Erst der Krieg und dann die Teilung
Von NIELS KADITZKE
IM August 1974 beendete die türkische Armee ihre Militäroperationen auf Zypern, die zur Teilung der Inselrepublik führten. Der damit erzwungene Bevölkerungsaustausch hat den Zypernkonflikt in einen Aggregatzustand überführt, den nur die Türkei als endgültige und „glückliche“ Lösung ansieht. Dennoch hat das Modell Anhänger auf dem Balkan gefunden. Für die bosnische Föderation wie auch für die Kosovokrise wurde wiederholt eine „zypriotische“ Lösung im Sinne einer Teilungslösung gefordert.
Am 20. Juli 1974 landete die türkische Armee auf Zypern. Am 14. August begann die zweite und entscheidende Phase ihrer „Friedensoperation“: Innerhalb von drei Tagen eroberte sie das nördliche Drittel der Inselrepublik mit dem Ziel einer „ethnischen Vertreibung“ der griechischen Zyprioten. Die ethnografischen Veränderungen, die sich seither auf der gesamten Insel vollzogen haben, dokumentiert ein Vergleich zwischen 1960, dem Gründungsjahr der Republik Zypern, und heute.
1960 hatte Zypern nach dem offiziellen Zensus 572 000 Einwohner, von denen 78 Prozent orthodoxe Griechen und 18 Prozent muslimische Türken waren. Über die Hälfte der türkischen Zyprioten lebten in gemischten Gemeinden; die geografische Verteilung beider Gruppen ließ Zypern wie einen ethnischen Flickenteppich aussehen. 1999 ist die Insel durch eine Demarkationslinie in zwei Zonen geteilt: im Norden (ca. 36 Prozent des Territoriums) leben ca. 80 000 türkische Zyprioten, ca. 80 000 Siedler aus der Türkei (dazu ca. 35 000 türkische Soldaten und mehrere tausend türkische Saisonarbeiter), aber nur noch knapp 500 griechische Zyprioten. Im Süden (ca. 64 Prozent des Territoriums) leben ca. 620 000 griechische Zyprioten und nur noch wenige hundert türkische Zyprioten; (dazu ca. 20 000 ausländische Arbeitskräfte, vor allem aus Sri Lanka).
Auftakt zum Eingreifen der türkischen Truppen war der Putsch vom 15. Juli 1974, mit dem das griechische Militär die Regierung Makarios stürzen wollte. Er lieferte der türkischen Regierung den Vorwand für die völkerrechtlich nicht legitimierbare Invasion.1 Nachdem Ankara die Friedenskonferenz zum Scheitern gebracht hatte, die Anfang August in Genf eine politische Lösung herbeiführen sollte, begann in den Morgenstunden des 14. August die zweite Offensive, die der türkische Generalstab von Anfang an geplant hatte. Die türkischen Truppen trieben ca. 160 000 griechische Zyprioten vor sich her nach Süden. Dabei rückte die türkische Armee nach Aussage ihres Oberkommandierenden bewusst langsam vor, um den griechischen Zyprioten Zeit „für die Flucht vor dem Kriegsgeschehen“ zu geben.
Diese „ethnische Säuberung“ verlief also anders als in Bosnien oder im Kosovo. Sie glich eher der Vertreibung der Krajina-Serben, weil die meisten griechischen Zyprioten panisch die Flucht ergriffen, um nicht von den türkischen Truppen überrollt zu werden. Allerdings war ihre Panik höchst verständlich, da die Invasoren während der ersten Phase zahllose Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen hatten. Und die türkische Armee setzte auch während der zweiten Phase gezielt auf Abschreckungseffekte: Bauern, die durch die türkischen Linien nach Norden zurückkehrten, um ihr Vieh zu versorgen, wurden gefangen genommen und gruppenweise erschossen.2
Noch wichtiger zur Beurteilung der Operation ist ein anderes Faktum: Wie in Bosnien und im Kosovo war im Fall Zypern die „Säuberung“ der eroberten Gebiete von ethnisch unerwünschten Bewohnern nicht nur eine erfreuliche Nebenwirkung, sondern ein zentrales Ziel der Militäroperation. Die Absicht Ankaras, den Norden Zyperns als Militärbasis zu gewinnen, war nur durch eine Teilung der Insel zu erreichen. Die wiederum sollte durch einen möglichst umfassenden „Bevölkerungsaustausch“ zementiert werden. Der ethnische Flickenteppich musste also entflochten und durch zwei ethnisch homogene Territorialgebilde ersetzt werden.
