Dies ist die Stunde der Zivilgesellschaft
Von unserem Korrespondenten MANUEL VÁZQUEZ MONTALBÁN *
OBWOHL Subcomandante Marcos in Chiapas belagert wird, setzt er die mexikanische Politik auch seinerseits unter Druck. Nichts ist mehr wie zuvor, seit der Zapatismus am 1. Januar 1994 auf die politische Bühne trat und der vom Neoliberalismus geprägten mexikanischen Wirklichkeit den Spiegel vorhielt. Nach Ansicht von Marcos sind die Zivilgesellschaft und die sozialen Bewegungen neben den politischen Parteien und den Gewerkschaften zu neuen Trägern gesellschaftlicher Veränderung geworden, die sogar wirksamer sein können als die alten. Nach Ansicht von Marcos verwischt das gegenwärtige politische System die Klassenschranken; aber genau dadurch kann es im Gegenzug entscheidend zur Selbstverwirklichung des Individuums bzw. zur Durchsetzung der Zivilgesellschaft beitragen. Letztere ist keiner bestimmten politischen Linie verpflichtet – anders als früher die Arbeiterbewegung, die nach Meinung der Leninisten oder Trotzkisten gleichsam „von Natur aus“ zur kommunistischen Partei gehörte. Die Zivilgesellschaft kann, wenn sie linken Werten treu bleibt, zur wichtigsten verändernden Kraft werden, da sie den Prinzipien von Überzeugung und Vernunft verpflichtet ist.
M.V.M.:Ich habe den Eindruck, dass du – so wie Jean-Jacques Rousseau oder die Anarchisten an den „Guten Wilden“ glaubten – an die „gute Zivilgesellschaft“, an die „gute soziale Bewegung“ glaubst. In einer Zivilgesellschaft ist jedoch alles vertreten, also auch jede Menge reaktionäre, konservative, intolerante und alles Neue ablehnende Menschen. Wie wollt ihr die gute Zivilgesellschaft mobilisieren – und nicht die schlechte?
S.M.: Unserer Ansicht nach besteht das Problem nicht darin, dass es solche Tendenzen in der Gesellschaft gibt. Das Problem ist, dass es an Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit mangelt, damit sich die Erwartungen der Bürger auch öffentlich artikulieren und einen öffentlichen Raum erkämpfen können. Wenn die wirtschaftlich Mächtigen daran interessiert sind, dass etwa faschistische Einstellungen, die es in jeder Gesellschaft gibt, Verbreitung finden, werden sie eine ganze Maschinerie in Gang setzen, um ihnen zum Erfolg zu verhelfen. Und sie werden dafür sorgen, dass andere Ansichten keine Gelegenheit erhalten, gegen die von ihnen favorisierten Ideen zu konkurrieren.
Wir haben keine Angst vor faschistischen Tendenzen in der Gesellschaft. Wir sagen: Wenn alle gleichermaßen Zugang zu den Massenmedien erhalten und in direkten Kontakt mit den Menschen treten können, dann werden sich, davon sind wir überzeugt, die menschlichsten, vernünftigsten, gerechtesten, freiesten und demokratischsten Vorstellungen gegen alle anderen durchsetzen. Es geht nicht darum, irgendwelche Ideen zu verbieten, sondern darum, dass sie sich auf politischer Ebene der Diskussion stellen. Und dass dann den Menschen die Entscheidung überlassen bleibt. Nicht die Gewalt soll entscheiden, sondern die Vernunft.
Unterschätzt du nicht die repressiven Möglichkeiten des mexikanischen Regimes?
