15.10.1999

Die zwei Gesichter der tunesischen Diktatur

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Die zwei Gesichter der tunesischen Diktatur

Von unserem Korrespondenten BRUNO CALLIES de SALIES *

UNTER der Führung von Staatspräsident Ben Ali, der sich am 24. Oktober zur Wiederwahl stellt, hat sich Tunesien mehr und mehr zu einem autoritären Staat entwickelt. Bürgerrechte und Persönlichkeitsrechte werden ständig verletzt, und die politischen Parteien, Initiativen und Vereinigungen sind ebenso zum Schweigen gebracht worden wie die Medien. Die meisten internationalen Menschenrechtsorganisationen haben diese Repression scharf verurteilt. Doch das Regime zeigt sich unbeeindruckt und verweist auf sein wirtschaftlichen Erfolge, auf die merkliche Verbesserung der allgemeinen Lage des Landes und auf den wachsenden Lebensstandard eines immer größeren Teils der Bevölkerung.

Völlig zu Unrecht trägt die südtunesische Insel Djerba denBeinamen „die Milde“. Es herrscht eine drückende Hitze, und die Luft – vom starken Geruch der Olivenbäume durchdrungen – glüht auf der Haut. Dennoch landen hier Tag für Tag tausende, zumeist europäische Touristen mit Linien- oder Charterflügen, um Sonne und Meer zu genießen. Auch die Fähre bringt täglich hunderte von Autos, für die Überfahrt nach Adjim, den Haupthafen der Insel, braucht sie eine Viertelstunde. Djerba und die gegenüberliegenden Küstenstreifen sind mit einem Viertel aller Besucher das Hauptreiseziel der Tunesien-Urlauber, obgleich auch die übrige Küste und die Oasen im Landesinnern vom Tourismus nicht übergangen werden.

Insgesamt machen alljährlich rund 4,5 Millionen Menschen in Tunesien Urlaub, das entspricht der Hälfte der Bevölkerung des Landes. Grund dieses Erfolgs sind ansprechende Leistungen zu attraktiven Preisen. Ein einwöchiger Aufenthalt mit Hotelübernachtung und Flug ist in der Hochsaison schon für unter 1 000 DM zu haben. Derzeit verschafft der Massentourismus mehr als einer halben Million Menschen (das sind 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung) Arbeit im Hotelgewerbe, im Transportwesen, im Kunsthandwerk, im Baugewerbe usw. Die Tourismusbranche erwirtschaftet über 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und bringt Deviseneinnahmen in Höhe von 1,5 Mrd. Dinar (1 Dinar = 1,80 DM).

Nach kostspieligen Investitionen in Infrastruktur und Hotelanlagen hat sich der Staat zurückgezogen, um der Privatwirtschaft das Feld zu überlassen und sich nunmehr darauf zu beschränken, „Tourismuszonen“ auszuweisen, Investitionsanreize zu bieten und für Imagewerbung zu sorgen.1 In Tabarka an der Nordküste des Landes, unweit der algerischen Grenze, sind mehrere Projekte geplant oder bereits im Bau. In Tozeur und in Douz, beiderseits der Schotts gelegen – jener großflächigen mit Salzschlamm gefüllten Senken –, gedeiht der Sahara-Tourismus. Auch die Bergregion Djebel Dahar im Süden, die von der berberischsprachigen Bevölkerung mehr und mehr verlassen wird, zieht mit ihren eindrucksvollen ksur – befestigte Orte, in denen einst die Vorräte lagerten – zahlreiche Touristen an. Ebenfalls im Kommen sind Studienreisen zu den zahlreichen archäologischen Sehenswürdigkeiten des Landes.

