15.10.1999

Mubaraks tönerne Füße

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Mubaraks tönerne Füße

Von unserem Korrespondenten DAVID HIRST *

HUSNI MUBARAK hat sich am 26. September 1999 durch ein Referendum für eine vierte Amtsperiode im höchsten ägyptischen Staatsamt bestätigen lassen. Gestützt auf eine „massive“ Mehrheit, wird er damit für weitere sechs Jahre seine autokratische Herrschaft fortsetzen können. Aber trotz des Referendums ist das verknöcherte Mubarak-Regime nur schwach in der Gesellschaft verankert, und seine Zukunft wird in hohem Maße vom Erfolg der geplanten ökonomischen Reformen abhängen. Doch die werden beeinträchtigt, wen nicht verunstaltet durch ein System von Korruption und Nepotismus, das sich – ganz wie im indonesischen Suharto-Regime – als Mittler zwischen Staatsapparat und neuer Bourgeoisie breit gemacht hat.

Vielleicht liegt es daran, dass er früher Kampfpilot war. Husni Mubarak hält sich an einen präzisen, wohlgeordneten Tagesablauf, der sich kaum verändert hat, seit er vor 18 Jahren in die hohen Hallen des Palastes von Heliopolis umzog, in den aus Marmor und Alabaster errichteten Amtssitz am Stadtrand von Kairo. Der ägyptische Präsident steht früh auf, schlägt ein paar Bälle Tennis oder geht in den Fitnessraum – aber seit einiger Zeit gehört zu seiner morgendlichen Routine noch ein anderer Akt: Sobald er seine Amtsräume betritt, ruft er die ägyptische Zentralbank an, um sich über die finanzielle Lage des Landes zu informieren. Die macht ihn nervös, und sie könnte sogar seinen politischen Ruin bedeuten.

Es wäre ein tiefer Fall. Auf der internationalen Bühne ist der 71jährige Rais längst eine vertraute und verlässliche Figur. Aber was sein künftiges Schicksal betrifft, so hat er weniger auf politische oder diplomatische Erfolge als auf einen Wirtschaftsaufschwung gesetzt. Und zwar so sehr, dass seine Leute vor ein Paar Jahren das Land sogar zum künftigen „Tigerstaat am Nil“ ausgerufen haben, der auf dem Sprung sei, die glänzenden Erfolge der ostasiatischen Vorbilder zu wiederholen.

Ähnlich wie einst Suharto steht Mubarak an der Spitze eines autoritären Regimes, das so starr und unwandelbar erscheint wie sein eigener Tagesablauf. Seit der Revolution von 1952 waren die Ideologie, die Politik und die internationale Reputation Ägyptens zwar deutlichen Schwankungen unterworfen, aber mindestens ebenso augenfällig war die Kontinuität der Institutionen und der grundlegenden Strukturen. Langlebigkeit an sich muss einem Regime nicht unbedingt schaden, tut es aber, wenn lediglich seine typischen Fehler festgeschrieben werden. Dann kann es als Folge eines schockartigen Ereignisses mit einem Schlag zusammenbrechen. Seit Suhartos Sturz ist denn auch bei der Regierungspropaganda ein neuer Ton herauszuhören: Ägypten sei noch immer auf dem Weg zum Tigerstaat, bewege sich aber mit einer weisen Vorsicht, die Suharto abgegangen sei.

In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft ging Mubarak kein Risiko ein, verzichtete auf spektakuläre Maßnahmen im Stile von Nasser und Sadat. Doch 1990 beschloss er, angesichts des unablässigen wirtschaftlichen Niedergangs ein Programm zur Wirtschaftsreform und strukturellen Anpassung (ERSAP) in Kraft zu setzen. Die soeben abgeschlossene erste („volkswirtschaftliche“) Phase dieses Programms gilt als Musterbeispiel für die erfolgreiche Umsetzung der Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die so genannten wirtschaftlichen Basisdaten sind durchweg positiv, Ägypten hält Währungsreserven von rund 18 Mrd. US-Dollar, der Wechselkurs des ägyptischen Pfund liegt bei etwa 3,4 US-Dollar.