Es gibt in der Tat in der mexikanischen Gesellschaft ein Establishment, das sich aus den Kreisen zusammensetzt, die die Macht in Händen halten, sowie aus denen, die mit ihnen paktieren, weil sie unmittelbar von ihnen profitieren. Hinzu kommt ein dichtes Netz der Vetternwirtschaft, das alle diejenigen sozialen Schichten durchzieht, die jedem Ansatz einer kritischen Zivilgesellschaft ablehnend gegenüberstehen, weil das ihr Ende bedeuten würde. Außerdem können sie mit ihrer Propaganda, den Massenmedien, den Kulturinstitutionen, ja sogar mit direkter Unterdrückung gegen uns zu Felde ziehen.
Der Kalte Krieg zieht nicht mehr
Wie lange werden sie das durchhalten? Wie lange können sie noch behaupten, dass es die Indios seien, von denen sich die mexikanische Mittelklasse bedroht fühlen muss, und nicht etwa von den globalen Machtzentren?
Bestimmt nicht lange. Auch wenn das Fernsehen stark kontrolliert wird, können die Medien nicht andauernd alles verheimlichen und verschleiern. Die Lügen nutzen sich mit der Zeit ab. Das Gespenst des Kalten Krieges ist nicht mehr lange verkäuflich. Und niemand kann mehr behaupten, die Destabilisierung würde von Moskau finanziert. Denn es ist seit langem klar, dass die finanzielle und politische Stabilität eines Landes weder von den Regierungen abhängt noch von unserem Widerstand in den Bergen von Chiapas. Wie jeder weiß, hängt sie von den Finanzmärkten ab, auf die keine Regierung mehr Einfluss hat.
Diese Finanzmärkte sind unser Feind. Der mexikanische Staat hat keine Unterstützung in der Bevölkerung, um die zapatistische Bewegung niederzuschlagen. Trotz seines riesigen Propagandaapparats schafft er es nicht, den Leuten einzureden, dass wir ihr Feind seien. Die Menschen merken sehr wohl, dass der Feind woanders sitzt.
Eure politische Auffassung von der Zivilgesellschaft und ihrer Rolle für die sozialen Bewegungen ist sehr originell. Aber auch ziemlich überraschend. Auch der Neoliberalismus hat sich ja die Zivilgesellschaft auf die Fahnen geschrieben – aber um den Staat zu schwächen. Wenn du in Kuba von Zivilgesellschaft sprichst, geht Fidel Castro das Messer in der Tasche auf, weil er so tut, als verkörpere die Zivilgesellschaft alles das, was nur auf den Sturz der Einheitspartei wartet, um an ihre Stelle den amerikanischen Imperialismus zu setzen. Das macht euer politisches Konzept der Zivilgesellschaft so spannend, aber auch so riskant. Bis zu welchem Punkt kann sich eine Zivilgesellschaft selbst mobilisieren? Braucht sie nicht eine ... mir fällt das Wort nicht ein ...
Eine Avantgarde?
Ich suchte einen Ausdruck, der noch schärfer angegriffen wird als der Begriff Avantgarde. Ich hab's: Kritisches Bewusstsein. Leute, die sich hinstellen und sagen: „Hört mal, so geht das nicht, das ist nicht akzeptabel, ihr müsst das so machen ... Dieses kritische Bewusstsein will der Neoliberalismus um jeden Preis in Misskredit bringen, weil er sich seinem unkontrollierten Vormarsch in den Weg stellt. Worin besteht das kritische Bewusstsein, das die Zivilgesellschaft mobilisieren könnte? Sind es die Reste der traditionellen Linken? Die Überreste der Arbeitskämpfe und Sozialbewegungen? Die übrig gebliebenen Berufsrevoluzzer der weltweiten Achtundsechziger-Revolten?
