15.10.1999

Der Traum der roten Handelskammer

zurück

Der Traum der roten Handelskammer

Von unserem Korrespondenten ROLAND LEW *

IN einer Atmosphäre wachsender Ungewissheit hat die Volksrepublik China am 1. Oktober ihr 50-jähriges Bestehen gefeiert. Wirtschaftliche Schwierigkeiten und die sozialen Umwälzungen im Gefolge der Privatisierung von Staatsbetrieben lassen in der Bevölkerung die Unzufriedenheit wachsen, und das Regime sieht seine Legitimität von verschiedenen Seiten bedroht: von den gebildeten städtischen Jugendlichen, die mit der revolutionären Vergangenheit nicht mehr viel verbindet, von den neuen Arbeitslosen, denen jde soziale Absicherung fehlt, von „spirituellen“ Bewegungen, die sich an alte chinesische Traditionen anlehnen, von einem wachsenden Teil der intellektuellen Elite. Der Kommunistischen Partei Chinas, in den Widersprüchen des „Marktsozialismus“ wie ihrer eigenen nationalistischen Propaganda befangen, muss es gelingen, wenigstens einen Teil der zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen, wenn sie ihr Machtmonopol nicht gefährden will.

Seit Monaten ist der berühmte Tiananmen-Platz für die Öffentlichkeit gesperrt, angeblich wegen umfassender Verschönerungsarbeiten. Die Bevölkerung von Peking lässt sich allerdings nicht hinters Licht führen; sie kennt den wahren Grund, und spöttelt über die offiziellen Erklärungen. Jedenfalls hat die polizeiliche Abschirmung des Platzes in den Juniwochen jede öffentliche Kundgebung verhindert, sieht man von individuellen Aktionen einmal ab. Das Stimmungsbarometer zeigt zwar nicht gerade auf offenen politischen Protest, doch die Initiativen gegen die Diktatur der Kommunistischen Partei und deren Autoritarismus setzen ihre Arbeit fort.

Die Überraschung kam aus einer Richtung, aus der niemand sie erwartet hatte, am wenigsten die Partei selbst. Am 25. April zogen tausende von Mitgliedern des Fa-Lun-Gong-Kults unter den Augen der Staatsgewalt schweigend durch die Straßen der unauffällig, aber effektiv überwachten chinesischen Hauptstadt. Wie aus diplomatischen Kreisen verlautete, ließ sich Staatspräsident Jiang Zemin höchstpersönlich in einem Zivilfahrzeug zum Tiananmen-Platz fahren, um den unvorhergehenen und erstaunlichen Vorfall in Augenschein zu nehmen.

Die „Sekte“, die traditionellen chinesischen Spiritualismus mit einem bedingungslosen Nationalismus verknüpft, rief Befürchtungen wach, die jahrhundertealten, in den Kampfkünsten bewanderten „Geheimgesellschaften“ könnten wieder erstarken. Nach 1949 waren sie verboten worden – aber vermutlich nie ganz verschwunden –, in der Nach-Mao-Ära erlebten sie eine Renaissance. Obgleich Fa Lun Gong gewisse Ähnlichkeiten mit den alten Geheimgesellschaften aufweist, ist das öffentliche Auftreten dieser ungleichzeitigen Bewegung doch eher Ausdruck eines allgemeinen Wandels der chinesischen Gesellschaft. Unmerklich ist es der Bevölkerung gelungen, dem Regime gewisse Freiräume abzuringen, und diese potenziell bedrohliche Autonomie geht, wie die Staatsmacht heute feststellen muss, viel weiter als die Zugeständnisse, die zu gewähren sie bereit war.

Indem das Regime alle Bezüge auf den Marxismus-Leninismus zugunsten einer die Vergangenheit verklärenden nationalistischen Ideologie aufgab, beschwor es unabsichtlich herauf, was ihm heute Sorgen bereitet. Zahlreiche Fernsehserien, die vor allem auf dem Land großen Erfolg haben, verherrlichen berühmte Episoden aus der chinesischen Geschichte oder die traditionellen Werte des Konfuzianismus. Teile der Bevölkerung sind indes noch nationalistischer eingestellt und vergangenheitsbegeisterter als die Regierung selbst, und so steht bisweilen die gesamte rationalistische und westliche Grundorientierung in Frage, die mit dem Marxismus nach China kam – obgleich dieser Marxismus schon seit langem stark „chinesische“ Züge trug.