Der erste Teil der demografischen Veränderung war mit der Flucht der griechischen Zyprioten erledigt. Der zweite Teil war schwieriger zu bewerkstelligen und dauerte länger: Südlich der Teilungslinie, die die türkische Armee durch die ganze Insel zog, lebten noch immer ca. 44 000 türkische Zyprioten. Viele von ihnen sickerten in kleinen Gruppen nach Norden. Doch die große Mehrheit wurde erst im August 1975 im Rahmen einer innerzypriotischen Vereinbarung umgesiedelt. Im Gegenzug garantierte die türkisch-zypriotische Führung den ca. 15 000 griechischen Zyprioten, die im Norden geblieben waren, ein „normales Leben“ mit Minderheitenrechten. Diesen Menschen, die auf der Halbinsel Karpasia im äußersten Nordosten lebten, hatte der Vorstoß der türkischen Truppen in Richtung Famagusta den Fluchtweg nach Süden abgeschnitten.
Die Mitglieder beider Volksgruppen, die noch nach der Invasion auf der „falschen“ Seite verblieben waren, stellen einen interessanten Sonderfall dar. Die griechische Minderheit im Norden wurde aber mit der Zeit – trotz des Abkommens von 1975 – so systematisch bedrängt und diskriminiert, dass sie bis 1982 schon auf 1 000 Menschen geschrumpft war.
Der Druck der jeweiligen Führung
DIE wichtigsten Abwanderungsgründe waren die häufigen Ausgangssperren, die bäuerliche Familien an der Feldbestellung hinderten, die eingeschränkten Möglichkeiten der Schulbildung für die Kinder und die „Anatolisierung“ der griechischen Dörfer durch Siedler aus unterentwickelten Regionen der Türkei, auch aus den kurdischen Gebieten.
Ähnliche Gründe motivierten die türkischen Zyprioten, die zwischen Sommer 1974 und Herbst 1975 aus ihren Geburtsorten im Süden über die innerzypriotische „grüne Linie“ in den von den türkischen Truppen okkupierten Süden wechselten. Entscheidend war ihre Bedrohung durch nationalistische griechische Gangs, die ihre oft isoliert liegenden Dörfer umzingelt hielten. Solche paramilitärischen Gruppen verübten nach Beginn der türkischen Invasion von 1974 in drei Dörfern grausame Massaker. Der bekannteste Fall ist das vormals gemischte Dorf Tochni (bei Limassol), wo sämtliche türkischen Männer des Dorfes von einem griechischen Kommando exekutiert wurden. Dieser Terror war nicht einfach nur ein Exzess von frustrierten Soldaten, sondern auch als gezielte politische Vertreibungsbotschaft gedacht: Wenn die Türken von Tochni liquidiert wurden, konnte kein türkischer Zypriote im Süden seines Lebens mehr sicher sein.
Aber die Türken des Südens waren auch dem Druck ihrer eigenen Führung ausgesetzt, die sie nach Norden transferieren wollte, um das Vakuum aufzufüllen, das die geflüchteten Griechen hinterlassen hatten. Dieser Druck richtete sich vor allem gegen die Lehrer. Waren die erst einmal weggezogen, sahen die meisten Familien im Süden für sich keine Zukunft mehr.3
Die 1975 vollendete „ethnische Separation“ war also ein komplizierter Prozess, den zwar die türkische Armee in Gang gesetzt hatte, der aber sowohl von der Führung der türkischen Zyprioten wie auch von extremistischen paramilitärischen Gruppen auf Seiten der griechischen Zyprioten forciert wurde. Dieses klassische Muster – das antagonistische Zusammenwirken der Nationalisten beider Seiten – war in Zypern nichts Neues. Es hatte bereits die erste Etappe der „ethnischen Trennung“ gekennzeichnet, die schon zehn Jahre früher mit einem innerzypriotischen Bürgerkrieg begonnen hatte.
Den Konflikt von 1963/64 hatten die griechischen Zyprioten vom Zaun gebrochen, deren nationalistische Elite zu dieser Zeit die Unabhängigkeit nur als Zwischenetappe zum nationalen Endziel der enosis (Vereinigung mit Griechenland) betrachtete. Aber auch die Führung der türkischen Zyprioten steuerte von Anfang an auf die Teilung Zyperns zu. Sie lehnte genauso entschieden wie die griechische Führung ein „gemeinsames Heimatland“ ab. Ihr politischer Kopf war schon damals Rauf Denktas. Dieser türkische Nationalist sah in der Zusammenarbeit mit den griechischen Zyprioten die „Gefahr“, dass sich in seiner Volksgruppe ein „zypriotisches Bewusstsein“ herausbilden könnte, was für ihn gleichbedeutend war mit der „Auslöschung der Türken auf Zypern“.
