Nachrichten aus dem All
Von PAUL VIRILIO *
IM ausgehenden Jahrhundert wurde der Schritt von der Erde ins All vollzogen: Unbemannte Raumkapseln, Menschen auf dem Mond, die Bildübermittlung in Echtzeit und die globale Satellitenüberwachung sind die wichtigsten Stichworte dieser Entwicklung. Was aber wandelt sich, wenn alle Bilder jederzeit in allen Ecken der Welt und in jedem Wohnzimmer abrufbar sind und gleichzeitig keine Bewegung auf der Erde dem wachsamen Auge der Satelliten entgeht?
Die in der Globalisierung mündende historische Phase verlangt nach immer mehr Licht, immer mehr Sichtbarmachung. So entsteht zur Zeit eine globale Teleüberwachung, die sich von allen ethischen oder diplomatischen Voreingenomenheiten freimacht. Die derzeitige weltweite Vernetzung der internationalen Aktivitäten wird in absehbarer Zukunft ein zyklopisches, oder genauer gesagt, cyber-optisches Sehen unumgänglich machen. Die wachsende globale Interaktivität erzeugt zunehmend die Notwendigkeit einer panoptischen und totalitären Sichtbarkeit. Auf die „virtuelle Luftblase“ der Einheitsmarktwirtschaft folgt nun jene visuelle Luftblase, bei welcher der Gewinn an Sichtbarkeit bald dieselbe Multiplikatorenrolle zukommen wird wie dem Gewinn bei der Finanzspekulation. Wobei die elektronische Optik inzwischen gleich viel Licht bringt wie die Geschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen. Zusätzlich zur National Security Agency (NSA), die mit dem System Echelon bereits weltweit den gesamten Telekommunikationsverkehr – Telefon, Fax, Telex usw. – abhört1 , riefen die USA Ende 1996 eine neue Agentur ins Leben: die National Imagery and Mapping Agency (NIMA). Aufgabe dieser dem Pentagon unterstehenden Agentur mit etwa 10 000 Mitarbeitern sollte es sein, sämtliche von militärischen Satelliten aufgenommenen Fotos zu zentralisieren und einen Datenverarbeitungsstandard für diese Bilder zu erarbeiten, den NIFTS.
Dieser Standard, der die Übermittlung der Bilder in Echtzeit ermöglicht, war ursprünglich nur für das Verteidigungsministerium und die Nachrichtendienste gedacht, doch die Bedeutung der weltraumgestützten Beobachtung und ihre wirtschaftliche Nutzbarkeit sind den Theoretikern des Cyber-Kriegs (InfoWar) nicht lange verborgen geblieben.
1997 bereits beschloss die NIMA, sich an einem „Global Information Dominance“ genannten Programm zu beteiligen, das die Aufgabe hatte, den kommerziellen Bilderaustausch weltweit zu kontrollieren. Um ihr Ziel zu verwirklichen, bietet die Agentur amerikanischen und ausländischen Unternehmen, die ihre Datenverarbeitungssysteme konvertibel machen und sich zu sehr kurzen Lieferfristen für die Bilder verpflichten, bis zu fünf Millionen Dollar an. Die NIMA leitet diese Dokumente an das US-amerikanische Militär weiter, aber auch an zivile Kunden, amerikanische wie ausländische. Um also das Entstehen eines freien Marktes der Bilder aus dem Weltraum zu behindern, haben sich CIA und Pentagon zielgerichtet eine Politik des groß angelegten Kaufs und Verkaufs von kommerziellen Bildern ausgedacht. Mit dieser Agentur für globale Teleüberwachung verfügen die USA nunmehr über eine ebenso wirksame Kontrollstruktur im Bereich der internationalen Telekommunikation, wie sie es nach dem Zweiten Weltkrieg hinsichtlich der Kommunikationsüberwachung des Ostblocks aufgebaut hatten.
Schauen wir uns nun einige neuere panoptische Ereignisse an: Am 12. April 1999 verbreitete der Fernsehsender ABC die Nachricht, das Pentagon verfüge über Satellitenbilder, die die Existenz von Massengräbern im Kosovo bewiesen. „Der Sender spricht von etwa hundert Stellen mit frisch aufgeworfener Erde.“2 ABC zeigte zwar keines dieser Bilder, doch die Auflösung der Satellitenfotos ist so hoch, dass die Meldung glaubwürdig erscheint.