Doch wie irrational und fremdenfeindlich diese Hinwendung zur Vergangenheit und zu den alten Wertvorstellungen auch sein mag – man erinnere sich an die überaus heftige Reaktion auf die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad –, so äußert sich darin doch auch eine Kritik an den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, die zu wachsender sozialer Ungleichheit führen und die – zumal unter den Bauern – zahlreichen Verlierer im gegenwärtigen Modernisierungprozess besonders hart treffen. Gerade diese Bevölkerungsgruppen sind in ihrer Enttäuschung empfänglich für die Verheißungen der verschiedenen Sekten und Scharlatane, die ihnen einen Ausweg aus ihrer Ohnmacht gegenüber sozialer Umwälzung und öffentlicher Unmoral anbieten: Eine Lebensordnung und ein erhöhtes Selbstwertgefühl durch Anwendung „befreiender“ Körpertechniken. China erlebt heute ein „Wiederaufleben religiöser Traditionen, die immer schwieriger zu kontrollieren sind“.1

Gewiss überschätzt die staatliche Führung die von der Fa Lun Gong ausgehende Bedrohung. Der Führer der Organisation, Meister Li, beteuert im übrigen den unpolitischen Charakter seiner Ziele.2 Dennoch schritten die Behörden nach einigem Zögern am 23. Juli zur Tat, verboten die Organisation und verhafteten in dreißig Städten tausende von Mitgliedern.3 Darüber hinaus hat die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) eine Kampagne gegen die ideologische Laxheit in ihren Reihen gestartet, nicht zuletzt, weil der Einfluss der Fa Lun Gong bis in hohe Ränge der Armee reicht.4 Auf lokaler Ebene wird diese Politik jedoch nur widerwillig befolgt, da viele Ortsfunktionäre der Auffassung sind, dass die Fa Lun Gong nur eine harmlose Spielart der traditionellen Formen geistig-körperlicher Ertüchtigung darstellt, die von den Älteren noch immer sehr geschätzt und in der ein oder anderen Weise praktiziert wird (die Jüngeren wenden sich eher der Disco und anderen Westimporten zu).

Die repressive und wenig erzieherische Überreaktion der Staatsführung zeugt von ihrem andauernden Unsicherheitsgefühl und macht deutlich, dass sie sich ihrer Schwäche bewusst ist. Ein chinesischer Journalist erinnerte in diesem Zusammenhang an die berühmte Sentenz von Marx, alle großen weltgeschichtlichen Ereignisse ereigneten sich zweimal, das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.5 Die Tragödie fand im Jahr 1989 statt, die Farce spielt heute: Ein Regime mimt Entschlossenheit. Wie es heißt, kamen die Befehle von ganz oben, von Jiang Zemin höchstpersönlich, der die Unterwanderung der Volksbefreiungsarmee – der entscheidenden Stütze des Regimes – erschreckend findet. Den 80 bis 100 Mio. Anhängern, die Fa Lun Gong nach eigenen Angaben besitzt – der Staat spricht von 1 bis 2 Mio., auch dann eine nicht gerade kleine „Sekte“ –, stehen 60 bis 70 Mio. Parteimitglieder gegenüber. Die Zahlenangabe von Fa Lun Gong mag frei erfunden sein, bezeichnend ist sie durchaus.

