Einer kommt durch
Von FRANÇOISE ESCARPIT *
VOR zwei Jahren ist es einem Kandidaten der linken Mitte gelungen, ins Rathaus von Mexiko-Stadt einzuziehen. Doch Bürgermeister Cuauhtémoc Cárdenas konnte die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht einlösen, trotz seiner großen Bemühungen im Kampf gegen die Korruption. Um die Institutionelle Revolutionspartei, die seit siebzig Jahren die Staatsgeschäfte leitet, aus dem Sattel zu heben, plant die gemäßigte Linke nun ein Bündnis mit den „modernen“ Konservativen. Ein Sieg dieses Bündnisses bei den Präsidentscaftswahlen im Juli 2000 wäre zwar ein Fortschritt im mexikanischen Demokratisierungsprozess, die sozialen und ökonomischen Veränderungen, auf die große Teile der Bevölkerung hoffen, würde er jedoch nicht verbürgen.
Am 6. Juli 1997 wurde Cuauhtémoc Cárdenas, Vorsitzender des Partido de la Revolución Democrática (Partei der Demokratischen Revolution, PRD), zum Regierungschef des Bundesdistrikts Mexiko-Stadt gewählt. Gleichzeitig verlor die seit siebzig Jahren regierende Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), deren Vormachtstellung in letzter Zeit zunehmend erschüttert wurde, ihre absolute Mehrheit in der Abgeordnetenkammer. Der PRD wurde zur zweitstärksten Partei des Landes, noch vor dem konservativen Partido Acción Nacional (Partei der Nationalen Aktion, PAN).
Als Cárdenas am 5. Dezember die Amtsgeschäfte aufnahm, wusste er, dass seine Arbeit durch die kurze Dauer des Mandats erschwert werden würde – im Gegensatz zu den sechsjährigen Amtszeiten der vorherigen und künftigen Bürgermeister des Bundesdistrikts hatte er nur drei Jahre. Die Bevölkerung der Hauptstadt erwartete von Cuauhtémoc schnelle Ergebnisse in den heiklen Bereichen der Sicherheitspolitik, dem Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt, in Sachen Umweltverschmutzung, bei den Löhnen, den öffentlichen Verkehrsmitteln und im Gesundheitsbereich. Ein Teil dieser Bereiche fällt in die Zuständigkeit der Stadtverwaltung, anderes ist Sache des Bundes.
Cárdenas trat damals das schwierige Erbe einer Stadt an, in der sich wirtschaftlichen Aktivitäten des gesamten urbanen Ballungsraums konzentrieren. Mexiko-Stadt ist ein monströses städtisches Agglomerat, und der tägliche Austausch mit den umliegenden Gemeinden erfordert ein Minimum an Koordination in den Bereichen Verkehr, öffentliche Sicherheit und auf der Verwaltungsebene – unabhängig davon, ob eine Gemeinde nun vom PRD, dem PAN oder dem PRI regiert wird.1 In der Hauptstadt, die bislang schlecht und ohne jedes Konzept regiert worden war, herrschten chaotische Zustände, die stadtplanerischen und sicherheitspolitischen Defizite waren immens, sie gingen einher mit Armut und Arbeitslosigkeit. Vetternwirtschaft und Korruption auf allen Ebenen, insbesondere aber auf den höheren Stufen der politischen Hierarchie, haben die Umsetzung effektiver Programme in wichtigen Schlüsselbereichen stets torpediert. Mexiko-Stadt ist eine Megalopolis, deren Bedürfnisse und Probleme nur in Abstimmung mit der Bundespolitik gelöst werden können.
In neunundzwanzig von insgesamt dreißig Wahlbezirken der Hauptstadt hatten am 6. Juli die PRD-Kandidaten gewonnen, der dreißigste war an den PAN gegangen. Dieser Erfolg brachte paradoxerweise eine Reihe von Problemen mit sich, denn aufgrund der Bestimmungen des geltenden Wahlsystems durften die führenden Politiker auf den ersten Listenplätzen des PRD nicht ins neue Stadtparlament einziehen2 , während sich andererseits die Bezirkskandidaten, die die verschiedenen Parteiströmungen repräsentierten und aufgrund ihrer aktiven Stellung in Basisorganisationen nominiert worden waren, auf Abgeordnetensesseln wiederfanden, ohne in dieser Rolle besondere Erfahrung vorweisen zu können.