Zwei Tage zuvor, am 10. April, hatte das Pentagon Satellitenbilder veröffentlicht, auf denen Gruppen von Kosovaren zu sehen waren, die aus ihren Dörfern geflohen waren und auf Hügeln kampierten; von einem möglichen Zusammenhang zwischen dieser Flucht und vorherigen Gräueln war nirgends die Rede.
Während ehedem das Auge Gottes auf Kain lag bis zu seinem Tode, wacht nun das Auge der Menschheit über den Erdteilen. Man erahnt nunmehr die ethische und politische Dimension der von der „Global Information Dominance“ angestrebten visuellen Überwachung des Erdballs, und man versteht die berechtigte Sorge der Europäer hinsichtlich der Teleüberwachung, wie sie die europäische Agentur EUCOSAT (Brüssel) kürzlich – auf die Nachricht von der Gründung der NIMA hin – zum Ausdruck brachte.
Nach den großen Ohren des Systems Echelon der National Security Agency öffnen sich also die furchterregenden großen Augen der National Imagery and Mapping Agency. Passenderweise verkündete der Stabschef der US-Luftwaffe 1997 vor dem Repräsentantenhaus in Washington: „Im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts werden wir in der Lage sein, jedes größere Element, das sich auf der Erdoberfläche bewegt, praktisch in Echtzeit zu orten, zu verfolgen und anzuvisieren.“3
Der Open Sky, ein altes Projekt aus dem Kalten Krieg, wird wirklicher als geplant! Die Deregulierung des Luftverkehrs erstreckt sich nunmehr auch auf die weltweite Verbreitung von Satellitenaufnahmen! Den Himmel, der sich über uns wölbt, gibt es nicht mehr, er tritt sein Leuchten an die Bildschirme ab, und irgendwann werden die ersten Sonnenlicht-Reflexions-Satelliten auch das Dunkel der Nacht Vergangenheit sein lassen. Die Geschwindigkeit des Lichts im leeren Raum hat freilich nie der Fortbewegung gedient, sondern lediglich dem Sehen, dem Vorher-Sehen. Die Grenzgeschwindigkeit des Lichts ist also nur eine andere Bezeichnung des Sichtbarmachens oder vielmehr des politisch-strategischen Sichtbarmachen-Wollens der Jetztzeit. Dieser Echtzeit, die nun den echten Raum der Kontinente beherrscht. Das indirekte Licht der Wellengeschwindigkeit hat, soviel ist sicher, nichts mehr gemein mit dem direkten Licht der jahreszeitlich schwankenden Sonneneinstrahlung, mit dem Wechsel von Tag und Nacht, übrigens auch nicht mit astronomischen Ereignissen wie der Sonnenfinsternis.
Der Horizont verfinstert sich
WAS sich jetzt verfinstert, das ist der irdische Horizont, jene Linie, die einst das Sichtfeld begrenzte und die nun dem Bildschirm weicht. So verabschiedet sich nicht nur das Bild oder der Ton des Fernsehens, sondern die Wirklichkeit der sinnlichen Erscheinungen. Die einstige Darstellung mittels eines Gemäldes oder einer Fotografie wird abgelöst von der bezugslosen Darbietung dessen, was gerade passiert, aber nicht hier, sondern anderswo, auf der gegenüberliegenden Seite des Erdballs. So ist die alte Grenze zwischen Himmel und Erde, an der sich bisher unsere jeweiligen Standpunkte orientierten, unsichtbar geworden, sie lebt nur noch fort als mentaler Horizont unseres unzuverlässigen Gedächtnisses.4
Die Himmelskunst hat eine sehr lange Geschichte, das Firmament war vermutlich das erste Massenschauspiel. Im übrigen war die Projektion von Filmen auf die Wolkendecke ein Lieblingsspiel der 30er Jahre. Und selbst die verdunkelten Säle der ersten Tonfilmkinos hatten oft ein Schiebedach, durch das man, wenn die Jahreszeit es erlaubte, auf den Sternenhimmel blicken konnte. Die Autokinos der USA kamen schließlich ganz ohne Gebäude aus, und mit der Dämmerung begannen auch die Nonstop-Lichtspiele im Drive-in.