Ein weiterer wichtiger Sektor für den Arbeitsmarkt wie für Deviseneinnahmen ist die Bekleidungs- und Lederindustrie, die hauptsächlich den Markt in Frankreich, Italien, Deutschland und Belgien beliefert. Aus diesen Ländern kommen auch fast alle Grundmaterialien (Stoff, Garn, Zubehör, Gerät). Die tunesischen Unternehmen organisieren die Weiterverarbeitung und re-exportieren die Fertigprodukte. Die Wertschöpfung in diesem Wirtschaftssektor ist ebenso gering wie die Entlohnung der Arbeitskräfte. Mit 240 000 Personen beschäftigt die Bekleidungsindustrie fast die Hälfte aller Industriearbeiter oder gut 10 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Weitere 36 000 Beschäftigte arbeiten in der Lederindustrie, in der vergleichbare Import- und Exportstrukturen herrschen. Hauptexportgut sind Schuhe, da die tunesischen Unternehmen die zur Herstellung höherwertiger Produkte erforderliche Technik des Klebens und Schweißens nicht beherrschen. Der Handelsbilanzüberschuss in der Bekleidungs- und Lederindustrie ist relativ gering, wenn man die Einfuhr der Ausgangsprodukte in Rechnung stellt. 1998 belief er sich in der Bekleidungsindustrie auf 623,9 Millionen Dinar, in der Lederindustrie auf 117,2 Millionen.2 Die Branche leidet unter dem Druck der asiatischen Konkurrenz, die mit noch billigeren Arbeitskräften produziert.

Der Staat hat große Anstregungen unternommen, um die Maschinen- und Elektroindustrie zu modernisieren, die seit einigen Jahren die internationale Autoindustrie mit Fahrzeugkomponenten beliefert.3 Der Anteil von Fertigerzeugnissen am Gesamtexport ist merklich gestiegen und beläuft sich mit 6,5 Mrd. Dinar auf 66 Prozent, während die Ausfuhr von Phosphaten um 13 Prozent, von Erdöl um 6 Prozent und von landwirtschaftlichen Erzeugnissen um 9,8 Prozent gesunken ist. Noch immer beruht die Wirtschaft des Landes zu einem erheblichen Teil auf der Landwirtschaft (Getreide, Obst, Gemüse, Oliven). 25 Prozent der Arbeitsplätze und 14 Prozent des BIP entfallen auf diesen staatlich protektionierten Sektor, dessen Produktionsergebnis stark von meteorologischen Unwägbarkeiten abhängt.

Das Regime hat beschlossen, die wirtschaftliche Umstrukturierung voranzutreiben, um das Land verstärkt in die Weltwirtschaft zu integrieren. Tunesien trat im April 1994 der Welthandelsorganisation (WTO) bei und unterzeichnete im Juli 1995 ein Assoziationsabkommen mit der EU, das für die folgenden 12 Jahre die schrittweise Einführung einer gemeinsamen Freihandelszone vorsieht.4 Mit Unterstützung von Weltbank und EU wurde 1995 ein 2,5 Milliarden Dollar schweres Programm zur Infrastrukturverbesserung und Wirtschaftsförderung initiiert. In Bizerte und Zarzis nahe der Grenze zu Libyen entstanden Sonderwirtschaftszonen. Über 500 Unternehmen erhielten im Rahmen des „Anpassungsprogramms“ vom zuständigen Koordinierungsausschuss „Copil“ bereits die Genehmigung, ihre Investitionsvorhaben in Angriff zu nehmen, und haben mit der Einstellung von Verwaltungspersonal begonnen. Weitere 500 Anträge befanden sich Ende Juni 1999 noch in Bearbeitung.

Darüber hinaus wurden diverse Organisationen zur Sammlung und Verbreitung von Wirtschaftsinformationen reorganisiert oder neu geschaffen. Die „Agentur zur Förderung von Auslandsinvestitionen“, die im Juli 1995 ihren Dienst aufnahm, bietet potenziellen Investoren in allen Wirtschaftssektoren Entscheidungshilfen, die 1996 geschaffene „Beobachtungsstelle für Wettbewerbsfähigkeit“ verfolgt die Entwicklung der tunesischen Marktanteile im Vergleich zu anderen Ländern. Im November 1997 wurde der „Oberste Exportrat“ gegründet, dem der Staatschef höchstpersönlich vorsteht. Auch eine Reform des Banken- und Finanzsektors ist in Vorbereitung. Tunis hat sich verpflichtet, die derzeitigen Zollbarrieren in Höhe von 30 bis 40 Prozent des Produktwerts schrittweise abzubauen, die Niederlassung ausländischer Dienstleistungsunternehmen zuzulassen und die Rechte des geistigen Eigentums (Patente, Warenzeichen) strikt zu respektieren.

