15.10.1999

Rivalität zwischen Washington und Peking

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Rivalität zwischen Washington und Peking

Von PHILIP S. GOLUB *

WÄHREND die aufstrebende Großmacht China den ostasiatischen Raum als ihren „Einflussbereich“ beansprucht, möchten die Vereinigten Staaten den seit Ende des Kalten Krieges bestehenden Status quo aufrechterhalten. Durch den Kosovo-Konflikt sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern erneut belastet worden. Doch im Grunde geht es um die Hegemonie im pazifischen Raum.

Zwei Jahre nach der „historischen“ USA-Visite des chinesischen Staatspräsidenten Jiang Zemin am 28. Oktober 1997 und gut ein Jahr nach dem Staatsbesuch von Präsident Bill Clinton in Peking haben sich die chinesisch-amerikanischen Beziehungen merklich verschlechtert. Von der „strategischen Partnerschaft“, die Clinton im Juni 1998 verkündete, ist heute keine Rede mehr. Dasselbe gilt für Jiang Zemins pragmatischeren Vorschlag, „den Meinungsaustausch zu fördern, die Kontakte auszubauen, Konsens anzustreben und die [bilaterale] Zusammenarbeit zu stärken“.

Heute gilt eher das Gegenteil: Seit dem Kosovo-Krieg herrscht zwischen Washington und Peking ein Klima des Misstrauens, das von den Nationalisten in beiden Lagern weiter angeheizt wird. Ein offener Bruch scheint aufgrund der gegenseitigen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen zwar ausgeschlossen, doch die Abkühlung der Beziehungen zeigt, dass das ambivalente chinesisch-amerikanische Verhältnis – ein Gemisch aus diplomatischer Realpolitik, Handelsinteressen und strategischer Rivalität – noch immer eine zerbrechliche Sache ist, die mehr denn je von den unwägbaren innenpolitischen Entwicklung in beiden Ländern abhängt.

Die derzeitigen Spannungen erinnern an die Lage im März 1996, nur dass die Verstimmung heute noch größer ist. Damals hatte die chinesische Volksbefreiungsarmee vor der Küste Taiwans einige Raketen abgefeuert, woraufhin die USA militärische Stärke demonstrierten und zwei Flugzeugträger entsandten. Das kontrollierte Szenario erlaubte Peking, seinen Hoheitsanspruch auf Taiwan zu bekräftigen (den es notfalls durch Gewaltanwendung durchzusetzen gedenkt), während die USA die Chance nutzten, ihre Präsenz in Ostasien als feststehende Tatsache in Erinnerung zu rufen.

Dieses erste Kräftemessen nach dem Kalten Krieg endete mit einer raschen Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, denen sogar engere Kontakte zwischen den Streitkräften beider Länder folgten. Seit der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad am 7. Mai dieses Jahres – die anschließenden heftigen Demonstrationen in Peking wurden von der Regierung zwar kanalisiert, aber nicht völlig kontrolliert – haben sich die Gegensätze jedoch zugespitzt. Der Austausch militärischer Delegationen wurde ausgesetzt, die bilateralen Beziehungen kamen praktisch zum Erliegen.

Um den Zug wieder auf die Schienen der Realpolitik zu bringen, die Henry Kissinger und Mao Zedong 1971 gelegt haben, hatten Jiang Zemin und Präsident Clinton Anfang September in Neuseeland, am Rande des Gipfeltreffens der Länder des Asien-Pazifik-Forums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (APEC), eine längere Unterredung, in der sie für November eine weitere Zusammenkunft vereinbarten.

Der Kosovo-Krieg hat deutlich gemacht, wie brüchig in China der innenpolitische Konsens bezüglich einer „Öffnung gegenüber Amerika“ ist. Er hat weiter gezeigt, dass die amerikanische Politik der „konstruktiven Zusammenarbeit“ ihre Grenzen hat. So groß die Hoffnungen waren, die sich an die Gipfeltreffen von 1997 und 1998 knüpften, so krass ist nun die Desillusionierung auf chinesischer Seite. Vor allem nach Clintons Peking-Besuch glaubte die chinesische Staatsführung in einer zeitweiligen Euphorie, endlich stehe das Thema Tiananmen-Platz einer dauerhaften Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen nicht mehr im Wege. Heute weiß sie es besser.