Für die zweite Phase hat sich Mubarak wesentlich mehr vorgenommen. Ägypten soll sich aus einer knirschenden Kommandowirtschaft in eine dynamische freie Marktwirtschaft verwandeln. Dazu sollen die Staatsbetriebe privatisiert und der praktisch nicht mehr existente Aktienmarkt neu begründet werden. In diesem Prozess, der sich nach den Maßgaben der neoliberalen Wirtschaftstheorie vollziehen soll, gibt es Gewinner und Verlierer – aber die schmerzhaften Einschnitte von heute sind angeblich der Preis, den die Verlierer für ihren Lohn von morgen entrichten müssen, also für den allgemeinen Wohlstand, der sich dank des berühmten Trickle-down-Effekts einstellen soll.

Wer in Ägypten die Gewinner sind, ist unübersehbar. Vor allem auf dem Katameya-Hügel. Um zu dem Villenvorort zu kommen, muss man das Territorium der Verlierer durchqueren: die Altstadt von Kairo mit ihren Friedhöfen, auf denen eine halbe Million Menschen hausen. Kairo war ursprünglich für 2 Millionen Menschen gebaut, heute wohnen 16 Millionen in der unaufhaltsam wuchernden Megapolis, um die sich ein fast vollständiger Ring „informeller“ Vorstädte gelegt hat: ungeplante, nicht genehmigte Siedlungen mit düsteren und schmutzigen Quartieren, in denen sich seit 25 Jahren die Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten drängen. Achtzig Prozent der in den letzten zwanzig Jahren gebauten Wohnhäuser sind solche „informellen“ Bauten, das entspricht 47 Prozent des Wohnraums im Großraum Kairo. Nach dem neuesten „Bericht über die menschliche Entwicklung“ der Vereinten Nationen (UNHDR) lebt in solchen Siedlungen etwa die Hälfte der als „arm“ definierten Bevölkerung. Die Studie unterscheidet verschiedene Stufen der Armut, von den „verarmten“ (Menschen, die von zwei bis drei ägyptischen Pfund am Tag leben) bis zu den „Ultra-Armen“ (die mit weniger als einem Pfund auskommen müssen).1 Aus diesen Schichten rekrutieren sich die Arbeitskräfte der Schattenökonomie, jene 60 Prozent der in Kairo Arbeitenden, deren „wirtschaftliche Aktivität in den Seitengassen und am Straßenrand stattfindet oder die einfach nur Gelegenheitsarbeiter sind“.

Grünes Paradies inmitten der Wüste

DOCH kaum hat man die schmutzige Enge der Stadt hinter sich gelassen, beginnt die Wüste – die wie durch ein Wunder in eine grünes Paradies verwandelt ist. Der „Katameya Golf and Tennis Club“ ist eine weitläufige und aufwendig gestaltete Anlage: Der 18-Loch-Kurs schlängelt sich durch eine Landschaft gepflegter Fairways, deren Rasendecke in Kühlcontainern aus Atlanta, Georgia, eingeflogen wird, zwischen Palmen und Buschanlagen und sechs künstlichen Seen, die in der Sonne glitzern. Umgeben von vier Swimmingpools liegt ein Clubhaus im „mediterranen“ Stil, mit eiche- und mahagonigetäfelten Räumen, mit englischen Jagdzenen an den Wänden des Bridgezimmers, mit Gobelintapeten im prachtvollen Treppenhaus. Rund um die Anlage lagern 280 Luxusvillen. 134 Mio. Dollar hat die Errichtung der 180 Hektar großen Komplexes gekostet, der täglich 3 500 Kubikmeter Wasser vebraucht. „Vor zehn Jahren wäre ein solches Projekt als Provokation empfunden worden“, meint der Betreiber Khalid Abu Talib, „aber heute bleibt der neue Reichtum im Lande, und die Leute wollen ihn zur Schau stellen.“

Solche umzäunten und bewachten Enklaven gibt es überall am Rande von Kairo – mit Namen wie Nizza, Dreamland, Beverly Hills. Sie sind nicht nur typisch für das Sozialverhalten und den schamlosen Luxuskonsum der Neureichen, sie sind auch ein integrales Strukturelement der neuen Wirtschaftsordnung.