China gleicht einem aufgewühlten Meer. Die Wirtschaft hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen und bewegt sich am Rand einer gefährlichen Deflation. Die Umstrukturierung und Privatisierung zahlreicher Staatsbetriebe führt zu wachsender Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit. Kurz nach dem Tod von Deng Xiaoping, am Vorabend der Asienkrise von 1997, erklärte die neue Führungsriege um Staatspräsident Jiang Zemin, sie wolle die wirtschaftliche Transformation des Landes mit aller Entschlossenheit fortführen, die letzten Pfeiler des „Sozialismus“ niederreißen und den Staatssektor durch verschiedene Maßnahmen, auch durch Teilprivatisierungen, für die Marktwirtschaft öffnen.6

Arbeitslose ohne feste Sozialleistungen

IM Folgejahr 1998, als die Region in der Krise steckte, kündigte die Regierung unter Leitung des neuen Premierministers Zhu Rongji eine behutsamere Umstrukturierung der Staatsunternehmen an, um der gravierenden sozialen Probleme (Arbeitslosigkeit, nicht ausgezahlte Löhne usw.) Herr zu werden und ein Umschlagen der wachsenden Unzufriedenheit in offene Aufstände zu verhindern.

Doch obwohl man bei der „Umstrukturierung“ einen Gang herunterschaltete, wurden und werden in den staatseigenen Betrieben jährlich bis zu 10 Mio. Arbeiter und Angestellte entlassen oder in unsichere Beschäftigungsverhältnisse gedrängt, die letztlich verdeckte Arbeitslosigkeit bedeuten. Dabei ist man von einem landesweit effizienten System der sozialen Sicherung und Arbeitslosenunterstützung noch weit entfernt. Jahrzehntelang lag diese Aufgabe ausschließlich in den Händen der Betriebe, und Arbeitslosigkeit gab es offiziell nicht. Heute sind dafür zum Teil auch die Lokal- und Regionalbehörden zuständig, deren Handlungsmöglichkeiten von Ort zu Ort stark differieren.

In den Städten dürfte die (offizielle wie verdeckte) Arbeitslosigkeit rund 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung betragen, das sind ungefähr 40 Mio. Erwerbslose, eine Zahl, die beträchtlich über den offiziellen Statistiken (3 Prozent) und den Angaben in regierungsamtlichen Publikationen (6 Prozent) liegt.7 Nichts verdeutlicht die instabile Lage dieses einst wachstumsstarken Landes besser als der drastische Anstieg der Arbeitslosigkeit und die zunehmende Unsicherheit der Lebensperspektiven (wobei man die Unsicherheit während der Säuberungswellen in der Mao-Ära allerdings nicht vergessen sollte). Das Haushaltsdefizit, das 1997 bei 55,5 Mrd. Yuan lag, wird im laufenden Rechnungsjahr auf 160 Mrd. Yuan anschwellen8 , während das Volumen des Staatshaushalts seit nunmehr 20 Jahren schrumpft wie ein Chagrinleder: Die Staatsquote fiel von 35 Prozent im Jahr 1978 auf nur noch 12 Prozent im Jahr 1998.9

Bedenkt man des weiteren die wachsende soziale Ungleichheit, das regionale Einkommensgefälle (die reichste Provinz, der Großraum Shanghai, verdient zehnmal so viel wie die ärmste Provinz, Guizhou)10 , sowie die nach wie vor akuten Probleme auf dem Land (wo mehr als 70 Prozent der Bevölkerung leben), so ist die weitverbreitete Unzufriedenheit durchaus begreiflich. Und man versteht, welche Befürchtungen die Machthaber hegen, und warum sie gegen die kleine Schar von Dissidenten ebenso hart vorgehen wie gegen die zaghaften, aber immer zahlreicheren Ansätze der Beschäftigten, unabhängige Gewerkschaften zu bilden und sich gegen die drohende Gefährdung ihrer Arbeitsverhältnisse zu organisieren. Der unabhängige Gewerkschafter Han Dongfang, der von seinem Exil in Hongkong aus agiert, nennt für das Jahr 1998 die Zahl von 260 000 Konflikten aller Art, ein Großteil davon Arbeitskonflikte, die in 500 Fällen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt haben sollen.11