Wichtigster Handelspartner ist nach wie vor die Europäische Union. Drei Viertel der tunesischen Ein- und Ausfuhren entfallen auf die fünfzehn EU-Staaten, doch nur ein Prozent der außergemeinschaftlichen EU-Exporte geht nach Tunesien. Die Investitionsquote liegt mit 25 Prozent weit unter dem Niveau der Schwellenländer in Asien. Die Auslandsdirektinvestitionen, die sich im Zeitraum 1988 bis 1996 auf 2,5 Milliarden Dinar beliefen, flossen überwiegend in die Energiewirtschaft, ein kleinerer Teil in die Tourismusbranche und in die verarbeitende Industrie.5 Das allgemeine Qualifikationsniveau liegt noch unter dem der Länder Mittelosteuropas: Es fehlt an hochqualifizierten Technikern. Aber auch in diesem Bereich werden große Anstrengungen unternommen.

Insgesamt kann die Wirtschaft zwar durchaus gute, jedoch nicht unbedingt stabile Resultate vorweisen. Nach Ansicht von Wirtschafts- und Finanzexperten ist Tunesien „mit Blick auf das Investitionsrisiko nach wie vor die beste Adresse im Maghreb und eine der besten in ganz Afrika“. Das BIP stieg zwischen 1988 und 1998 von 18 auf über 40 Milliarden DM, während das Exportvolumen im gleichen Zeitraum um jährlich über 4 Prozent zunahm. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 3 800 DM liegt Tunesien an der Spitze der Länder des Maghreb. Die Auslandsschulden sind merklich zurückgegangen – Umschuldungsmaßnahmen waren nicht nötig – und das Verhältnis von Schulden zu Bruttoinlandsprodukt ist innerhalb von zehn Jahren von 70,3 auf 48,9 Prozent gesunken, die Schuldendienstquote im gleichen Zeitraum von 21,8 auf 18,8 Prozent. Die Inflationsrate hat sich bis 1998 auf 3,1 Prozent halbiert, während sich das Budgetdefizit im selben Jahr auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belief. Die Arbeitslosigkeit jedoch ist gleichbleibend hoch. Offiziell liegt sie bei 15,6 Prozent; nach Ansicht eines Arbeitsmarktspezialisten jedoch „beträgt sie eher 20 Prozent, während sich die Jugendarbeitslosigkeit – vor allem unter den Jugendlichen mit höherem Bildungsabschluss – wahrscheinlich auf 25 bis 30 Prozent beläuft“.

Der Staat setzt nach wie vor auf die Förderung der Wirtschaftsentwicklung, daneben unterstützt er den Ausbau des Bildungs- und Sozialbereichs. Ein Nationaler Solidaritätsfonds (FNS), der sich aus privaten Spenden und Staatszuschüssen speist, finanziert seit 1993 den Aufbau einer Basisinfrastruktur in den ärmsten Stadtteilen und den rückständigen Landesteilen. Nach Auskunft eines hohen Beamten „sind die meisten Dörfer heute an das Strom- und Wasserversorgungsnetz angeschlossen und besitzen ein Postamt und eine ambulante Krankenversorgung“. Ein wachsender Teil der Bevölkerung erwerbe Wohnungseigentum, obgleich der „offiziell genannte Prozentsatz von 80 Prozent wohl zu hoch gegriffen ist: 60 Prozent sind wahrscheinlicher“. Und weiter: „Angesichts der Verbesserung der Lebensbedingungen kann man davon ausgehen, dass rund 30 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht gehören. Die übliche Angabe von 60 Prozent ist völlig unrealistisch, wenn man von der Gesamtbevölkerung die Zahl der Arbeitslosen, der armen Bauern und der in bescheidenen Verhältnissen lebenden Arbeiter abzieht.“

Immerhin kommen mehr und mehr Tunesier in den Genuss eines höheren Lebensstandards – ein Erfolg der Entwicklungsanstrengungen während der 30jährigen Burgiba-Ära. Dessen ambitionierte Bildungspolitik trägt heute ebenso Früchte wie die Förderung des Wohnungsbaus; das Bevölkerungswachstum konnte nach offiziellen Angaben auf 1,2 Prozent verringert werden, und die Landwirtschaft profitiert von den zahlreichen Bewässungerungsanlagen. Diese positive Entwicklung im wirtschaftlichen und sozialen Bereich steht in auffälligem Kontrast zur autoritären Tendenz des Regimes.