„Es gibt natürlich auch Unterschiede“, meint ein führender Ökonom, „aber im Grunde finden wir hier alle Elemente der kapitalistischen Günstlingswirtschaft des indonesischen Typs.“ Zu den Unterschieden gehört, dass die Familie Mubarak bei weitem nicht so viel Reichtümer aufgehäuft hat wie der Suharto-Clan. Aber der Präsident und seine beiden Söhne, Alaa und Gamal, mischen intensiv mit in den Geschäften eines Regimes, das sich immer mehr zum Regime der Geschäftsleute entwickelt. Die Vetternwirtschaft breitet sich naturwüchsig aus und wuchert vor allem auf dem Nährboden der staatlichen Institutionen, allen voran der Armee, aus der einst Nassers Revolution hervorgegangen ist. „Auf den ersten Blick sieht es so aus, als habe sich die Macht aus den Kasernen in die Konferenzzimmer verlagert“, erklärt ein Wirtschaftswissenschaftler, „aber es ist eher so, dass die Armee angefangen hat, Geschäfte zu machen.“

Die Geschäftswelt ist auf gute Beziehungen zur Armee und zur Bürokratie angewiesen. „Ohne politische Unterstützung geht hier gar nichts“, meint ein westlicher Offizieller, „und wer groß einsteigen will, muss auf höchster Ebene mit dem System kooperieren.“ Es gibt rund dreißig ägyptische Wirtschaftsmagnaten, deren Imperium stetig wächst. Ihren Honig saugen sie aus den beiden koexistierenden Welten: aus den Freiheiten der neuen Ökonomie und aus den Gefälligkeiten von Bankiers und hohen Funktionären der alten Staatswirtschaft, die immer noch der dominierende Sektor ist. Es ist aber kein Zufall, dass sie sich vorrangig in nichtproduktiven Branchen engagieren, wo man das schnelle Geld macht, vor allem im Geschäft mit Luxusimmobilien. Hier ist der Kernbereich des Nepotismus, hier wird die Komplizenschaft von Geschäftsleuten und Bürokraten zur schreienden Korruption.

Rafat Seif, Abgeordneter der Opposition, nennt ein Beispiel: „Das geht so: Der Minister für Wohnungsbau verkauft an einen Spekulanten Land zum Quadratmeterpreis von 50 ägyptischen Pfund, das dieser innerhalb einer Woche für 500 Pfund weiterverkaufen kann. Auf dieser Basis erhält der Spekulant dann Kredite in Höhe von hunderten von Millionen. Es ist schlicht und einfach Raub, im ganz großen Stil.“

Die Indikatoren, die einen realen Fortschritt im produktiven Sektor anzeigen, sind enttäuschend. Die Investitionsrate, die ohnehin nie ein südostasiatischen Niveau erreicht hatte, ist während der Laufzeit des ERSAP-Programms sogar zurückgegangen, und zwar (seit 1990) auf 16 bis 18 Prozent des BIP, gegenüber etwa 26 Prozent in der Mitte der 70er Jahre. Zum Teil liegt dies daran, dass die privaten Ersparnisse die Defizite im öffentlichen Sektor nicht kompensieren können. Privatisierungen werden häufig nicht korrekt abgewickelt, nennenswerte Gewinne erzielen nur die wenigen Käufer mit guten Beziehungen zur Regierung. Damit entstehen anstelle der staatlichen lediglich private Monopole oder eine Verbindung aus beiden, wobei sich der Protektionismus und die mangelnde Produktivität des alten Systems unter den neuen Formen fortsetzen.