Die Lokal- und Regionalbehörden zeigen oft mehr Umsicht als die staatliche Zentralinstanz. Sie bemühen sich, den Ansprüchen der Bevölkerung Rechnung zu tragen, damit sich die latente Unruhe nicht zu offener Regimeopposition auswächst: Die Angst vor einem erneuten 89er Frühling – oder schlimmer noch: einem Frühling des Volkes – sitzt tief. Obwohl geschwächt, kann sich der Staat durchaus noch Gehör verschaffen. Doch der Kapitalismus gewinnt von Tag zu Tag an Dynamik, unmerklich untergräbt er die Fähigkeit des Staats, das Tempo und die Grenzen der Kapitalisierung zu bestimmen. Premierminister Zhu Rongji sucht die Entwicklung in geordnete Bahnen zu lenken und die Rolle des Staats zu festigen. Neben einer präziseren Ausformulierung und effektiveren Anwendung der geltenden Gesetze und Verordnungen gehört es zu seinen wichtigsten Zielen, die ausufernde Korruption – die das soziale Gewebe zersetzt und für die pessimistische und ressentimentgeladene Grundstimmung im Volk verantwortlich ist – zumindest zu begrenzen, besser noch: wirksam zu bekämpfen.

Zhu gilt als fähiger Staatsmann und als eine der wenigen, wenn nicht einzige integre hochrangige Führungspersönlichkeit (eine vielleicht allzu düstere Sicht, die jedoch bezeichnend ist für das Bild, das die Bevölkerung von der Staatsführung hat). In der Partei ist Zhu allerdings relativ isoliert, er besitzt keine wirkliche Machtbasis. Von seiner Reise in die Vereinigten Staaten im Frühjahr 1999 kehrte er politisch geschwächt zurück, weil ihm in Bezug auf den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) trotz erheblicher Zugeständnisse nicht der erwartete Durchbruch gelungen war. Dass die chinesischen Medien dennoch von einem Erfolg sprachen, konnte kaum darüber hinwegtäuschen, dass man sich mehr erhofft und unterschätzt hatte, wie schwierig es sein würde, den mühsamen Beitrittsverhandlungen, die von verschiedener Seite auf erbitterten Widerstand stoßen, neue Impulse zu verleihen.12

Nicht wenige Führer mächtiger Regional- und Wirtschaftslobbys – vor allem im Agrarbereich und im Telekommunikationssektor, der die Öffnung des chinesischen Markts besonders deutlich zu spüren bekäme – treten neuerdings offensiv für die Beibehaltung eines gewissen Protektionismus ein, auch um den Preis, den Beitritt zur Welthandelsorganisation zu verzögern. Wie gerufen kam ihnen dabei die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad, die in der Bevölkerung nationalistische und antiamerikanische Gefühle weckte, eine spontane Reaktion, die von der Staatsmacht sogleich instrumentalisiert wurde.13

China hat offenkundig Schwierigkeiten, sich neu zu orientieren; der Übergang von einem System ins andere bereitet, gelinde gesagt, großes Unbehagen. Problematisch ist dabei vor allem die Rolle des Staats, der ungeachtet seines autoritären Charakters in vieler Hinsicht Anzeichen von Schwäche zeigt und in manchen Bereichen des alltäglichen und wirtschaftlichen Lebens geradezu machtlos erscheint, zumal gegenüber den regionalen „Feudalmächten“. Trotz seiner ungebrochenen Bereitschaft zur Repression scheitert er immer wieder an der Unzufriedenheit und am latenten Widerstand der Bevölkerung, die sich von ihrem Kampf für mehr Freizügigkeit durch nichts abbringen lässt. Bei aller Zersplitterung ist die Gesellschaft in Bewegung geraten, und dies gilt ebenso für die „kommunistische“ Staatspartei, die eine Gesellschaft für sich bildet und in ihrer Vielgestaltigkeit ein Spiegelbild der Gesamtgesellschaft ist.

Die derzeitige Schwächung des Ministerpräsidenten bedeutet nicht, dass der Strukturwandel sich verlangsamt hätte. Im Gegenteil: Erst kürzlich bekräftigte Staatspräsident Jiang Zemin seine Entschlossenheit, die Umstrukturierung des Staatssektors fortzuführen, die er bei seinem Amtsantritt angekündigt hatte. Eine Teilprivatisierung des staatssozialistischen Sektors ist für ihn kein Tabu mehr, und er schließt nicht aus, dass schon bald Mehrheitsbeteiligungen einheimischer Privatunternehmer an strategisch nicht relevanten Staatsbetrieben möglich sein werden.