Wir sind der Meinung, dass die Art, wie die Linke, aber auch die Rechte und das politische Zentrum (sofern es dieses denn gibt) die Dinge sehen, in einer tiefen Krise steckt. Und zwar deshalb, weil das Subjekt, auf das sie sich beziehen, nicht mehr dasselbe ist wie das, von dem sie ursprünglich ausgegangen waren. Es hat sich verändert. Zudem hat sich gezeigt, dass die theoretischen Vorstellungen der traditionellen Linken dieser historischen Situation nicht gewachsen sind. Niemand kann heute sagen, wie sich die Lage entwickeln wird, was zu tun ist. Auch die Rechten nicht. Wir stehen einer Klasse von Berufspolitikern gegenüber, die sich von ihrem eigentlichen Ansprechpartner, der Gesellschaft, immer weiter entfernt. Das führt allmählich zu einer doppelten Wirklichkeit: Einer falschen, das ist die der Politiker, und einer wirklichen, die der Gesellschaft.
Wenn es nicht gelingt, beide Sphären wieder zusammenzubringen, wird die Geschichte ihren Preis dafür fordern, vermutlich auf recht brutale Weise. Das gilt für alle Länder. Deshalb meinen wir, es müssen unbedingt Brücken der Verständigung geschlagen werden zwischen dem Volk und den Politikern, um letztere auf den Boden der Wirklichkeit zurückzuholen und ihnen zu sagen: „Schaut her. Hier sind wir.“ Wenn die Parteien und die politisch Verantwortlichen sich nicht verändern, werden sie einfach von der Bildfläche verschwinden. Wir denken, dass der Neoliberalismus genau dieses Ziel verfolgt: das Verschwinden der bestehenden Parteien, weil ihm daran gelegen ist, die politischen Strukturen in seinem Sinne neu zu gestalten.
Auch die Gesellschaft ist in die Schusslinie des Neoliberalismus geraten. Eine vollkommen homogene Gesellschaft, wie sie die Wortführer eines sterilen Egalitarismus im Auge haben, ist aber nicht lebensfähig. Die Vorstellung von einer Gesellschaft aus Arbeitern oder Werktätigen, die alle gleich gekleidet sind und sich alle gleich verhalten, ist ein Alptraum, das Negativklischee einer nach dem Modell des american way of life entworfenen Familie. Wir werden nicht müde zu wiederholen: Das ist absurd, das ist nicht möglich; es gibt Unterschiede, und wir bestehen auf unseren Unterschieden. Diese Unterschiede finden keinen organisatorischen Ausdruck, und sie werden nicht anerkannt. Es geht nicht darum, eine vielfach fragmentierte Nation zu haben; wir werden es allerdings mit ebenso vielen Nationen und Konflikten zu tun haben, wie es Stadtviertel oder Haushalte gibt.
Die Ohnmächtigen und die Schwäche der Macht
Man kann sich vorstellen, dass in Ländern, in denen die soziale Diskrepanz so eklatant ist wie in Lateinamerika, irgendwann der Punkt erreicht ist, wo diese Ungleichheit nicht mehr hingenommen wird. In anderen Gesellschaften dagegen sind die Ungleichheiten verdeckt durch die Tatsache, dass auch die armen Leute im Schlussverkauf bei Marks & Spencer, im Corte Inglés oder in den Galéries Lafayette einkaufen können, und jeder lebt in der Illusion, er könnte sich, wenn er wollte, wie sein Chef bei Ermenegildo Zegna einkleiden. In Westeuropa und in den Vereinigten Staaten ist der soziale Bann noch ungebrochen, sind die Mechanismen für den Zugang zum amerikanischen oder europäischen Traum noch weitgehend intakt. In Lateinamerika ist das nicht der Fall. Ich habe indes den Eindruck, dass das repressive Potential der Herrschenden nach wie vor beachtlich ist; wenn sie es mit der Angst bekommen, werden sie gegen die zu erwartenden Massenproteste mit aller Strenge vorgehen.