Auch die Industrialisierung kommt nicht recht voran, sie ist sogar von einem Rückschlag bedroht. Die industriellen Exporte wachsen viel zu langsam, das Handelsdefizit 1998 hat um 41,8 Prozent zugenommen. Die Wachstumsrate liegt zwar über 5 Prozent, aber noch weit unter den stabilen 7 bis 8 Prozent, die nötig wären, damit der Trickle-down-Effekt auch bei den „Verlierern“ ankommt.

Grundsätzlich hatte Mubarak immer ein Herz für diese „Verlierer“, zumindest hat er versichert, niemand werde seine Arbeit verlieren. Aber dann gab es doch Entlassungen. Die offizielle Strategie besteht vor allem darin, Anreize für den „Vorruhestand“ zu bieten; das Angebot wird von vielen angenommen, weil sie niedrige Löhne haben und sehen, wie bestimmte Branchen gezielt abgebaut werden.

Bei den 5,4 Mio. Staatsdienern wagt es die Regierung nicht, Entlassungen vorzunehmen, aber man erwartet von ihr, dass sie frei werdende Stellen nicht neu besetzt und so Personal einspart. 1990 waren in den Staatsbetrieben, die zur Privatisierung anstehen, 1,2 Mio. Menschen beschäftigt; durch Frühpensionierung hat sich diese Zahl bis 1996 auf 950 000 verringert. Nach Schätzung der Regierung sind weitere 18 Prozent der Arbeitskräfte „überflüssig“, aber jeder in Frage kommende private Investor würde diese Quote auf mindestens 35 bis 40 Prozent ansetzen. Im größten Industriezweig, der Textilbranche, könnte sie sogar noch weit höher liegen.

Die Arbeitslosenquote beläuft sich nach offiziellen Angaben auf 8,3 Prozent, inoffizielle Schätzungen gehen bis zu 20 Prozent. Rechnet man die Entlassenen und die Neuankömmlinge auf dem Arbeitsmarkt zusammen, dürften jährlich 500 000 bis 600 000 Menschen einen Arbeitsplatz suchen – einen finden wird bei den gegenwärtigen Wachstumsraten aber kaum die Hälfte von ihnen, die übrigen tauchen in die „Schattenwirtschaft“ ab.

Den entscheidenden Widerspruch, der Ägypten unter Mubarak wie einst Indonesien unter Suharto prägt, beschreibt der Gewerkschaftler Abdul Hamid Sheik wie folgt: „In den vergangenen zehn Jahren hat [Mubarak] den Kapitalisten neue Freiheiten beschert, aber nicht den Arbeitern, hat die Wirtschaft liberalisiert, nicht die Politik. Dabei sind die Probleme, die sich in gefährlichem Maße angestaut haben, nur politisch zu lösen.“ Doch von einem politischen Leben kann im heutigen Ägypten kaum die Rede sein. „Mubarak hat Angst davor“, meint ein langjähriger politischer Beobachter. „Es ist irreführend zu sagen, sein Regime sei weniger repressiv als das von Nasser oder Sadat. Vielleicht ist nicht so offen despotisch – aber Tatsache ist, dass unter seiner Regierung mehr Menschen hingerichtet [68 islamistische „Terroristen“] und ins Gefängnis gesteckt wurden [nach wie vor sind schätzungsweise 20.000 Islamisten in Haft] als je zuvor in der modernen Geschichte Ägyptens. Er hat alle Fäden in der Hand; noch nie gab es so servile, nimmeramtsmüde Minister.“

Als „überaltert“ und „verknöchert“ gilt das Regime seinen Gegnern. Wenn sich das System überhaupt verändert, kommt es den „Gewinnern“ zugute. Die neuen Geschäftemacher drängen in die Politik, indem sie der regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) beitreten, für dasParlament kandidieren oder Zeitungsverlage kaufen. Es gibt sogar Gerüchte über die Gründung einer „Partei der Geschäftsleute“, die der NDP, die in den breiten Massen kaum verankert ist, Konkurrenz machen oder sie ersetzen soll. Das ist ebenso ein wahres Zeichen der Zeit wie die weit verbreitete Erwartung, dass Mubaraks Sohn Gamal eine solche Gruppierung anführen werde.