Alte Machtstrukturen und moderner Rechtsstaat

NACH der Verfassungsänderung, die der Nationale Volkskongress im März dieses Jahres beschlossen hat, gilt der Privatsektor nicht mehr nur als „Ergänzung“ des Staatssektors, sondern als „wichtiger Bestandteil“ der Volkswirtschaft. In jedem Fall ist Barry Naughton zuzustimmen, einem Experten auf dem Gebiet der chinesischen Wirtschaft, der 1998 schrieb, dass „die Privatisierung in China überall voranschreitet, obgleich der Begriff noch immer vermieden wird“.14 Der Staat hat diesen Prozess nicht mehr wirklich unter Kontrolle, sondern ist seinerseits um Anpassung bemüht.

Welche Rolle soll der Staat also künftig spielen? Als vordringliche Aufgabe erscheint – wie auch einige Mitglieder der politischen Führung einräumen, darunter der Premierminister – der Aufbau eines modernen Rechtsstaats mit kalkulierbaren Spielregeln, die für jeden gelten, für die Mächtigen ebenso wie für die Schwachen. Zwar hat man das Arsenal an Gesetzen und Verordnungen seit der Mao-Ära erheblich erweitert, doch an der praktischen Umsetzung hapert es noch immer. Die Bevölkerung hat nach wie vor das Gefühl, in einem Willkürstaat zu leben. Bisweilen mag es gelingen, sich mit juristischen Mitteln gegen den einen oder anderen Machtmissbrauch der Lokalbehörden und subalternen Chefs zu wehren, doch das vorherrschende Gefühl jener Mehrheit der Bevölkerung, die keine Beziehungen (zur kommunistischen Partei) hat, ist Ohnmacht. Ein Großteil der weitreichenden Veränderungen, die unter Deng Xiaoping in Angriff genommen wurden, erfolgten in einem rechtsfreien Raum, und zum Teil waren sie nur deshalb möglich. Die alte Parteielite musste sich im Zuge dieser Entwicklung umorientieren, und neue Eliten entstanden.

Jedenfalls erweist sich der Aufbau einer effizienten Rechtsordnung immer deutlicher als unumgänglich, teils zur Regulierung der Wirtschaft und zum Schutz der sozialen Rechte (insbesondere im Privatsektor, in dem frühkapitalistische Verhältnisse herrschen), teils zur Bekämpfung der allgemeinen Korruption, die die Funktionsgrundlagen der neuen Wirtschaft und Gesellschaft zu untergraben droht. Es geht um die Besteuerung der Einkommen und der Unternehmensgewinne, auch um die Verhinderung missbräuchlicher Besteuerung, wie sie auf dem flachen Land häufig vorkommt, und es geht nicht zuletzt um die rechtzeitige Auszahlung der Löhne und die soziale Absicherung von Millionen Arbeitslosen. Außerdem sollen die Verbraucher gegen die zahlreichen Betrügereien mit minderwertigen Produkten und gefälschten Etiketten geschützt werden. Und nicht zuletzt geht es darum, stimmige und verlässliche Regeln im Wirtschaftsleben einzuführen.

Nicht nur das Ausland fordert „Transparenz“. Die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen drängen unermüdlich auf die Einführung rechtsstaatlicher Regeln, fordern immer offener, mitunter auch gewalttätig, die Achtung der Rechte und Pflichten des Einzelnen und erheben Anspruch auf verständliche und akzeptable Rechtsnormen, die die Würde des Menschen, auch und gerade die Würde der Schwachen, respektieren. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, aber in der Gesellschaft mehren sich die Forderungen dieser Art. Der Aufbau eines modernen Rechtsstaats ist also erst noch zu leisten. Insofern gibt es nach Meinung vieler Bürger immer noch zu wenig Staat, jedenfalls zu wenig modernen Staat.15

