Staudammstreit in Namibia
Von CÉCILE FEUILLÂTRE und ISABELLE BRISH *
OPUWO bedeutet in der Sprache der Herero' „das Ende“. Opuwo heißt auch die Hauptstadt von Kaokoland, einer Region im Nordwesten Namibias. Es ist eine Stadt am Ende der Welt: 6 000 Einwohner, eine Bäckerei, zwei Supermärkte voller Konserven mit abgelaufenem Verfallsdatum, außerdem eine Tankstelle, die letzte vor der Grenze. Dahinter verliert sich jede Spur westlicher Zivilisation. Ein Gewirr von Pisten durchzieht eine wilde Hügellandschaft mit kleinen, felsigen Erhebungen. Das sonst öde und versengte Kaokoland bietet im Norden einen erhebenden Anblick: die Epupa-Wasserfälle am Grenzfluss Kunene.
In dieser Landschaft leben die Himba. Aus dem Gebiet der Großen Seen kommend, haben sie sich Mitte des 16. Jahrhunderts hier niedergelassen, heute zählt ihr Volk etwa 10 000 bis 15 000 Menschen. Anders als die Herero – die Ethnie, aus der sie hervorgegangen sind –, haben sie eine sehr traditionelle Lebensform bewahrt. Als nomadisierende Hirten leben die Himba fast ausschließlich von ihrem Vieh und wohnen mit ihren Kuh- und Ziegenherden in Krals (Runddörfern). Die Auseinandersetzung um den Epupa-Damm hat die bislang isolierten und kaum beachteten Himba plötzlich als Akteure auf die politische Bühne gedrängt. Nach der Unabhängigkeit 1990 nahm das schon zu Kolonialzeiten erwogene Staudamm-Projekt konkrete Formen an. Für Namibia, das oft von herben Dürreperioden heimgesucht wird und kaum über Energieressourcen verfügt, würde der Epupa-Damm eine Lockerung der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom ehemaligen Besatzer Südafrika ermöglichen, dessen Währung (der Rand) noch immer Leitwährung des namibischen Dollar ist. Mit einem einzigen Wasserkraftwerk, das in Ruacana, 100 Kilometer flussaufwärts von Epupa liegt, muss das Land einen Strombedarf decken, der jährlich um etwa 3,5 Prozent anwächst. Namibia bezieht mehr als die Hälfte seiner Energie von seinem großen Nachbarn im Süden. „Wir wollen eine Selbstversorgungsrate von 75 Prozent erreichen“, erläutert Paulinus Shilamba, Energiedirektor im Bergbauministerium. „Zusammen mit der Nutzung der Windenergie und der Gasvorkommen dürfte der Epupa-Damm unsere Elektrizitätsimporte mittelfristig auf 25 Prozent reduzieren.“ Die Staumauer, deren Kosten auf 2,535 Milliarden namibische Dollar (ca. 380 Millionen Euro) geschätzt werden, soll 163 Meter hoch werden und eine Leistung von 360 Megawatt erbringen. Der Vertrag über die Nutzung des Kunene wurde 1991 von Namibia und Angola unterzeichnet. Schwedische, norwegische, schweizerische und englische Firmen haben sich an der Ausschreibung beteiligt, danach begann die technische Planung.
Doch schon bald sah sich die Regierung einer wachsenden Opposition der Himba gegenüber. Der Staat hatte sich damit begnügt, 1992 einen lakonischen Brief – auf Englisch – an Ikuminue Kapika, einen der Häuptlinge des Kaokolands, zu senden. Die Himba werden unterstützt von internationalen Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen wie Survival International, die das Vorhaben als wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich katastrophal bewerten. Der Staudamm und sein 11,5 Milliarden Kubikmeter fassender Stausee würde zur Überflutung von 380 Quadratkilometer Land führen, das den Herden der Himba als Weide dient. Die Himba besitzen über 100 000 Tiere und haben über Generationen hinweg ein System entwickelt, das die Weiderouten und die jahreszeitlich wechselnde Nutzung des Bodens regelt. Mit den Weidegründen würden sie ihre Lebensgrundlage verlieren, aber auch Nahrungsreserven wie die Palmen, die das Kunene-Ufer säumen. In Dürrezeiten sind diese Früchte ein ebenso unentbehrliches Lebensmittel wie der Mais, die Kürbisse und die Melonen, die von den Himba dort angebaut werden, wo es möglich ist. „Dieses Land gehört ihnen“, empört sich Steyn Kum Katupa, der Vertreter der namibischen Menschenrechtsgesellschaft in Opuwo. „In ihrem Planungspapier hat die Regierung versprochen, sie umzusiedeln. Aber wohin? Es gibt weder andere Weidegründe noch andere Wasserstellen. Und die Himba in die Stadt zu verpflanzen wäre gleichbedeutend mit ihrem Todesurteil, denn für einen Himba ist das Vieh sein Ein und Alles.“