Die „Verlierer“ haben immer weniger zu erwarten. Mubarak hat die Politik der Demokratisierung, mit der er angetreten war, längst aufgegeben. Die NDP verfügt über 96 Prozent der Stimmen im Parlament und hat damit, wie es ein Verfassungsrechtler formuliert „die Macht des Parlaments vollständig an die Exekutive abgegeben“. Immer häufiger werden so genannte Eintagesgesetze verabschiedet, die vor allem wirtschaftliche Fragen regeln. Vor kurzem wurde ein Gesetz über öffentliche Anleihen und Handelsrecht, das 700 Einzelvorschriften umfasst, in nur zwei Tagen durchgepeitscht.

Die Mehrzahl der zugelassenen Oppositionsgruppierungen leidet unter derselben Schwäche. „Unsere Parteien wirken wie ein Museum der toten Ideologien“, meint der Diplomat Tahseen Bashir, „und unsere Intellektuellen, ob Islamisten, Nasseristen oder Nationalisten, haben sich verrannt und wissen keine Antworten.“ Bei den Parteien, die über einen gewissen politischen Einfluss verfügen, etwa die Muslimbrüder, die Mitte-links-Partei Tagammu oder der bürgerlich liberale Wafd, ist keiner der Führer unter siebzig, und alle sind praktisch auf Lebenszeit gewählt.

Dass man heute von einer zu gründenden „Partei der Geschäftsleute“ redet, ist umso sensationeller, als es bislang noch nie gelungen ist, eine neue Partei zu gründen, die eine potentielle Herausforderung für die Gerontokratie darstellen könnte. Der zuständige Parlamentsausschuss hat sämtliche 50 Gründungsanträge abgelehnt, die in den vergangenen 20 Jahren gestellt wurden.

Auch die Gewerkschaften sind den politischen Machthabern stets gefügig. Hatten die Gewerkschaftsbosse unter Nasser noch die Interessen der „Arbeiter und Bauern“ im Munde geführt, so geht es ihnen inzwischen längst nur noch um Machterhalt und Hierarchiespiele. Die Hälfte der Gewerkschaftsführer hätte bereits aus Altersgründen zurücktreten müssen, hätte man nicht rechtzeitig eine neue Altersgrenze beschlossen. In nur sieben von den rund tausend Fabriken der neuen großen Industriezone „Stadt des 10. Ramadan“ sind die Gewerkschaften überhaupt vertreten. In dem gerade entstehenden Privatsektor sind die Arbeiter zwar besser bezahlt, aber nicht selten müssen sie bei ihrer Einstellung eine Erklärung unterschreiben, dass gewerkschaftliche Aktivitäten einen Grund für sofortige Entlassung darstellen.

Nach Ansicht der ägyptischen Menschenrechtsorganisation bedeutet die gnadenlose Unterdrückung jeder Form politischer Meinungsäußerung eine Art „gesetzlich abgesicherter Gewaltanwendung“, die für die Vertretung legitimer Rechte und Forderungen im Rahmen der Legalität immer weniger Raum lässt. Nachdem die Regierung bereits das Parlament, die Parteien und die Gewerkschaften entmachtet hat, versucht sie nun, auch die unabhängigen Berufsverbände auszuschalten. In ihrem jüngsten Angriff auf die Zivilgesellschaft hat sie scharfe Kontrollen über die 14.000 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) des Landes verhängt.