Auf der anderen Seite beruht der „real existierende Sozialismus“ in China auf einer – heute eher dezentralisierten – autoritären Struktur, einer staatlichen Willkürherrschaft, die vielfach keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse und Ansprüche der Bevölkerung nimmt. Als Erbe des relativ zentralisierten Staats der Mao-Ära und des ansatzweise dezentralisierten (oder „lokalisierten“) Staats unter der 20jährigen Herrschaft von Deng Xiaoping ist der Staat in seiner heutigen Form noch immer zu stark in der Vergangenheit verwurzelt, zu „feudal“ oder – wie westliche Forscher sagen – zu patrimonial strukturiert und so grundsätzlich autoritär, dass er die Entwicklung staatsbürgerlicher Verhältnisse nicht zulassen kann. Das Kaiserreich kannte Bürger und Staatsbürgerschaft noch nicht. Die zaghaften Ansätze, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in dieser Richtung gab, wurden unter der Herrschaft Maos wieder zunichte gemacht, und die derzeitige Renaissance ist noch kaum der Rede wert.

Das Regime beschwört die Geschichte Chinas, die Notwendigkeit eines „starken Staats“ und eines mächtigen Führers, um seine autoritäre Struktur zu rechtfertigen. Das Volk wird nicht befragt, es soll den Himmel anflehen, auf dass der höchste Führer das Gemeinwohl berücksichtige und ein „guter Kaiser“ sei, wie man zu sagen pflegt. Angst vor den Massen, Verachtung gegenüber der (nicht mehr ausschließlich bäuerlichen) Landbevölkerung, Festhalten an einer zunehmend illegitimen Regierungsform: Den zahlreichen neuen Herren, den bekehrten Kommunisten ebenso wie den Selfmade-Kapitalisten, geht es einzig und allein um ein Höchstmaß an Privilegien und materiellen Vorteilen, kaum jedoch ums Gemeinwohl.

Was die „aufgeklärten“ politischen und intellektuellen Eliten angeht, so streben sie den Aufbau eines modernen, kompetenten, vielleicht auch autoritären Staats an, der in der Lage ist, die soziale Krise zu managen, die enormen ökologischen Probleme im Gefolge der beschleunigten Urbanisierung in den Griff zu bekommen und das ungeheure Potenzial des Landes zu nutzen. Von einer wirklichen Demokratisierung wollen sie zwar nichts wissen, aber sie suchen soziale Ansprechpartner und Vermittlungsinstanzen in der Bevölkerung, um ihr Ziel, eine Art kontrollierten Pluralismus, der eher die gebildeten städtischen Schichten begünstigt, zu verwirklichen. Der Gewerkschafter Han Dongfang meint denn auch, „die Arbeiter haben es nicht mehr nötig, dass die Intellektuellen sie mobilisieren“16 , sie müssen für ihr eigenständiges Handeln kämpfen.

Die Kulturrevolution ist Geschichte

IN diesem Kontext wurde im November 1987 versuchsweise ein Verfahren zur Wahl der Dorfvorsteher eingeführt, ein schwieriges Experiment, das auch nach 12 Jahren keineswegs abgeschlossen ist.17 In vielen Dörfern haben noch immer keine Wahlen stattgefunden, und dort, wo sie stattfanden, trugen sie, wie selbst die Behörden einräumen, weitgehend fiktiven Charakter.

Gleichwohl gibt es in gewissen Führungskreisen deutliche Bestrebungen, einer reformierten kommunistischen Partei eine neue soziale Basis zu verschaffen, um ihren Fortbestand zu sichern. Oberstes Ziel ist dabei, die Wirtschaftsreformen zu vollenden und die neuen Eliten in eine eigenständige herrschende Klasse umzubilden, die in der Gesellschaft fest verankert ist. Die traditionelle Loyalität der Landbevölkerung, die den regierenden Machthabern stets nur in extremen Krisensituationen die Gefolgschaft aufkündigte, lässt dieses Unterfangen weniger riskant erscheinen als ähnliche Versuche in den Städten, in denen bis auf weiteres keine Wahlen vorgesehen sind.