Zudem wurden einige Ernennungen im Mitarbeiterstab des neuen Bürgermeisters scharf kritisiert: Er hatte sich mit einer Gruppe von Freunden und Verbündeten umgeben, die für ihre Posten zum Teil nicht sonderlich geeignet waren. So verging fast ein Jahr, bevor seine Verwaltung einen normalen Arbeitsrhythmus erreicht hatte.
Der scheidende Bürgermeister Oscar Espinoza Villareal hatte erklärt, es befände sich eine Summe von umgerechnet etwa zweihundert Millionen Mark in der Stadtkasse. Doch Cárdenas fand neben einer gefälschten Buchhaltung mit manipulierten Zahlen und leeren Archiven ein Haushaltsdefizit von 80 Millionen und Schulden in Höhe von 100 Millionen Mark vor.
Der neue Bürgermeister war mit dem Versprechen angetreten, die Hauptstadt ihren Bewohnern zurückzugeben. Dazu gehörte das Vorgehen gegen die Kleinkriminalität, vor allem aber die Bekämpfung der vielfältigen mafiosen Strukturen: Polizeimafia und Mafia der öffentlichen Verkehrsmittel, Straßenhändlermafias, die anarchisch die Bürgersteige der Stadt okkupieren und zum Teil Hehlerware verkaufen, des weiteren die Großmarkt- oder Gefängnismafia, die Drogenmafia und die Mafia der Autodiebe – eine Welt für sich, in der es um gewaltige ökonomische Interessen geht. Die Korruption in den Reihen der ebenso schlecht bezahlten wie schlecht ausgebildeten Polizei machte die Aufgabe schier unlösbar.
Die Lage begann sich erst zu entspannen, als Cárdenas nach mehrmonatigem Ringen einen Zivilisten zum Polizeichef ernannte. Seitdem Alejandro Gertz das Amt als Sekretär für öffentliche Sicherheit bekleidet und dabei eng mit dem Justizministerium zusammenarbeitet, hat tatsächlich eine Säuberung der Polizeikräfte eingesetzt – nicht ohne in manchen Bereichen auf starke Widerstände zu stoßen.
Die schmutzigste Stadt der Welt
EIN weiteres dringliches Problem der Hauptstadtbewohner ist die Umweltbelastung. Der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge ist Mexiko-Stadt die schmutzigste Stadt der Welt. Auf über 9 000 Kilometern Straßen verkehren täglich nahezu drei Millionen Autos, 27 000 Kleinbusse, 92 000 Taxis, 2 000 Trolleybusse und Omnibusse. Der Zusammenhang von Höhenlage (2 200 Meter über dem Meeresspiegel), Durchschnittsalter der Fahrzeuge (17 Jahre), korrupten technischen Prüfstellen und schlechter Benzinqualität hat bisher jedes Programm zur Bekämpfung der Luftverschmutzung wirkungslos gemacht. Nun hat die Stadtverwaltung begonnen, für ihren eigenen Fahrzeugbestand Gas und Ethanol statt Benzin zu verwenden, und will die Kleinbusunternehmer künftig bei der Umrüstung ihrer Fahrzeuge unterstützen.
Jenseits einer umfassenden politischen Reform des Bundesdistrikts verfolgt Cuauhtémoc Cárdenas schon beinahe obsessiv ein Ziel, das über kommunale Zuständigkeiten hinausreicht: Er will einen Beamtenapparat für die öffentliche Verwaltung schaffen, um das Fundament für eine administrative Umstrukturierung sowie mehr Transparenz in den Staatsgeschäften zu legen.
Andererseits hat er eine Dezentralisierung eingeleitet, indem er den Stadtbezirken (delegaciones) größere Befugnisse einräumte. Beschlüsse wie die Offenlegung der Einkünfte aller Stadtverwaltungsfunktionäre und auch des Bürgermeisters selbst oder die Streichung des dreizehnten Monatsgehalts in den höchsten Gehaltsklassen sind bei der Bevölkerung gut angekommen. Populär war auch die Entscheidung des Rathauses, die Fahrpreise für die täglich von vier Millionen Menschen genutzte U-Bahn sowie für die städtischen Busse einzufrieren, während die Bundestarife um 20 Prozent gestiegen sind. Das ist in einer Stadt, wo 55 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut leben, eine wichtige Maßnahme. Die Stadtverwaltung hat auch kostenlos Schulbücher ausgegeben, wovon mehrere tausend Familien profitierten.
Doch es gibt noch immer unzählige Kinder, die an den Straßenkreuzungen merkwürdige Kunststückchen aufführen und sich dafür eine kleine Spende erhoffen, tausende leben ganz auf der Straße. Ihre Eltern arbeiten, wenn überhaupt, in unsicheren Stellungen zu niedrigsten Löhnen. Viele Einwohner fordern drastische Maßnahmen, um Mexiko-Stadt wieder in eine lebendige und sichere Stadt mit Lebensqualität zu verwandeln.