Der staatsstreichähnliche Vorgang, mit dem die 30-jährige Herrschaft von Habib Burgiba am 7. November 1987 ein Ende fand, wurde von der gesamten Gesellschaft als ein Befreiungsschlag empfunden. Zine el-Abidine Ben Ali, der wegen seines harten Vorgehens gegen die Islamisten zum Premierminister avanciert war und damals offenbar wieder abgesetzt werden sollte, ließ den „höchsten Kämpfer“ kurzerhand von einigen Ärzten für „amtsunfähig“ erklären. Er setzte die Repression gegen die Islamisten aus – Burgiba hatte die Absicht, den Prozess gegen den Mouvement de Tendance Islamique (MTI) wieder aufzunehmen, um die Führer der Bewegung zum Tode verurteilen zu lassen –, kam durch die Absetzung Burgibas einem Staatsstreich des illegalen Flügels des MTI zuvor und bewahrte das Land damit wahrscheinlich vor einem Bürgerkrieg.6

Nach seiner Machtübernahme rief Ben Ali alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte zu vereinten Anstrengungen auf, entschärfte die innenpolitische Lage und erwarb sich dadurch zunächst allseitiges Wohlwollen. Gleichzeitig suchte er jedoch den Einfluss der islamistischen Bewegung weiter zu reduzieren. Er weigerte sich, den MTI zu legalisieren, obwohl die Organisation dem neuen Parteiengesetz, das jeden religiösen Bezug untersagt, Folge leistete und sich in „Ennahda“ (Wiedergeburt) umbenannte. In einer Ansprache am 7. November 1989 machte er deutlich, dass für eine religiöse Partei in Tunesien kein Platz sei.

Eine tiefgreifende Reform des Bildungssystems wurde gestartet, die zunehmende Spannungen zwischen islamistischer Bewegung und Regierung zur Folge hatte. Die Agitation griff auf die Gymnasien und die Universitäten über, und bald gab es wieder so viele Streiks und Demonstrationen wie gegen Ende der Burgiba-Ära. Entscheidend für die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Regime und Islamisten sollte indes der Golfkrieg von 1990/1991 werden.

Das Regime gerät in die Kritik

IN dem Bemühen, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, distanzierten sich die tunesischen Islamistenführer von Kuweit und Saudi-Arabien, ergriffen für den Irak Partei und übten scharfe Kritik an den Erklärungen der Regierung. Im Winter 1990/1991 waren Tunis und mehrere Provinzstädte Schauplatz gewalttätiger Demonstrationen, die offenkundig gut vorbereitet und organisiert waren. Die Regierung wurde unruhig und beschloss, die Bewegung zu zerschlagen. Sie ließ mehrere tausend Personen verhaften und gab im Mai 1991 die Entdeckung einer „terroristischen Verschwörung“ bekannt, in die angeblich auch Aktivisten der Ennahda verwickelt waren. In den folgenden Monaten verurteilte die zivile Justiz in aller Heimlichkeit hunderte, wenn nicht tausende von Personen zu Gefängnisstrafen zwischen sechs Monaten und mehreren Jahren. Im Sommer 1992 schließlich wurde den aktivsten Mitgliedern der Ennahda in zwei öffentlichen Verfahren der Prozess gemacht: die Militärgerichte in Tunis verhängten gegen 46 der 279 Angeklagten lebenslängliche Haftstrafen.7