Staatspräsident Jiang Zemin, der bisher entschieden auf eine Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten gesetzt hatte, muss nun innenpolitisch auf eine „antiamerikanische Koalition“ Rücksicht nehmen, über die der Sinologe David Shambaugh berichtet, dass sie „während des größten Teils der neunziger Jahre erheblichen Einfluss ausübte [...] und sich derzeit neu formiert“1 . Ministerpräsident Zhu Rongji, der bereits aus innenpolitischen Gründen unter Beschuss steht (siehe den Beitrag von Roland Lew, Seiten 12 und 13), wird nun auch wegen seiner Reise nach Washington im April 1999 angegriffen, als noch der Krieg in Ex-Jugoslawien tobte. Außerdem hält man ihm vor, bei den Verhandlungen über Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) einseitige Zugeständnisse gemacht zu haben.2

Vor diesem Hintergrund ist auch die „strategische Partnerschaft“ zwischen Russland und China zu sehen, die Jiang und Jelzin bei ihrer Zusammenkunft in Kirgisistan Ende August angekündigt haben. Obwohl beide Länder nur über begrenzten politischen Spielraum verfügen, war das Treffen kein bloßes Beschwörungsritual, wie der jüngste Verkauf russischer High-Tech-Waffen an China zeigt.3 Das Oberkommando der Volksbefreiungsarmee fordert, trotz des verlangsamten chinesischen Wirtschaftswachstums das seit 1985 betriebene Modernisierungsprogramm zu intensivieren.4

Das amerikanische Verhältnis zu China bleibt weiterhin ambivalent. Bis zur Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad konnte sich Präsident Clinton mit seiner China-Politik durchsetzen. Nun scheint sich der Wind jedoch zu drehen, wie aus gut unterrichteten Kreisen verlautet: „Angesichts der chinesischen Spionagetätigkeit in den Vereinigten Staaten und der Bilder von brennenden amerikanischen Flaggen auf dem Tiananmen-Platz entstand das Gefühl – auch in Regierungskreisen –, dass es an der Zeit sei, die Politik zu revidieren.“ Doch sieht man einmal von den gelegentlichen, an Woodrow Wilson erinnernden, idealistischen Anwandlungen in der amerikanischen China-Politik ab, so lassen sich die Vereinigten Staaten im Allgemeinen durch geopolitische Überlegungen leiten. Es geht darum, „die Kräfteverhältnisse [in Ostasien] zu unseren Gunsten zu gestalten und China zu ermutigen, die eigenen Interessen in einer Weise zu verfolgen, die mit denen ihrer Nachbarn und den Interessen der Vereinigten Staaten vereinbar ist“.5

So haben die Vereinigten Staaten seit 1997 ihre verteidigungspolitischen Beziehungen zu Japan, den Philippinen und Singapur ausgebaut und 1999 ihre Absicht bekundet, in Japan, Südkorea und möglicherweise auch in Taiwan Raketenabwehrsysteme der neuesten Generation (Theater Ballistic Missile Defense, TBMD) zu stationieren.6

Offiziell dienen diese Systeme dem Schutz der genannten Länder (und der amerikanischen Streitkräfte) gegen nordkoreanische Raketenangriffe, doch es liegt auf der Hand, dass damit auch der Manövrierraum schrumpft, den China bisher dank seines Atomwaffenarsenals und seiner Mittelstreckenraketen besaß. Tatsächlich ist festzustellen, dass sich Peking angesichts des erheblichen technologischen Rückstands der Volksbefreiungsarmee und insbesondere der Seestreitkräfte genötigt sieht, seine regionalen Ambitionen, vor allem in Bezug auf Taiwan, vorläufig erst einmal zurückzuschrauben.