Die Befürworter des Bauvorhabens behaupten dagegen, das bedrohte Gebiet sei nur von etwa tausend Himba ständig besiedelt. Nach Häuptling Kapika, einem der schärfsten Gegner des Staudamms, wären aber tatsächlich 10 000 Menschen an beiden Flussufern betroffen. „Die Himba-Gesellschaften müssten tiefgreifende Umwälzungen in ihrer Lebensweise und ihren Bräuchen hinnehmen“, betont er immer wieder. Das Verschwinden der Furten zwischen Angola und Namibia würde Familien auseinanderreißen, die beiderseits des Flusses leben. Vor allem aber würden 160 Ahnengräber überflutet werden. „Und die Ahnengräber haben eine zentrale Bedeutung für die Identität der Himba, für ihr Verhältnis untereinander und ihr Verhältnis zur Erde. Sie sind Begegnungsort der Gemeinschaften und Ausgangspunkt der Weidezüge“, erläutert Häuptling Kapika. Sie sind nicht nur heilig, sie legitimieren darüber hinaus die Autorität des Häuptlings und bestimmen die gesellschaftliche Organisation. Wer in einer Gegend die meisten begrabenen Ahnen hat, hat das größte Recht, die Gemeinschaft zu repräsentieren.
Die NGOs verweisen vor allem auf die zerstörerischen Auswirkungen, die der Zuzug von Fremden auf die Himba-Gesellschaft hätte. Für das Großprojekt sollen 1 000 Arbeiter in die Region kommen (450 Namibier, 450 Angolaner und 100 Emigranten). Die Familienangehörigen mitgezählt, wären das um die 5 000 Personen. Diese plötzliche Übervölkerung könnte zur Ausbreitung von schwerwiegenden Problemen wie Aids, Alkoholismus und Prostitution führen. Und die Himba werden von den versprochenen tausend Arbeitsplätzen nichts haben, da sie weder Englisch sprechen noch für die Arbeit auf einer solchen Baustelle qualifiziert sind. Die Befürworter des Staudamms widersprechen mit entwicklungspolitischen Argumenten. Die Regierung will mit diesem Projekt die Grundlage für die Entwicklung des Kaokolands schaffen, denn es gibt in der Region weder eine Infrastruktur noch Investoren. Sie zählt zu den ärmsten in ganz Namibia, die Arbeitslosigkeit liegt hier durchschnittlich bereits bei 60 Prozent. Die Herero von Opuwo sind für solche Versprechungen denn auch keineswegs unempfänglcih. „Man muss diese Region aus der Armut befreien“, betont Paulinus Shilamba mit Nachdruck. „Der Staudamm ist für das Kaokoland eine Chance. Ihr Westler möchtet dieses Bild eines traditionsbewussten und primitiven Volkes bewahren. Aber ist es akzeptabel, dass die Leute nur euch zuliebe arm bleiben sollen? Diese Leute müssen zur Schule gehen können und Schuhe tragen. Ich stamme selbst aus einer armen Familie. Nur weil ich studieren konnte, habe ich heute diese Stellung. Epupa wird die Infrastruktur fördern, Hotels, Restaurants, Schulen ... Schweden hat dutzende Staudämme gebaut, ohne dass jemand etwas einzuwenden gehabt hätte, und hier fällt die ganze Welt über uns her wegen eines einzigen mickrigen Bauvorhabens.“
Die Auseinandersetzung hat in der Tat internationale Dimensionen angenommen. Fremde Besucher zeigen sich fasziniert vom Volk der Himba: Ihre Bräuche, ihre beharrliche Abwehr aller westlichen Einflüsse und auch ihre Schönheit machen sie mehr und mehr zum Ziel touristischer Begehrlichkeit. Die Himba-Frauen, die sich mit einer Mischung aus Ocker und rotem Fett einreiben, schweren Eisenschmuck über der bloßen Brust zur Schau tragen und mit einem komplizierten Übereinander von Röcken aus Ziegenhaut bekleidet sind, geben für die westlichen Safari-Anbieter das romantische Idealbild ab, mit dem sie die westlichen Ursprünglichkeitsnostalgiker anlocken können. Auch die Journalisten haben sich des Themas bemächtigt und schildern die Himba gerne als edle Wilde, die sich nicht wehren können. Freilich haben diese in kurzer Zeit gelernt, sich der Medien zu bedienen. So hat Häuptling Kapika, der charismatische Repräsentant der Himba, eine von den NGOs betreute „Sensibilisierungstour“ durch Europa unternommen. Die Reise trug Früchte: Deutschland, der ehemalige Kolonialherr, versprach, sich aus dem Projekt herauszuhalten. Verärgert warf die Regierung in Windhoek den internationalen Organisationen vor, die Himba zu manipulieren. „Wer manipuliert hier wen?