Seltsam, wie oft man versucht hat – bislang ohne Erfolg –, Satelliten in eine Umlaufbahn zu bringen, die nicht irgendwelche Daten, sondern das Sonnenlicht zur Erde senden und so als „künstliche Monde“ fungieren sollten, damit in unseren Metropolen die Nacht zum Tag werde, ähnlich diesen spiegelnden Kugeln, die das Licht in den Discos tanzen lassen.5
Doch der allerjüngste Versuch, das Firmament und die Kunst des bewegten Bildes zu vereinen, ist das im Europäischen Filmzentrum in Babelsberg vom Team um Peter Fleischmann entwickelte CyberCinema. Einen französischer Spezialisten ließ diese Entwicklung aufhorchen: „Die Hälfte des europäischen Territoriums ist mehr als dreißig Minuten vom nächsten Vorführraum entfernt. Das ist viel.“6
Das Bestreben, Filme per Satellit in abgelegenen Gebieten oder privaten Vorführräumen spielen zu lassen, wird nicht nur mit Problemen des Verleihbetriebs begründet, es hat indirekt auch mit der demnächst zu erwartenden massenhaften Verbreitung dieses tragbaren Kinos zu tun, von dem der Glasstron, Sonys Video-Brille, nur ein teurer Prototyp ist. Die virtuelle Reise der „Siebten Kunst“ hat erst begonnen.
Es steht also zu erwarten, dass im einundzwanzigsten Jahrhundert der von Satelliten verbreitete digitale Bilderzauber flächendeckend den Erdball überzieht und auch den letzten seiner Bewohner erreicht. „Zum Film werden“ ist dann das Schicksal jeden „Erdendaseins“, denn der Video-helm vermittelt das Gefühl, nicht länger einem „äußerlichen“ Schauspiel beizuwohnen, sondern den Film „von innen“ mitzuerleben!
Cyber-optische Zukunftsvision, wo der Unterschied zwischen Virtualität und Realität nicht mehr feststellbar ist, wo die Projektions-Illusion die Licht-Wirklichkeit ersetzt. Die Projektion der virtuellen Realität einer Ortsveränderung verdrängt in Zukunft die gegenwärtige Realität des Reisens, aller Reisen. Zum Beispiel die neuesten Erdumrundungsrekorde der Stratosphärenballone, dieser Pseudosatelliten von der Art eines Breitling Orbiter III, der in weniger als drei Wochen zum ersten Mal die Welt umrundete, indem er sich vom Jetstream tragen ließ, dem Luftstrom, der den Planeten von West nach Ost umkreist: Ist das nicht schon der Abschied von der Navigation? Es ist eine Art „Surfen“, gar nicht so verschieden vom Surfen der Web-Cam-Freaks, die auf ihren Bildschirmen Kontinente virtuell überfliegen. Die Bullaugen, durch welche die zwanzig Tage lang in einer winzigen druckdichten Kabine eingeschlossenen Ballonfahrer die Ozeane, die Erde und ihre Kontinente betrachten konnten, waren kaum großer als Computerbildschirme.
Bezeichnend für diese Verdrängung wirklicher Navigation durch virtuelle Navigation ist übrigens auch die Tatsache, dass einer der beiden Ballonfahrer, der Schweizer Psychiater Bertrand Picard, den Stress und die nervliche Belastung einer solchen Fahrt mit Hypnose bekämpft, die für ihn eine Art Psychotherapie ist: „Im Ballon muss man die Höhe ändern, wenn man die Richtung ändern will“, erläutert er. „So muss auch der Mensch lernen, sich auf eine bestimmte spirituelle Höhe zu begeben, um eine anderer Richtung zu finden, mit der er wieder Herr seines Lebens werden kann.“7
Im Nasa-Zentrum, das im Sommer 1998 zum Video-Regieraum wurde, unterschieden sich die Computer-Fachleute kaum noch von der Masse der Fernsehzuschauer, die im Juli 1969 die Mondlandung von Apollo 11 mitverfolgten. Die strahlende Zukunft der Weltraumfahrt wird denn auch so aussehen, dass man den Raum nicht mehr real erforscht, sondern sich mit Messungen automatischer Sonden begnügt.
