten Nationen jedoch Kohärenz und Unnachgiebigkeit. So akzeptierte Jakarta schließlich, unter der Bedingung, das die Befragung nicht als „Referendum“ bezeichnet wird. Die „Befragung“ wird nun von den Vereinten Nationen organisiert und kontrolliert, von der Erfassung der Wählerschaft bis hin zur Bekanntgabe der Ergebnisse. Die Timoresen können der von Jakarta vorgeschlagenen Autonomie zustimmen oder sie ablehnen – in der Formulierung der Frage wird deutlich, daß mit der Zustimmung die Integration in den indonesischen Staat verankert wird und eine Ablehnung die „Trennung von Indonesien“ bedeutet.
An dem Ergebnis der Abstimmung, sollte sie tatsächlich unter freien Bedingungen erfolgen, zweifelt niemand. Seither beeilen sich Diplomaten und Politiker, Xanana Gusmao aufzusuchen, den Chef des timoresischen Widerstands, der noch immer in Jakarta im Gefängnis sitzt. Die Diskussion über das Autonomiestatut ist nunmehr völlig bedeutungslos. Portugal und die UNO machten sich nicht einmal mehr die Mühe, den Text des Statuts zu überarbeiten, den die Indonesier verändert haben und der damit zum Exklusiv-Vorschlag Jakartas wurde. In den Mittelpunkt rückten die Modalitäten der Abstimmung und die Sicherheitsbestimmungen bei deren Durchführung, die durch den Vertrag vom 5. Mai festgelegt sind.
„Die Kugel rollt, und niemand wird sie aufhalten können“, soll der Präsident im engen Kreis seiner Berater gesagt haben.7 Diese vertrauliche Mitteilung ist zugleich das Eingeständnis, daß der Widerstand gegen eine diplomatische Lösung proportional zu ihren Fortschritten zunimmt. Im April 1999 erklärte Oberst Suratman, militärischer Befehlshaber in Ost-Timor, daß 50000 Zivilisten zu Sicherheitsgarden ausgebildet werden sollen. In Wirklichkeit aber sollten sie gegen die Anhänger der Unabhängigkeit vorgehen.8 Die Milizen, die von der Armee bezahlt, bewaffnet und ausgebildet werden, sind nicht alle Osttimoresen, und die Osttimoresen unter ihnen sind nicht alle proindonesisch. Tausende Menschen wurden in die Flucht getrieben und suchten Schutz in den Bergen oder bei der katholischen Kirche. Wer nicht entkommen kann, muß sich der Miliz anschließen, wenn er überleben will. Dabei werden den Timoresen häufig traditionelle, mit Blut besiegelte Treueschwüre abverlangt. Durch die Anwendung solcher Bräuche werden die gering Gebildeten unter einen psychologischen Druck gesetzt, der ihnen jede Entscheidungsfreiheit nimmt.
Die Macht der UNO und die Macht des Militärs
DIE Milizen arbeiten Hand in Hand mit den bewaffneten indonesischen Streitkräften. Am 6. April suchten etwa 1200 Menschen auf der Flucht vor den Milizen Schutz in der Kirche von Liquiça, 30 Kilometer von Dili entfernt. Die indonesische Polizei griff ein und verbrachte die Priester zum Militärkommando. In deren Abwesenheit warfen mobile Einsatzkommandos der Polizei Tränengasgranaten in die Kirche. Als die Flüchtigen ins Freie drängten, liefen sie der Miliz geradewegs in die Arme. Die Menschenrechtsorganisation HAK, die über das Massaker berichtete, identifizierte 62 der verstorbenen Opfer sowie 40 Verletzte und 14 Vermißte.9 Indonesien lehnte eine internationale Untersuchung der Vorfälle ab.
