Umgeschriebene Geschichte
WINSTON CHURCHILL erklärte einst: „Die Geschichte wird ein günstiges Urteil über mich fällen – denn dieses Urteil gedenke ich selbst zu schreiben.“ Die gleiche Absicht verfolgt offenbar der ehemalige US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger mit dem dritten Band seiner Memoiren, der vor einigen Monaten veröffentlicht wurde. Auf tausendeinhunderteinundfünfzig eng bedruckten Seiten beschreibt er hier die kurze Amtszeit des Präsidenten Gerald Ford (August 1974 bis Januar 1977).
Diese „Jahre der Erneuerung“1 waren für die Vereinigten Staaten vor allem durch diplomatische Fehlschläge gekennzeichnet: Die Entspannungspolitik scheiterte, die Sowjetunion gewann nicht nur in Afrika an Boden, 1975 musste Vietnam unter kläglichen Umständen geräumt werden. Die „strategische Vision“ Henry Kissingers hatte seit 1969 darin bestanden, die Eskalation, die Verlängerung des Krieges und seine Ausdehnung auf Länder wie Laos und Kambodscha voranzutreiben, um einen „ehrenvollen Rückzug“ zu erzwingen. Seine Memoiren zeigen jedoch ein ganz anderes Bild. Auf jeder Seite bescheinigt sich der Autor zufriedenstellende Ergebnisse, Fehlentwicklungen gehen stets zu Lasten der vorangehenden Regierungen, des Kongresses (vor allem des Repräsentantenhauses, in dem es nach den Wahlen 1974, nach der Watergate-Affäre, eine demokratische Mehrheit gab) und der „Bürokraten“ Washingtons.
Der Band gibt sich gleichwohl den Anstrich eines zukünftigen Standardwerks: massiv, detailreich, durchsetzt mit historischen Reflexionen, zudem spannend geschrieben (besonders in der Charakterisierung ausländischer Gesprächspartner) und obendrein aus der Feder eines sattelfesten Intellektuellen (Kissinger hatte einen Lehrstuhl in Harvard inne, bevor er in die Politik ging.) Schon hat es die amerikanische Presse – zu der der ehemalige Außenminister seit eh und je ausgesuchte Kontakte pflegt – fast einmütig zum „Meisterwerk“ erkoren.
In jüngster Vergangenheit sind jedoch einige Werke zum gleichen Thema erschienen, die an der Wahrhaftigkeit des Historikers Kissinger zweifeln lassen. Eine Menge kleiner Spitzfindigkeiten summieren sich zu erheblichen Verzerrungen. Die offiziellen Mitschriften der Gespräche Kissingers mit Augusto Pinochet offenbaren, dass die USA den chilenischen Diktator vorbehaltlos unterstützten. In seinen Memoiren behauptet der ehemalige Außenminister jedoch das Gegenteil. Dass Chile zu einer Demokratie zurückgefunden hat, interpretiert Kissinger, ein Hagiograph in eigener Sache, allen Ernstes als Erfolg seiner „moralischen Überzeugungskraft“ gegenüber Pinochet. Die Schilderungen seiner Gespräche mit den politischen Führungskräften in China und der Sowjetunion haben ebenfalls nur sehr entfernt mit der historischen Wirklichkeit zu tun.
Damit ist klar, dass dieses Buch nur insofern von Interesse ist, als es Aufschluss gibt über die Persönlichkeit des Autors und sein Bestreben, die Geschichte in seinem Sinne umzuschreiben. Als Parallellektüre oder im ständigen Zugriff seien empfohlen: die kürzlich erschienenen offiziellen Transkriptionen der Gespräche2 , die Kissinger-Biographien3 und zwei kürzlich erschienene grundlegende Studien über die amerikanische Außenpolitik jener Zeit.4
IBRAHIM WARDE