Da Cárdenas innerhalb der Opposition eine Symbolfigur ist, werden sich seine Erfolge und Misserfolge unweigerlich auf die Kommunal- und Bundeswahlen im Juli 2000 auswirken. Seit seinem Einzug ins Rathaus von Mexiko-Stadt ist er zur bevorzugten Zielscheibe für die Presse und insbesondere das Privatfernsehen geworden. Die beiden Privatsender Televisa und Tele Azteca betonen in ihren Nachrichtensendungen stets, wie unfähig die Stadtverwaltung sei, den elementaren Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden.
Als die Studenten der Universidad Nacional Autónoma de México drei Monate lang streikten, um gegen die geplante Einführung von Immatrikulationsgebühren zu protestieren, blies dem Bürgermeister von Mexiko-Stadt ein noch schärferer Wind ins Gesicht. Er sprach sich sich öffentlich für ein kostenloses Studium aus.
Der Mord an dem Tele-Azteca-Moderator Paco Stanley am vergangenen 7. Juni löste schließlich eine regelrechte politische Lynchkampagne aus. Die Journalisten nutzten den Bekanntheitsgrad des Opfers, zu dessen Beerdigung tausende von Fernsehzuschauern gekommen waren, und forderten den Kopf des Bürgermeisters von Mexiko-Stadt. Erst als mit den ersten Polizeiberichten die mutmaßlichen Verbindungen des Ermordeten zu bestimmten Unterweltmilieus publik wurden, ließ die Medienhysterie etwas nach.
Diese ununterbrochenen Attacken auf Cárdenas und sein Team erinnern – ohne dies im Einzelnen gleichsetzen zu wollen – an die Stimmungsmache gegen die Regierung von Salvador Allende in den siebziger Jahren. Seitdem einige wirtschaftliche Interessengruppen die Besetzung wichtiger Machtbereiche durch den PRD befürchten – oder gar den Aufstieg Cárdenas' zum Präsidenten – sind die Angriffe noch schärfer geworden.
So machte, als der Bürgermeister um die Gewährung eines Kredits von 1,3 Milliarden Mark ersuchte, Präsident Zedillo von seinem Vetorecht Gebrauch, um die geplante Darlehenssumme erheblich zu reduzieren, woraufhin mehrere Sozialprogramme aufgegeben werden mussten. Diese Maßnahme wurde als Kriegserklärung aufgefasst, denn sie bedeutete einen Verstoß gegen die politischen Spielregeln – Zedillo hatte öffentlich erklärt, er werde den Machtwechsel respektieren. Um derartige Folgen politischer Rachegelüste zu verhindern, plant Cárdenas, den Bundesdistrikt künftig in einen eigenständigen Bundesstaat umwandeln, den zweiunddreißigsten Staat der Föderation.
Dass Cárdenas als Symbolfigur einer gemäßigten Linken, die möglicherweise an die Macht gelangen wird, von der Opposition ins Kreuzfeuer genommen wird, ist nicht ungewöhnlich. Doch innerhalb seiner eigenen Partei muss er sich mit einem mindestens ebenso ernsten Problem auseinandersetzen: den unerbittlichen Grabenkämpfen zwischen verschiedenen Strömungen des PRD, bei denen es um Klientel und Machtanteile geht, ganz zu schweigen von ideologischen Differenzen und persönlichen Feindschaften. Diese Grabenkämpfe schädigen das Image der Partei, insbesondere die aggressive Kampagne des ewigen Cárdenas-Rivalen Muñoz Ledo, der eher die politische Mitte repräsentiert als die Linke und entschlossen scheint, seinem Gegner mit allen Mitteln den Weg nach oben zu versperren.
Dabei hatte die Wahl von Andrés Manuel López Obrador zum Parteivorsitzenden große Hoffnungen geweckt. Im Verlauf seiner Amtszeit räumte die Parteileitung der Basis mehr Gewicht ein, um in dieser Partei, die eher ein Bündnis als eine traditionelle Partei darstellt, die Demokratie mit all ihren Widersprüchen zu beleben. Im März 1998 einigte sich der PRD auf seinem IV. Parteitag zum ersten Mal auf eine präzise ökonomische und politische Plattform und definierte sich eindeutug als „Linkspartei“. Mit López Obrador an der Spitze war der PRD wahlpolitisch wieder konkurrenzfähig geworden.