Die Tunesische Menschenrechtsliga (LTDH), in der neben Persönlichkeiten, die der Regierungspartei Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD)8 nahestehen, auch andere politischer Strömungen vertreten sind, übte scharfe Kritik an den harten Repressionsmaßnahmen. Das Regime konterte mit dem Gesetz vom 24. März 1992, das eigens zur Neutralisierung der LTDH verabschiedet wurde: Es legt fest, dass kein führender Politiker gleichzeitig in einer anderen Initiative oder Vereinigung eine Führungsposition bekleiden darf, während alle Vereinigungen verpflichtet sind, jede Person aufzunehmen, die die bürgerlichen Ehrenrechte besitzt. Infolge dieser Bestimmungen verloren verschiedene Parteiführer ihren Einfluss oder gar ihr Amt im Vorstand der Menschenrechtsliga, die nun massenhaft durch regierungsnahe Aktivisten unterwandert wurde.

Obwohl die Liga faktisch aufgelöst war, weil sie dem neuen Gesetz nicht Folge leisten wollte, erhielt sie 1993 die Genehmigung, ihre Aktivitäten wieder aufzunehmen und kam Februar 1994 zu einem Kongress zusammen. Die Teilnehmer lehnten es nicht nur ab, führende Politiker in den eigenen Vorstand zu berufen, sondern forderten darüber hinaus von der Regierung, dass sie eine entsprechende Grundsatzregel für alle Vereinigungen erlassen möge. Bei der Wahl des neuen Führungsgremiums votierte der Kongress für eine Liste, auf der alle politischen Strömungen vertreten waren. Die andere Liste war politisch unausgewogener, da die dem RCD nahestehenden Kandidaten ihre Beteiligung verweigert hatten. Zum Präsidenten wurde der als gemäßigt geltende Taoufik Bouderbala gewählt. Dem Einspruch, den die Liga bereits bei Inkrafttreten des Gesetzes eingelegt hatte, wurde per Gerichtsentscheid vom 21. Mai 1996 stattgegeben. Damit war die Angelegenheit, was die rechtlichen Aspekte betrifft, abgeschlossen.9 Die Liga ist aus diesem Streit geschwächt hervorgegangen und hat ihre Handlungsfähigkeit eingebüßt.

Andererseits haben sich verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zusammengeschlossen, um die staatlichen Übergriffe anzuprangern, die im Zuge der Repression gegen die Islamisten verübt werden. Im Februar 1993 gründeten einige Hochschullehrer, darunter der Präsident der damals aufgelösten Menschenrechtsliga, Moncef Marzouki, das „Nationale Komitee zur Verteidigung von Häftlingen, die wegen ihrer Gesinnung einsitzen“ (CNDO) und veröffentlichten eine Erklärung, in der sie die Beschneidung der persönlichen Freiheitsrechte scharf kritisierten. CNDO-Präsident Salah Hamzaoui wurde verhaftet und wegen „Bildung einer illegalen Vereinigung, Verunglimpfung und Verbreitung falscher Nachrichten zur Störung der öffentlichen Ordnung“ vor Gericht gestellt. Internationaler Protest erwirkte schließlich seine Freilassung.

Einige Wochen später, im April 1993, erklärten 200 Intellektuelle und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, der von Ben Ali bei Regierungsantritt angekündigte Politikwechsel äußere sich de facto in einem deutlichen Abbau der bürgerlichen Freiheiten und zunehmendem Machtmissbrauch. Sie riefen alle demokratischen Kräfte auf, gegen die Beschneidung der Freiheits- und Menschenrechte und gegen das Informationsmonopol der Regierung mobil zu machen und in eine nationale Debatte über die Zukunft des Landes einzutreten. Anlässlich des 50. Jahrestags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Dezember 1995 veröffentlichten 130 Personen eine Petition, in der sie eine Generalamnestie forderten, sich ebenfalls besorgt über die Menschenrechtslage äußerten und ihrer „Empörung angesichts der daraus resultierenden Not“ Ausdruck verliehen.

Im April 1997 veröffentlichten 202 Personen einen Aufruf, in dem sie die Verwirklichung der Grundsätze des politischen Pluralismus, die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, den Schutz der Grundrechte und eine Amnestie einklagten. Im Dezember 1998 schließlich gründeten einige teils in Tunesien, teils im Exil lebende Oppositionelle verschiedener politischer Gruppierungen einen Nationalen Rat für die Freiheiten in Tunesien (CNLT).