“ fragt die junge Französin Solenn Bardet, die über ihren sechsmonatigen Aufenthalt bei den Himba ein Buch geschrieben hat.1 „Die Himba sind schließlich nicht dumm. Sie haben gelernt, mit dem schlechten Gewissen des Westens zu spielen, und sie haben gemerkt, dass die Europäer insbesondere die Verlegung oder Überflutung von Gräbern als skandalös empfinden.“
Am 7. Februar 1998, auf der letzten öffentlichen Versammlung in Windhoek, die das Thema Staudamm zum Thema hatte und an der sich alle betroffenen Parteien beteiligten, hat Häuptling Kapika noch einmal betont: „Unsere ablehnende Haltung bedeutet kein blindes Zurückweisen jeglicher Veränderung. Wir haben dieses Projekt in allen Einzelheiten durchgesprochen und sind, unabhängig von jeder ausländischen Gruppierung, zu unseren eigenen Schlüssen gekommen.“ Auf der Versammlung wurden die Ergebnisse der von Namang geleiteten Machbarkeitsstudie bekanntgegeben: Das Konsortium aus angolanischen, namibischen, schwedischen und norwegischen Experten hat drei vorgeschlagene Standorte für den Kunene-Damm untersucht und die ökologischen und gesellschaftlichen Risiken abgeschätzt. Nach seiner Einschätzung brächte der Standort Baynes, flussabwärts der Epupa-Fälle gelegen, die geringsten Risiken für Natur und Menschen mit sich, denn die überflutete Zone wäre lediglich 57 Quadratkilometer groß. Doch der Energieminister macht geltend, dass „Baynes teurer und unrentabel ist und die Investoren nicht anlocken wird“. Dieser Standort bringt außerdem nur die volle Leistung, wenn der angolanische Gove-Staudamm funktioniert, der während des Bürgerkrieges völlig zerstört wurde. Und die Reparatur dieses Staudamms gehört nicht zu den dringlichen Vorhaben der Nachbarn im Norden, die vollauf damit beschäftigt sind, das Friedensabkommen umzusetzen.
Die Regierung hat offenbar bereits beschlossen, dass der Damm in Epupa gebaut wird. „Der Regierung sind die Himba völlig egal“, seufzt Steyn Katupa. „Diese ganze Sache hat doch einen politischen Hintergrund. Das Kaokoland ist der Regierung nicht wohl gesonnen. Mit Hilfe des Staudamms kann sie dort eine Bevölkerung ansiedeln, die aus dem Ovambo-Land kommt, der Hochburg der Swapo [South West Africa People's Organisation, die regierende Partei]. Nur daran ist sie interessiert.“ Solenn Bardet geht noch weiter: „Dieser Damm ist das Prestigeobjekt von Sam Nujoma. Es wäre das große Bauwerk aus seiner Präsidentschaftszeit – ein Mittel, um sich ein Denkmal zu setzen.“ Die Himba machen sich kaum noch Illusionen. Schon 1994 sagte Katjira Muniombara, einer der Weisen des Kaokolands, zum Premierminister: „Töte, wenn du willst, aber gib nicht vor, die Leute um Erlaubnis zu bitten. Töte sie wenigstens richtig!“ In Windhoek versucht Paulinus Shilamba zu beschwichtigen: „Gewaltanwendung kommt nicht in Frage, aber der Damm wird gebaut. Die traditionellen Himba werden ohnehin allmählich verschwinden. Der Prozess ist bereits im Gange.“ Tatsächlich haben seit vier oder fünf Jahren die Tourismusunternehmen die Gegend erschlossen, die Zahl der europäischen Besucher des Kaokolands ist sprunghaft angestiegen. Die Jungen sind bereits den Verführungen des modernen Lebens erlegen. Sie fangen an, ihren Schmuck gegen T-Shirts an die Weißen zu verkaufen und Arbeit in der Stadt zu suchen. „Der Tourismus hat Folgen“, erklärt Paulinus Shilamba bedächtig. „Es ist nur eine Frage der Zeit.“
dt. Joseph Winiger
*Journalistinnen
Fußnote: 1 Solenn Bardet, „Pieds nus sur la terre rouge“, Paris (Robert Laffont) 1998.