Denktas' Antwort auf die bewaffneten Aktionen der griechischen Zyprioten war eine „Politik der Enklaven“: Die türkischen Zyprioten zogen sich in militärisch gesicherte Gebiete zurück, die Denktas von Anfang an als Keimform eines separaten Staates betrachtete. So schrieb er in einem bereits vor Ausbruch des Bürgerkrieges ausgearbeiteten Strategiepapier: „Wenn der Kampf beginnt, sollte die türkische Volksgruppe, die über die Insel verstreut lebt, gewaltsam in einem Gebiet konzentriert werden und gezwungen werden, dieses zu verteidigen. Die Festlegung dieses Gebietes wird auf einem strategischen Plan beruhen, der von Experten ausgearbeitet wird.“4
Diese Experten waren zweifellos türkische Offiziere, und ihr Plan ging auf – dank der bornierten Nationalisten auf griechischer Seite. Nach dem Waffenstillstand vom August 1964, der durch eine multinationale UN-Friedenstruppe (UNFCYP) abgesichert wurde, lebte über die Hälfte aller türkischen Zyprioten in den Enklaven, die von griechischer Seite einer ökonomischen Blockade unterworfen wurden. Als die Blockade 1968 aufgehoben wurde, kehrten nur etwa 2 000 türkische Zyprioten in ihre alten gemischten Dörfer zurück. Diese niedrige Rückkehrquote beweist zum einen, dass die Regierung Makarios es nicht als oberste Priorität ansah, den 1964 ausgelösten Schub einer „ethnischen Entmischung“ wieder rückgängig zu machen. Und sie zeigt zum anderen, dass auf lokaler Ebene die Rückkehr der türkischen Nachbarn nicht immer Begeisterung auslöste, etwa wenn deren Felder in einem gemischten Dorf von griechischen Bauern übernommen worden waren.
Dennoch brachte die Periode zwischen 1968 und 1974 eine spürbare Entspannung zwischen den beiden Volksgruppen. Aber die erneuten Volksgruppengespräche, die eine revidierte Verfassung und die Reintegration der türkischen Zyprioten (bei erweiterter lokaler Autonomie) zum Ziel hatten, blieben am Ende ergebnislos. Das lag einerseits an der hinhaltenden Taktik von Denktas, andererseits an der Tatsache, dass die Regierung Makarios unter ständigem Druck der griechischen Junta stand, die mit Hilfe einer griechisch gesteuerten Untergrundorganisation gegen die Republik Zypern konspirierte.
Jedenfalls wurde im Zeitraum von 1968 bis 1974 eine historische Chance zur Neubegründung einer funktionsfähigen Republik Zypern verpasst. Der Putsch der Athener Obristen stellte dann die Weichen für die Alternativlösung der „ethnischen Sezession“, die der Generalstab in Ankara seit 1964 nie aus dem Auge verloren hatte.
Mit der Teilung von 1974 hat die Ethno-Strategie in Zypern neue Formen angenommen. Ankara betreibt eine Politik der systematischen Türkifizierung des Nordens, der sich schon 1983 zur „Türkischen Republik Nord-Zypern“ deklarieren durfte. Durch die Ansiedlung von Türken und die Auswanderung vieler türkischer Zyprioten, die sich durch die „Anatolier“ verdrängt fühlen, sind die autochthonen Bewohner inzwischen im türkisch besiedelten Teil Zyperns wahrscheinlich bereits zur Minderheit geworden.5 Die „ethnische Teilung“ war – rückblickend gesehen – also nur der Auftakt zu einer „ethno-politischen Kolonisierung“ wie in Israel, wobei sich die Türkei freilich nicht auf eine Kombination von historischen und theologischen Ansprüchen beruft, sondern auf das Recht des Eroberers und auf die strategischen Interessen der Türkei.6
Hat die beschriebene Ethnopolitik eine gemeinsame Republik von griechischen und türkischen Zyprioten für alle Zukunft undenkbar gemacht? Die bis heute geschaffenen Fakten lassen eine bizonale Föderation, die ein neues „Miteinander auf Distanz“ organisieren könnte, zunehmend wie eine politische Fata Morgana erscheinen. Gegen die Macht der Fakten ist allerdings ein wichtiger Punkt festzuhalten. Anders als in Bosnien oder im Kosovo waren es in Zypern niemals direkte Nachbarn, die ihre Mitmenschen bedrohten und umbrachten. Im Bürgerkrieg von 1964 kamen auf beiden Seiten die „Ethno-Terroristen“ stets aus anderen Ecken der Insel. Bei der Invasion von 1974 waren die Täter zumeist Soldaten aus der Türkei, während viele griechische Zyprioten von ihren türkischen Nachbarn beschützt wurden. Die Menschen, die sich noch an die damaligen Reste innerzypriotischer Solidarität erinnern, sind fünfundzwanzig Jahre danach allerdings eine schrumpfende Minderheit. Auch in Zypern ist der Faktor Zeit der unerbittlichste Zeitgenosse.