Auch hier tritt an die Stelle des interstellaren Reisenden der Telezuschauer und Telesteuerer der Nasa. So erklärt Edward Stone, Direktor der Steuerungszentrale für die amerikanischen Raumsonden und Vater der vor zwanzig Jahren gestarteten Programme Voyager 1 und 2: „Diese automatischen Raumfahrzeuge sind eine höhere Leistung als die bemannte Raumfahrt oder die Eroberung des Mondes. Diesen beiden Robotern verdanken wir sehr viel mehr Wissen über das Sonnensystem als sämtlichen Astronomen seit Ptolemäus, weil sie an Orte gegangen sind, wo kein vom Menschen hergestelltes Instrument je Messungen vorgenommen hat.“ Das interplanetare Abenteuerspiel ist aus, und bald kommt auch das Aus für den arbeitenden Menschen, diesen „Navigator der bemannten Flüge“, der nicht nur Apparate messen ließ, sondern auch mit eigenen Augen die Größe der Wirklichkeit der irdischen – und der überirdischen – Welt wahrnahm. Hören wir das Zeugnis der Passagiere der fünften Discovery-Mission: „Am ersten Tag betrachteten wir unser Land. Am dritten oder vierten Tag zeigten wir uns die Kontinente. Am fünften Tag hatten wir alle begriffen, dass es nur die Erde gibt.“
Doch nach dieser Sicht-Erweiterung durch mehrwöchigen oder mehrmonatigen Aufenthalt in der – mittlerweile vom Untergang bedrohten – Raumstation Mir bleibt nur noch die Betrachtung der ewigen Nacht, des Schweigens dieser unendlichen Räume, wo Entfernungen keinen Sinn haben, weil die Dauer der Reise die biologischen Grenzen übersteigt. Es sei denn, man klont die Besatzungen, indem man, so wie man gestern die mehrstufige Rakete erfand, die Auferstehung durch Verdoppelung praktiziert, um jahrzehntelang mit Raketengeschwindigkeit (40 000 Kilometer pro Stunde und mehr) vielleicht in die Nähe anderer Galaxien zu gelangen. Vielleicht wird ja auch die Lichtgeschwindigkeit unterlaufen und der Passagiertransport durch Teleportation ersetzt!
Aber ist es nicht letztlich dasselbe, wenn weit entfernte Apparaturen per Funk gelenkt werden, wie beispielsweise der Roboter Sojourner während der Marsmission Pathfinder? Die Wirklichkeit der Handlung eines Subjekts – des Telebedieners – wird plötzlich verdoppelt, da er kaum noch mit seinem Handeln impliziert ist, sondern nur noch dupliziert durch sein Entfernt-Sein, das sein In-der-Welt-Sein ist.8 Hören wir, wie sich ein französischer Wissenschaftler zu den Bildern äußert, die Voyager 2 im Jahr 1989 zur Erde sendet, als er in die Nähe des Planeten Neptun gelangt: „Ich komme mir vor, als stünde ich auf dem Back jenes Schiffes, mit dem Christoph Kolumbus 1492 an der amerikanischen Küste anlegte.“
Die raum-zeitliche Wirklichkeit unserer physischen Fortbewegung und die Perspektive, nach der sich unsere Sicht der Welt seit über fünf Jahrhunderten richtete, weichen so allmählich einer Art Stereo-wirklichkeit: einer gegenwärtigen (unmittelbaren) Wirklichkeit, in der sich unsere Körper fortbewegen, und eine virtuelle (multimediale) Wirklichkeit, in der unsere Beziehung zur Welt und zu weit entfernten, auf anderen Kontinenten, auf der anderen Hemisphäre lebenden Menschen eine immer größere Rolle spielen. Mit dieser Dominanz des orbitalen Standortes erzeugt die Unzahl der Beobachtungssatelliten, die im Orbit platziert werden, zunehmend eine globalitäre Sicht-Weise. Wer sein Leben gestalten will, muss nicht mehr das Geschehen vor ihm, sondern über ihm im Auge haben. Die zenitale Dimension übersteigt – buchstäblich – bei weitem die horizontale, und das ist keine Nebensächlichkeit, denn dieser „Standort des Sirius“ bedeutet das Ende jeglicher Perspektive.
dt. Josef Winiger
* Philosoph und Urbanist. Autor u. a. von: „Rasender Stillstand“; aus dem Französischen von Bernd Wilczek, Frankfurt/M 1997 und 1998. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus seinem neuen Buch, „Stratégie de la déception“, das am 23. September in Paris erschienen ist.