Die Haltung der Ägypter zur Politik ist weithin von Fatalismus geprägt, was zum Teil sicher auf traditionelle Vorstellungen zurückgeht, aber auch auf Erfahrungen unter einem System, das sich offensichtlich jeder Beeinflussung von unten entzieht. Das gilt vor allem für die jungen Ägypter: 8,4 Prozent der Bevölkerung sind Mitglieder einer Partei, in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen sind es hingegen nur 4,1 Prozent. Diese Apathie und latente Abkehr kann jedoch rasch ins Gegenteil umschlagen. Nach der UNHDR-Analyse ist das politische Leben Ägyptens gekennzeichnet durch ein besonders krasses Schwanken zwischen den beiden Polen der „völligen Unterwerfung“ und der „extremen Opposition“.„Für die einfachen Leute sind alle diese Millionäre nichts weiter als Diebe“, meint ein ehemaliger Minister. „Die Legitimität von Reichtum ist heute nicht mehr anerkannt, vermutlich noch weniger als in der Zeit vor der Revolution.“ Besonders verbittert sind die Menschen, die von den ursprünglich egalitären Absichten der Revolution am meisten zu erwarten gehabt hätten: die jungen, akademisch gebildeten und dennoch mittellosen Ägypter. Ihre verzweifelten Lage war der sozioökonomische Impuls für den islamistischen Terror, dem die Religion nur die Ideologie lieferte. Auch wenn der Staat den Terror unterdrückt hat – die sozioökonomischen Bedingungen für seine Entstehung bestehen weiter.2

Auf Dauer kann das nicht gutgehen – irgendwann wird sich diese Spannung entladen, darin sind sich viele Beobachter einig. Die Frage ist nur, wie und wann. Aber klar ist, wovor die Regierung heute am meisten Angst hat: vor einem finanziellen Crash nach indonesischem Muster.

Natürlich ist das Finanzsystem Ägyptens nicht exakt in derselben Verfassung wie das Indonesiens und bei weitem nicht so verwundbar durch einen plötzlichen Abzug von Auslandsgeldern. Sollte jedoch der bereits angeschlagene Immobilienmarkt zusammenbrechen, könnte sich daraus, angesichts der gewaltigen und häufig ungesicherten Kredite an den Privatsektor und vor allem an die Wirtschaftsmagnaten, eine Bankenkrise entwickeln. Dies wiederum würde wahrscheinlich eine Währungskrise auslösen. Mit 18 Mrd. Dollar Währungsreserven sind die ägyptischen Staatsfinanzen nur scheinbar solide, denn dem steht eine ständig wachsende Inlandsschuld gegenüber. Um dieses Defizit auszugleichen und die nationale Währung stabil zu halten (die nach Ansicht mancher Experten um wenigstens 25 Prozent überbewertet ist) legt die Regierung hochverzinsliche Staatsanleihen auf. Inzwischen beläuft sich die Inlandsverschuldung auf mindestens 180 Mrd. ägyptische Pfund, der Schuldendienst verschlingt mehr als ein Viertel des Jahreshaushalts.

Ein Crash würde den Lebensstandard drastisch sinken lassen. Und man weiß aus der Geschichte, wie rasch sich das ägyptische Volk zum Aufstand bereit finden kann. In Mubaraks Ägypten gibt es genug „Verlierer“, denen man, insgesamt wie in ihrem begrenzten sozialen Bereich,die Möglichkeit friedlicher politischer Interessenvertretung systematisch genommen hat. Sollte ihre Lage unerträglich werden, so ist damit zu rechnen, dass sie zum einzigen Mittel greifen, das ihnen noch bleibt: gemeinsame, landesweite spontane und gewaltsame Protestaktionen. Kein Wunder, dass Mubarak jeden Morgen die ägyptische Zentralbank anruft.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Nahostkorrespondent des „Guardian“.

Fußnoten: 1 Ein ägyptisches Pfund entspricht etwa 0,60 DM. 2 Siehe Sami Nair, „Globalisierung und Islamismus“, Le Monde diplomatique, August 1997, und Eric Rouleau, „Ägypten: Auf der Suche nach den gemäßigten Islamisten“, Le Monde diplomatique, Januar 1998.

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von DAVID HIRST