15.10.1999

Vereinheitlichung der Welt

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Vereinheitlichung der Welt

WELTGESELLSCHAFT, Globalisierung, Vernetzung, Internet – so lauten die Zauberformeln jenes neuen goldenen Zeitalters der postmodernen und postkapitalistischen „Utopie der ökumenischen Technik“, die Armand Mattelart in seinem Buch „Geschichte der planetarischen Utopie“1 ausführlich untersucht. Ausgehend von den Millenniumsbewegungen zeigt der Autor, wie der Traum von der Einheit der Menschheit seit jeher alle Utopien beflügelte und wie sein Verblassen bereits in der antiken Philosophie mit dem Niedergang der Menschheit verknüpft wurde. Von der christlichen Weltordnung bis zum Weltbürgertum, vom Universalismus der Aufklärung bis zum proletarischen Internationalismus, von der Freihandelsidee bis zur Globalisierung von Markt und Gesellschaft zeichnet das Buch ein detailliertes Bild des Wunsches, die Abstände und die Grenzen aufzuheben.

Seit der Renaissance gilt der Handel als ein entscheidendes Mittel der weltweiten Kommunikation, Übereinkunft und Vereinigung. Das Zeitalter der Entdeckungen, die Entwicklung des Handels, der Merkantilismus und die Entstehung der kapitalistischen Wirtschaft – all das trug zur Entstehung einer Utopie bei, in der die Einheit der Menschheit eng mit dem Warentausch verknüpft war. Das Ideal weltweiten Friedens wurde genährt von der Erwartung eines freien Austausches von Waren wie von Menschen. In dieser universalistischen Debatte ging es ebenso um die Brüderlichkeit zwischen allen Menschen und Völkern wie um Produktion und Warenverkehr. Und wenn ihre Vordenker sich geradezu obsessiv mit der Kommunikation beschäftigten, so war damit vor allem die Herrschaft über die Handelswege gemeint.

Armand Mattelart macht deutlich, dass die gegenwärtige liberale Utopie so gefährlich ist, weil der Mensch in ihr nicht mehr vorkommt. Der Weltmarkt und das gewaltige technische Netzwerk der Kommunikation stehen offenbar für nichts anderes mehr als für sich selbst und ihre Zwecke, der Traum von der Einheit hat sich auf teuflische Weise in sein Gegenteil verkehrt. Je mehr sich die Technik entwickelt, je weiter sich die Kommunikationsnetze spannen, desto schwächer werden die sozialen Bindungen: Der Mensch ist allein, gespalten, erniedrigt zu einem „peripheren“, bald nur noch „virtuellen“ Dasein. Der Markt zerstört jene Formen der Brüderlichkeit, aus denen sich die Widerstandsbewegungen und Revolutionen speisten, die ihre tiefen Spuren in der Geschichte in Gestalt nationaler Grenzen hinterlassen haben. Damit wäre die Globalisierungsutopie als antiinternationalistische Utopie zu verstehen, die nach wie vor auf die Nationen setzt, und als eine antidemokratische Utopie, die endgültig die Nabelschnur zum Politischen durchtrennen, sich also von dem lösen will, was bislang das staatsbürgerliche Bewusstsein begründete.

Mattelarts faszinierende Arbeit – flüssig formuliert, mit zahlreichen Verweisen auf bekannte und weniger bekannte Autoren versehen – gewährt nicht nur Einblick in jene Träume, die unsere kollektive Phantasie beflügelt haben, sie ist zugleich ein Beispiel hellsichtiger Überprüfung des staatsbürgerlichen Selbstverständnisses.

MIREILLE AZZOUG

Fußnote: 1 Armand Mattelart, „Histoire de l'utopie planètaire“, Paris (La Découverte) 1999. 425 S., 155 FF.

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von MIREILLE AZZOUG