Das sehen wir genauso. Aber wir stellen auch fest, dass ihre Macht nachzulassen beginnt. Sie merken, dass die sozial Schwächeren – und wer ist schwächer als ein Indio, der weder die spanische Sprache beherrscht, noch zu argumentieren versteht, geschweige denn über materielle Ressourcen verfügt? – plötzlich den Mut haben, sie herauszufordern, sich ihnen entgegenzustellen. Was nützt ihnen ihr ganzer Machtapparat, wenn sie niemanden vernichten können? Sie könnten vielleicht eine gut ausgerüstete und wohlbewaffnete Armee vernichten. Aber gegen schlecht bewaffnete Indios können sie nichts unternehmen. Wie lässt sich sonst erklären, dass unsere schlecht ausgestattete, schlecht ausgebildete, schlecht ernährte Guerilla solchen Erfolg hat?
Offenbar war das Auftauchen eurer Guerilla für das Regime eine ungeheure Überraschung; eure Bewegung ist im wahrsten Sinne des Wortes entwaffnend. Sie können euch nicht frontal angreifen, weil euer bloßes Auftreten sie ins Unrecht setzt. Weil ihr ihnen vorderhand Dinge sagt, die so offensichtlich sind, dass sie nicht von der Hand zu weisen sind, und weil es euch um die Lösung der Probleme geht, und nicht um die Macht. In einer Welt wie der lateinamerikanischen ist die Rolle des Gurus, des „Schriftgelehrten“, dessen, der den Code beherrscht, von zentraler Bedeutung. In Europa ist das nicht mehr so. Nach Jean-Paul Sartre hat keiner mehr den Platz des Obergurus eingenommen. Wenn sich der Neokapitalismus in Europa durchsetzt, wird vielleicht der Chef der Europäischen Zentralbank als ultraliberaler Erbe Sartres auftreten und Leitgedanken und Verhaltensregeln diktieren. Wenn du beispielsweise von einer „nationalen literarischen Kultur“ sprichst, dann repräsentiert Vargas Llosa Peru, Garcia Márquez Kolumbien, Sábato Argentinien und Octavio Paz Mexiko. Die Rolle des Vordenkers ist also eminent wichtig. Wie beurteilst du also die Einstellung der Intellektuellen gegenüber eurer revolutionären Bewegung, und wie beurteilst du rückblickend deren Entwicklung?
Deine Frage berührt das Problem des Verhältnisses zwischen den Intellektuellen und der Macht. Was Mexiko betrifft, so hat sich da eine gewisse intellektuelle Elite um Octavio Paz gebildet, die durch ihren Anspruch auf kritische Distanz, Neutralität und Objektivität letztendlich der Staatsmacht näher stand als alle anderen. Es gibt jedoch andere Intellektuelle, die der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, das Ende des von uns so genannten Dritten Weltkriegs1 , dazu gebracht hat, die Theorien der Linken kritisch zu hinterfragen. Diese Intellektuellen haben wir aus der Reserve gelockt. Wir haben ihnen gesagt: „Es gibt hier eine neue Wirklichkeit; versuchen wir gemeinsam, sie zu verstehen, denn darin besteht unsere Aufgabe: In dem Versuch, die Gesellschaft zu verstehen. Hier gibt es neue Dinge zu entdecken, und vielleicht werdet ihr am Ende unseren Analysen zustimmen können.‘‘
Die Mandarine unter den Intellektuellen hingegen fühlen sich bedroht, weil wir das System bedrohen; sie waren noch nicht mal in der Lage, eine intelligente Kritik des Zapatismus zu formulieren. Dabei haben wir wirklich darauf gewartet. Wir brauchten sie. Ich sage sogar: Wir haben Kritik verdient.
Einige Intellektuelle haben in mexikanischen Zeitschriften beispielsweise den Bischof von Chiapas, Monsignore Samuel Ruiz, der eure Sache unterstützt, angegriffen und des „indigenistischen Fundamentalismus“ bezichtigt.