Bezeichnend für das äußerst angespannte Verhältnis zwischen Regierung und politischer Opposition ist die „Moadda-Affäre“, so benannt nach dem Vorsitzenden der Bewegung der demokratischen Sozialisten (MDS). Mohammed Moadda war der Ansicht, das Regime wisse seine regierungsfreundliche Haltung nicht gebührend zu würdigen, denn seine Partei – die größte Oppositionspartei Tunesiens – hatte bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1995 nur 2 von 4 090 Sitzen erhalten.10 In einem Brief an Staatspräsident Ben Ali vom 21. September 1995 kritisierte er deshalb den autoritären Kurs des Regimes. Dieses Schreiben wurde anlässlich des Tunesien-Besuchs des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac vom 5./6. Oktober parteiintern verbreitet und anschließend als offener Brief publiziert. Am 9. Oktober wurde Mohammed Moadda festgenommen und am 29. Februar 1996 zu elf Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, unter anderem wegen „geheimer Verbindungen zu einem ausländischen Staat“ (Libyen). Moaddas Rechtsanwalt Khémais Chamari, auch er Mitglied des MDS, wurde am 18. Mai 1996 wegen „Verletzung der Schweigepflicht in einem laufenden Verfahren“ ebenfalls verhaftet und vom zuständigen Gericht in Tunis zu einer 5-jährigen Haftstrafe verurteilt. Am 30. Dezember 1996 setzte man Khémais Chamari und Mohammed Moadda „mit Auflagen auf freien Fuß“, offiziell aus „humanitären“ Gründen.

Nachdem Mohammed Moadda am 20. April 1997 unter Hausarrest gestellt worden war, kündigte er an, er wolle das Regime auf Schadensersatz verklagen. Einige Wochen später wurde er bei einer Auseinandersetzung vor seinem Wohnsitz von Mitgliedern der Sicherheitskräfte verletzt. Er trat in den Hungerstreik, der mit einer Einweisung ins Krankenhaus endete. Staatspräsident Ben Ali beschloss daraufhin, den Hausarrest aufzuheben, und erteilte Moadda die Erlaubnis, ins Ausland zu reisen. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich und Großbritannien, wo er im Herbst 1997 angeblich Kontakt zu Mitgliedern der Opposition aufgenommen hatte, wurde Moadda am 20. Dezember desselben Jahres abermals unter Anklage gestellt, diesmal wegen „Destabilisierung des Regimes in Zusammenarbeit mit einem Netz von Fundamentalisten“. Die Anklage blieb bisher ohne Folgen.

Auch weniger bekannte Oppositionelle – Islamisten, Gewerkschafter und Menschenrechtler, Rechtsanwälte und Journalisten, Männer wie Frauen11 – gehören zu den Opfern der Beamten des Innenministeriums, der Nationalgarde, der Polizei sowie von Privatpersonen, die im Auftrag der genannten Behörden agieren. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich der Verteidigung der Menschenrechte verschrieben haben, berichten Jahr für Jahr von Massenverhaftungen, merkwürdigen Todesfällen, Folter, Unregelmäßigkeiten bei Gerichtsverfahren, Misshandlungen von inhaftierten Mitgliedern islamistischer Bewegungen und Aktivisten der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens.12

Das Europäische Parlament verabschiedete am 23. Mai 1996 erstmals eine Resolution, in der es sich „sehr beunruhigt [zeigt] angesichts der Verschlechterung der Menschenrechtslage in Tunesien“. Die Abgeordneten äußerten ihre „Bestürzung darüber, dass politische Oppositionelle und deren Familien verfolgt werden“. Auch das amerikanische Außenministerium warf der tunesischen Regierung in seinem Jahresbericht 1998 wiederholte Menschenrechtsverletzungen vor. Scharfe Kritik an der dramatischen Menschenrechtslage in Tunesien übten darüber hinaus zwei UN-Expertengremien, der UN-Menschenrechtsausschuss (HRC) in seinem Bericht vom November 1994 sowie der UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) in seinem Bericht vom November 1998.

dt. Bodo Schulze

* Forschungsleiter am Centre de Recherche des Écoles de Coätquidan-Saint Cyr (CREC-Saint Cyr), Autor von „Le Maghreb en mutation“, Paris (Maison neuve & Larose), erscheint im November 1999.