Doch bereits die Wahlen des Nachfolgers von López Obrador am vergangenen 14. März haben die engen Grenzen dieses Wandels aufgezeigt. Ausgerechnet in der Partei, die seit ihrer Gründung ununterbrochen Korruption und Demokratiedefizite bei der PRI anprangert3 , musste die Abstimmung aufgrund massiven Wahlbetrugs annulliert werden. Ein kommissarischer Vorsitzender wurde beauftragt, Neuwahlen zu organisieren, die am 25. Juli durchgeführt wurden – allerdings mit einer sehr geringen Beteiligung.
Diese kleinen und größeren Skandale haben sowohl das Image des Bürgermeisters von Mexiko-Stadt als auch das seiner Partei stark angekratzt.4 Hinzu kommt, dass obwohl die Stadtverwaltung sich nichts zuschulden kommen ließ, die Veränderungen nur langsam vonstatten gehen. Die Enttäuschung über das ausbleibende Wunder lässt viele capitalinos ernsthaft zweifeln, ob Cárdenas und der PRD fähig sind, die Staatsgeschäfte zu übernehmen.5
Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen versucht der PRI mit vier Bewerbern um die Kandidatur6 , sein Image in Sachen Demokratie aufzupolieren. Der endgültige Kandidat wird jedoch erst im November bestimmt. Der PAN hat offiziell noch niemanden benannt, wenngleich sich der Gouverneur des Bundesstaats Guanajuato, Vicente Fox, der von der Schwächung des PRD stark profitiert hat, bereits seit einem Jahr auf eigene Verantwortung ins Rennen begeben hat. Der Bürgermeister von Mexiko-Stadt hat seinerseits bestätigt, er werde als Kandidat für den PRD zur Verfügung stehen. Bisher hat er sich, um den PRI zu besiegen, vor allem für eine große historische Allianz mit dem PAN ausgesprochen.
Die von vielen bereits totgesagte Staatspartei ist durchaus noch lebendig, und ihre Niederlage bei den kommenden Präsidentschaftswahlen, die als die umstrittensten in der Geschichte des Landes gelten, steht alles andere als fest. Am 4. Juli gewann der PRI eine entscheidende Schlacht, als Arturo Montiel zum Gouverneur des Bundesstaates Mexiko gewählt wurde. Andererseits wurde die Partei am selben Tag im Bundesstaat Nayarit von einem Vier-Parteien-Bündnis geschlagen, an dem der PAN und der PRD beteiligt waren. Zahlreiche Meinungsumfragen bestätigen: Die Opposition kann im Jahr 2000 nur gewinnen, wenn sie mit einem „Gemeinschaftsticket“ antritt.
Ein solches Bündnis, das viele für unmöglich hielten, war nur durch langwierige Verhandlungen realisierbar. Am 4. August verkündeten PRD und PAN gemeinsam mit sechs anderen, kleineren Parteien die Gründung eines „Bündnisses für Mexiko“. Noch gibt es allerdings zahlreiche Hindernisse, angefangen bei der Konkurrenz zwischen Cuauhtémoc Cárdenas und Vicente Fox um die Kandidatur, bis hin zu den Modalitäten für die Bestimmung eines gemeinsamen Kandidaten. Auch die Frage, welche Politik aus einer solchen Vereinigung der Gegensätze hervorgehen könnte, bleibt offen. In den entscheidenden wirtschaftspolitischen Fragen stand der PAN in den letzten Jahren stets hinter Präsident Zedillo. Der PRD dagegen verkörpert die Hoffnungen der verarmten Mehrheit der Bevölkerung, die ihre Aussichten auf bessere Lebensbedingungen täglich schwinden sieht.8 Ein Wahlsieg des PAN-PRD-Bündnisses „würde die lokalen Märkte stärken und aufgrund des demokratischen Fortschritts euphorische Reaktionen bei den Investoren auslösen“, erklärt der Bursamétrica-Vorsitzende Ernesto O'Farrill.9 Und darüber hinaus? „Selbst wenn die Opposition gewinnen würde [...], hätte der künftige Präsident keine eigene Mehrheit im Parlament, er muss also mit den anderen politischen Gruppierungen verhandeln. Das wäre lediglich eine Neuauflage der jetzigen, festgefahrenen Situation, in der Entscheidungen nicht gefällt werden können, weil die Parteien nicht in der Lage sind, sich auf Reformen zu einigen.“10 Ganz zu schweigen von einem Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik.
dt. Miriam Lang
* Journalistin, Mexiko.