Das entbehrt jeder Grundlage, aber diese Sorte von Kritikern schreckt nicht davor zurück, irgendwelche Polizeiberichte zu kolportieren und sich zum Sprachrohr von Positionen des PRI zu machen. Es handelt sich um ausgesprochen bornierte Intellektuelle, die zu keiner intelligenten Kritik in der Lage sind. Und glaub mir, es lassen sich bei uns viele Schwachpunkte finden. Wer es intelligent anstellt, könnte uns empfindlich treffen und in einige Verlegenheit bringen. Aber dazu fehlt es diesen Intellektuellen an Grips; sie beschränken sich darauf, die Verleumdungen der Regierung nachzubeten.
Ob du ein Buch von einem dieser Intellektuellen liest, eine Fernsehsendung anschaust oder eine offizielle Ansprache über dich ergehen lässt: Das macht nicht den geringsten Unterschied. Und ich stelle fest, dass es diesen Hofberichterstattern immer schwerer fällt, mit dem nötigen Enthusiasmus für einen Staatsapparat in die Bresche zu springen, der diesen Enthusiasmus nicht einmal bei seinen eigenen Mitgliedern hervorruft. Mehr noch: Weil diese sich schämen, den mexikanischen Staat zu verteidigen, überlassen sie es jenen liebedienerischen Intellektuellen, ihnen die theoretische Rechtfertigung des Systems zu liefern. Ohne Erfolg, denn mit welchen Argumenten könnte man wohl die soziale Auflösung und der Zerfall des mexikanischen Nationalstaats rechtfertigen?
Ich weiß nicht, was anderswo geschieht, aber hier hat der zapatistische Krieg den Mittelweg, auf dem sich der Großteil der Intellektuellen sonst tummeln konnte, so weit verengt, dass sie jetzt auf Messers Schneide balancieren. Da diese Intellektuellen von der Idee besessen sind, immer die sichere Mitte zu wählen, haben sie jetzt Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, und fallen schließlich in die eine oder andere Richtung. In der Regel fallen sie auf die Seite des Staates und des PRI. Denn sonst würden sie sich auf der Seite der Zapatisten, der Aufständischen, der Rebellen, auf Marcos' Seite wiederfinden, und das ist ihnen zu viel des Engagements. Heute ist es modern, sich vom Zapatismus zu distanzieren, um die Mitte wiederherzustellen. Doch das lässt die Regierung nicht zu. Sie besteht darauf, dass sie uns definitiv den Rücken kehren und sich dem PRI verpflichten.
Aber der Bruch, der durch die mexikanische Gesellschaft geht, kann nicht künstlich gekittet werden. Es gibt eine Ära vor und eine nach der zapatistischen Revolte. Und obendrein habt ihr mit zum Ausbruch einer tiefen Systemkrise beigetragen, die so weit gediehen ist, dass diejenigen, die die Macht besitzen, sich jetzt schon gegenseitig an den Kragen gehen. Allmählich wird das ganze Ausmaß der wirtschaftlichen Korruption der letzten zehn Jahre sichtbar. Es hat den Anschein, als hättet ihr einen Selbstzerstörungsprozess des politischen Systems in Gang gesetzt. Vielleicht seid ihr der Zündstoff gewesen, auf den alle gewartet haben. Der Stein, der den Zerrspiegel der mexikanischen Gesellschaft zerschmettert hat.
Ja, das waren wir, und mehr als das. Am 1. Januar 1994, als die Menschen von unserer Existenz erfuhren, haben viele sich uns angeschlossen. Andere wandten sich gegen uns, aber es gab noch eine dritte Reaktion: Millionen Mexikaner bemerkten in dem Moment, als der Bann gebrochen war, zum ersten Mal, dass sie mit den bestehenden Verhältnissen nicht zufrieden waren.
Revolutionärer Pluralismus
Der Staat musste bei dieser Gelegenheit feststellen, dass es im Lande eine gewaltige Opposition gab und dass die Leute ernsthaft gewillt waren, für Veränderungen einzutreten. Wir haben unsererseits gelernt, dass die Welt sich nicht einfach in Freunde und Feinde aufteilen lässt, sondern dass es unterschiedliche Gruppen mit ganz verschiedenen Vorstellungen gibt, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Vielleicht ist es eines unserer Verdienste, dass wir es verstanden haben, ihnen in aller Ruhe zuzuhören. Wenn wir das nicht getan hätten, wäre alles anders verlaufen.