In Dili kündigten die Milizen an, alle Timoresen umzubringen, die vor ihrer Tür nicht die indonesische Flagge gehißt haben. Am 17. April drangen 1500 Milizangehörige in die Stadt ein und nahmen an einer Parade teil, bei der der proindonesische Gouverneur Abilio Osorio Soares das Wort ergriff. Im Anschluß daran machten sie Jagd auf die Führer der Unabhängigkeitsbewegung, wobei sie etwa 30 Menschen töteten (wie in Liquiça wurden viele der Leichen von den Mördern mitgenommen). Zwar befand sich zu dieser Zeit der irische Außenminister zu Besuch in Dili, doch das konnte den Militärkommandanten und den Polizeichef, die Obersten Suratman und Silaen, wenig beeindrucken. Sie erklärten, nicht eingreifen zu können: „Wir sind neutral!“
Während manche Verantwortliche noch zu leugnen versuchen, daß Waffen an Zivilisten verteilt und damit Unbewaffnete getötet werden, sind andere gesprächiger.10 An Geld fehle es nicht, sagt der „Stabschef“ der Milizen, Herminio da Costa e Silva, es kommt unter anderem „von reichen indonesischen Bürgern.“ Die indonesische NGO Tapol nennt die Namen der Generäle Murdani und Try Sutrisno.11
Tatsächlich sind die indonesischen Streitkräfte alles andere als neutral. Zwar unterzeichneten am 21. April die Obersten Suratman und Silaen ein Friedensabkommen mit der Unabhängigkeitsbewegung, doch Anfang Mai traten sie an der Seite der Chefs der Milizen vor die Öffentlichkeit, um die Auflösung des Osttimoresischen Widerstandsrats (CNRT) und „den Beitritt seiner Mitglieder zur Idee der Integration“ zu verkünden.12
Kofi Annan zeigte sich sichtlich verärgert, als ihn ein Journalist mit der Frage nach der Neutralität der indonesischen Armee konfrontierte: „Welche Lösung würden Sie vorschlagen?“ fragte er zurück. Offenbar werden alle Vorkehrungen, die der Generalsekretär so sorgfältig getroffen hat, nach und nach in Frage gestellt. Es ist kein Zufall, daß gerade die beiden Bedingungen, an denen Indonesien unnachgiebig festhielt – das Verbleiben seiner Streitkräfte in Ost-Timor und die Ablehnung von „Blauhelmen“ – die Gewähr dafür sind, daß die Armee die Kontrolle vor, während und selbst nach der Abstimmung behält. Denn die Umkehrung der Kräfteverhältnisse soll erst stattfinden, wenn die Beratende Volksversammlung das Abstimmungsergebnis ratifiziert hat.
Nachdem die Militärhierarchie unter dem Suharto-Regime politische und wirtschaftliche Privilegien erworben hatte, könnte sie nun das Ziel verfolgen, die Demokratisierung in Indonesien und die Unabhängigkeit Osttimors aufzuhalten, um ihre eigenen Vorrechte zu sichern. Angesichts wirtschaftlicher Interessen wird sie möglicherweise aber auch auf den Druck seitens der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) empfindlicher reagieren. Mit einer Klausel, in der die Bedingungen für die Kreditvergabe durch die Weltbank und die wichtigsten Geldgeber festgelegt sind, könnte die Beratungsgruppe für Indonesien bei ihrem Treffen im Juli der indonesischen Militärhierarchie zu verstehen geben, daß die Zeiten sich geändert haben.13
Eines der Argumente, das Indonesien zugunsten der Integration vorbringt, lautet, Ost-Timor sei wirtschaftlich nicht überlebensfähig. Was die Größe anbelangt, so gibt es mindestens 45 unabhängige Länder, darunter viele im asiatisch- pazifischen Raum, die weniger Einwohner als Ost-Timor haben. Und was die eigentlichen Ressourcen betrifft, so hat Indonesien dem Gebiet zwar nicht zu einer dynamischeren Entwicklung verholfen, doch nennen Experten den Erdölsektor, die Landwirtschaft und den Tourismus als mögliche Einnahmequellen. Ungeachtet der derzeitigen Unruhen haben sich timoresische Manager, die in Ost-Timor selbst oder in anderen Ländern leben, kürzlich in Australien getroffen, um mit Unterstützung ausländischer Experten und Organisationen die verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten des künftigen Landes zu analysieren.
Das Abkommen vom 5. Mai sieht nach einem Rückzug Indonesiens eine Übergangsphase unter der Leitung der UNO vor. Portugal, das von der UNO als Verwalter anerkannt wurde, hat sich zu substantieller Hilfe verpflichtet. Und von Australien ist anzunehmen, daß es ins andere Lager wechseln wird, sobald das Erdölgeschäft einen neuen Besitzer hat.
„Alle Welt verspricht mir Hilfe für ein unabhängiges Timor, dabei brauchen wir die Hilfe jetzt“, schrieb Xanana Gusmao im April angesichts der zunehmenden Gewalt im Lande. Solange die militärische Präsenz Indonesiens stärker ist als die der UNO, wird der Vertrag von New York ein virtuelles Abkommen bleiben. Diese Präsenz schränkt die Freiheit der Wähler ein. Sie zu ignorieren, könnte letztlich in die Katastrophe führen.
dt. Erika Mursa
* Initiator der Vereinigung „Der Frieden in Ost-Timor ist möglich“, Lissabon.