Die derzeitige Situation erinnert in mancher Hinsicht an die Anfänge der Nach-Mao-Ära. Als 1979 die dreißigjährige Herrschaft Maos zu Ende ging, hatte sich die materielle Lage der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gegenüber der „alten“ Ordnung vor 1949 zwar mehr oder weniger gebessert, doch für die Bevölkerung war dies längst kein Legitimitätskriterium mehr. Vor allem in den Augen der Jüngeren ließen sich die Untaten des Regimes und die schrecklichen Irrwege der Mao-Ära mit dieser Errungenschaft keineswegs rechtfertigen. Desgleichen herrscht in der Bevölkerung heute die Auffassung, dass die fraglosen Erfolge der zwanzigjährigen Wachstumsperiode seit 1979 die neuen Herren nicht im geringsten legitimieren.

Wachstum ist für die große Mehrheit der Jugend eine Selbstverständlichkeit, für sie sind die Hungersnöte zu Beginn der 1960er Jahre und die Kulturrevolution (1966 bis 1969), von den Notzeiten vor 1949 ganz zu schweigen, längst Geschichte. Mit anderen Worten: Die Gesellschaft macht, vor allem in den Städten, schnellere Fortschritte als die Staatsmacht, doch leider verläuft die Entwicklung recht ungleichmäßig.

Das eigentliche Problem für den modernisierungswilligen Flügel der KPCh besteht darin, die Funktionsweise des Systems in rechtliche Bahnen zu lenken und eine neue Gesellschaftsmoral zu finden, ohne dabei die Macht der Partei zu gefährden. Dieser grundlegende Widerspruch nötigt zu fortwährendem Lavieren unter Berücksichtigung der inner- und außerparteilichen Kräfteverhältnisse und verhindert die Ausarbeitung einer klaren politischen Programmatik, die unter den Eliten konsensfähig wäre und alle gesellschaftlichen Kräfte auf einen gemeinsamen Weg bringen könnte.

dt. Bodo Schulze

* Autor von „L'Intellectuel, l'Etat et la révolution. Essais sur le communisme chinois et le socialisme réel“, Paris (L'Harmattan) 1997.

Fußnoten: 1Far Eastern Economic Review (Hongkong), 13. Mai 1999. 2 Vgl. das Interview mit Li in Newsweek (New York), 9. August 1999. 3New York Times, 28. August 1999. 4Far Eastern Economic Review, 5. August 1999. Nach chinesischen Angaben sollen 700 000 KPCh-Mitglieder (rund 1 Prozent) Anhänger des Fa-Lun-Gong-Kults sein. 5 Zit. n. New York Times, 6. Juli 1999. 6 Roland Lew, „Kapitalismus im Sinn“, Le Monde diplomatique, November 1997. 7 Jean-Louis Rocca, „Die Abwicklung des Sozialismus ohne soziales Netz“, Le Monde diplomatique, Februar 1999. 8 1 Yuan = 0,23 DM 9Far Eastern Economic Review, 17. Juni 1999. 10 Fontagnes, „Profils statistiques des 30 provinces en 1995“, Le courrier des pays de l‘Est, April 1997, S. 45 – 62. 11 Interview mit Han Dongfang in Force ouvrière (Paris), 23. Juni 1999. Vgl. Courrier International, 2. April 1999. Zu den vermehrten Arbeiterprotesten und zu den Aktivitäten von Han Dongfang vgl. Trini Leung, „S‘organiser pour défendre ses droits“, Perspectives chinoises (Hongkong), Juli/August 1998, S. 6 – 21. Vgl. auch das ai-Interview mit Han Dongfang unter www.amnesty.de/de/j gew2.htm#Han. 12China Daily (Peking), 9. – 22. April 1999; International Herald Tribune, 12. April 1999. 13Far Eastern Economic Review, 20. Mai 1999. 14 Zit. n. Far Eastern Economic Review, 19. Februar 1999. 15 Diese Ansicht vertreten in der französischen Sinologie seit Jahren Marie-Claire Bergère sowie Lucien Bianco. 16Force ouvrière, 23. Juni 1999. 17China daily, 4. April 1999.

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von ROLAND LEW