Anfangs hat die Regierung damit geprahlt, sie würde den zapatistischen Aufstand niederschlagen. Doch angesichts der Reaktion der mexikanischen Zivilgesellschaft und einer breiten Unterstützung von vielen Menschen im Ausland war sie dann doch bereit zu verhandeln, entwickelte gegen euch aber gleichzeitig eine Zermürbungsstrategie.
Das sind Antiguerilla-Taktiken, die sie in Harvard oder in weniger feinen Institutionen gelernt haben. Doch wie wollen sie eine Bewegung zermürben, die seit fünfhundert Jahren existiert? Schon in unserer ersten Erklärung haben wir gesagt: „Wir sind das Produkt von fünf Jahrhunderten Ausbeutung.“
In dem Buch „Marcos, la géniale imposture“2 behaupten die Autoren Bertrand Delagrange und Rico Maite, diese erste Erklärung sei in einem recht konventionellen revolutionären Jargon gehalten gewesen. Ich glaube, das ist falsch. Sie ähnelt eher einem Aufschrei des Protestes aus dem 19. Jahrhundert. Es hat nichts mit dem Historischen Materialismus oder dergleichen zu tun. Schon in der zweiten Erklärung jedoch – und seither immer – taucht das auf, was ich für den entscheidenden Beitrag der Zapatisten halte: der Appell an die Zivilgesellschaft als historisches Subjekt, das eine Veränderung der politischen Praktiken und Ziele fordern muss. Ihr internationalisiert euren Kampf. Ihr weigert euch, patriotische und nationale Themen zu instrumentalisieren, wie es einige sozialistische Revolutionen getan haben. Wenn ihr dennoch für die Nation oder das Vaterland eintretet, dann nicht im Sinne metaphysischer Abstraktionen, sondern als etwas, das zu den Menschen gehört, wie dies in den Worten jenes Indios zum Ausdruck kommt, der sagte: „Ich bin zu hundert Prozent Indio und zu hundert Prozent Mexikaner.“ Besonders wichtig erscheint mir jedoch, dass ihr den Tod nicht mystifiziert. Es mag Dinge geben, für die es sich zu sterben lohnt, aber im Gegensatz etwa zu den Kubanern ruft ihr nicht „Vaterland oder Tod!“, „Sozialismus oder Tod!“
Unter uns machen wir oft Witze über diese Alternative: „Vaterland oder Tod“. Wir möchten lieber für das Vaterland leben. Wir sind uns darüber im Klaren, dass sich unsere politische Analyse und die zapatistische Bewegung nicht einfach auf andere Länder und Situationen übertragen lassen. Aber wir stellen eine Herausforderung dar. Und in diesem Sinne ist der Zapatismus durchaus übertragbar, in anderen Formen, auf andere Gebiete und an andere Orte dieser Welt.
Wir haben uns geweigert, eine zapatistische Internationale zu bilden – das wäre dann schon die 7. oder 10. Internationale. Nein, wir wollen keine Avantgarde sein. Die Dinge sind besser zu bewerkstelligen und voranzutreiben, wenn die Menschen, die daran beteiligt sind, ihren jeweils eigenen historischen Beitrag leisten, als wenn man dem Neoliberalismus einen neuen Dogmatismus entgegensetzt und den Zapatismus als neues Weltmodell präsentiert. Bilden wir Netze der Kommunikation und setzen wir uns zusammen, das ist alles.
dt. Sabine Jainski und Christian Hansen
* Spanischer Schriftsteller, Essayist und Journalist, Autor der Kriminalromane um den Detektiv Pepe Carvalho; auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Das Quartett“, dt. von Theres Moser, Berlin (Wagenbach) 1998.