Fußnoten: 1 Um der Zersiedelung der Landschaft und der Zerstörung landwirtschaftlicher Nutzflächen durch „wilde“ Hotelbauten vorzubeugen, wies der Staat „Tourismusgebiete“ aus und gründete eine staatseigene Hotelkette. 2 Die Exporte der Bekleidungsindustrie beliefen sich im Jahr 1998 auf 2,95 Mrd. Dinar, die Importe auf 2,32 Mrd. Dinar, gegenüber 1997 eine Steigerung von 10 bzw. 15 Prozent. Das Ledergewerbe verzeichnete im selben Jahr Exporte von 337,2 Mio. Dinar und Importe von 220 Mio. Dinar, gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme von 7,8 bzw. 10,5 Prozent. 3 Durch internationale Partnerschaftsabkommen erlebt die Herstellung von Fahrzeugteilen derzeit einen raschen Aufschwung: Ausländische Automobilkonzerne dürfen in Tunesien ihre Erzeugnisse absetzen und ordern im Gegenzug bei lokalen Unternehmen Fahrzeugteile. 4 Das Abkommen ist nach der Ratifizierung durch die 15 Mitgliedstaaten am 1. März 1998 offiziell in Kraft getreten. Da Tunesien jedoch schon 1996 mit der Umsetzung der Vertragsbestimmungen begann, kommt das Land seit Anfang 1999 bereits den Verpflichtungen nach, die im 4. Jahr fällig werden. 5 80 Prozent der Auslandsdirektinvestitionen entfallen auf den Energiesektor. Italien hat in den Bau einer zweiten Erdgas-Pipeline investiert, die algerisches Erdgas über Tunesien nach Italien bringt. Britische Investitionen flossen in die Ausbeutung der Erdgaslager von Miskar vor der Küste von Sfax. 6 Vgl. Rémy Leveau, „Le Sabre et le turban“, Paris (François Bourin) 1993, S. 105. 7 amnesty international übte 1992 scharfe Kritik an diesen „ungerechten Prozessen“ und an merkwürdigen Todesfällen. Die Regierung wies diese „Anwürfe“ zurück. 8 Wenige Tage nach der Ausrufung der 2. Republik (am 25. 7. 1988 durch Präsident Ben Ali) trat die Regierungspartei PSD zu ihrem ersten Kongress unter dem neuen Namen Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD) zusammen. 9 Diese Entscheidung fiel in die Zeit zwischen dem Herbst 1995 und dem Sommer 1996, als die Verhaftung, der Prozess und die Verurteilung der beiden Oppositionsabgeordneten Mohammed Moadda und Khémais Chamari internationale Aufsehen erregten. 10 Bei den Parlamentswahlen im März 1994 hatte der MDS 10 der 19 Sitze erhalten, die von der Opposition maximal errungen werden konnten. Nach dem Wahlgesetz werden in den 25 Provinzen die Mandatsinhaber nach dem Prinzip der Mehrheitswahl ermittelt, diese 144 Sitze sind der Regierungspartei sicher. Nur die verbleibenden 19 der 163 Parlamentssitze werden nach dem Verhältniswahlrecht an die Opposition vergeben – hier entscheidet das prozentuale Ergebnis der Parteien im Landesdurchschnitt. 11 Dazu Luiza Toscane u. Olfa Lamloum, „Tunesien: Frauenrechte zum Vorzeigen“, Le Monde diplomatique, Juni 1998. 12 Nach Schätzungen von AI und FIDH saßen zur Zeit des Staatsbesuchs von Ben Ali in Frankreich vom 20. bis 21. Oktober 1997 rund 2 300 Personen aus politschen Gründen und wegen Meinungsdelikten in tunesischen Gefängnissen (häufigster Vorwurf: Unterstützung der Ennahda).

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von BRUNO CALLIES de SALIES