Die angekündigte Stationierung US-amerikanischer Raketenabwehrwaffen hat Peking in der Befürchtung bestärkt, Taiwan könnte sich seinem Zugriff dauerhaft entziehen, zumal der taiwanesische Staatspräsident Lee Teng-hui mit Blick auf den künftigen Status der Insel seit Juli dieses Jahres einen schärferen Ton anschlägt und „normale zwischenstaatliche Beziehungen“ zu China fordert. Unterstützung findet er dabei in den Vereinigten Staaten auf dem rechten Flügel der Republikanischen Partei, der nach den Worten von Norman Birnbaum „entschlossen ist, einen neuen Kalten Krieg zu beginnen“.7 Man kann von Glück sagen, dass diese Fraktion in der Minderheit ist.

Sieht man von den zahlreichen Streitigkeiten zwischen China und den Vereinigten Staaten ab, die gerade mehr oder minder akut sind (über die WTO, das US-Handelsdefizit, die Menschenrechtslage in China, die chinesischen Waffenexporte und die amerikanischen Rüstungslieferungen an Taiwan usw.), geht es letzten Endes – ohne dass einer der beiden Kontrahenten es offen aussprechen würde – um die geopolitische Vorherrschaft in Ostasien. Während China die Region als seinen „natürliche“ Einflussbereich betrachtet und die Grenzen seiner Hoheitsgewässer im Südchinesischen Meer durch eine einseitige Erklärung ausgedehnt hat8 , wollen die Vereinigten Staaten den Status quo möglichst weitgehend beibehalten und damit ihre strategische Vormachtstellung sichern. Dieser grundlegende Interessengegensatz – logische Konsequenz einer auf die zwischenstaatlichen Kräfteverhältnisse reduzierten Sicht der Geschichte – existiert seit Ende des Kalten Kriegs und wird von beiden Seiten klar erkannt

Geschickter Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche

UNTER Mao war China de facto lange Zeit ein Verbündeter der Vereinigten Staaten. Nach Ansicht des Vizepräsidenten der Akademie der Gesellschaftswissenschaften in Peking, Liu Ji, „hat diese 1972 begründete strategische De-facto-Allianz [...] einen wichtigen Beitrag zur Beendigung des Kalten Kriegs geleistet“. Im Klartext: sie hat den Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigt.

In der Tat hatten beide Länder „echte gemeinsame Anliegen“, um es in der euphemistischen Sprache von Henry Kissinger auszudrücken.9 Doch ihre Beziehung war rein instrumenteller Natur, denn jeder benutzte den anderen, den „fernen Barbaren“, um die Bedrohung durch einen Dritten, den „nahen Barbaren“, einzudämmen. Heute stellt sich die Lage jedoch ganz anders dar. China und die Vereinigten Staaten stehen sich als unmmittelbare Kontrahenten gegenüber: Einen „barbarischen“ Dritten, der ihre Interessen zusammenschweißen könnte, gibt es nicht mehr.

Wenn in Washington über die Aufrechterhaltung der amerikanischen Vorherrschaft und den Umgang mit der gewachsenen internationalen Bedeutung Chinas nachgedacht wird, greift man neuerdings auf Gibbon und Thukydides zurück.10 Forscher und Politiker vergleichen die jüngste Entwicklung Chinas immer wieder mit der Situation der Vereinigten Staaten zu Beginn dieses Jahrhunderts: „So wie der Aufstieg Deutschlands, Amerikas, Japans und Russlands zu Weltmächten heiße und kalte Kriege ausgelöst und eine Umstrukturierung der Weltwirtschaft bewirkt hat, so verändert derzeit auch der Aufstieg Chinas die [weltweiten] Kräfteverhältnisse. China wird sich im 21. Jahrhundert ohne Zweifel zur zweitgrößten asiatischen Supermacht und vielleicht sogar zur führenden Weltmacht entwickeln.“11 Chalmers Johnson, den wir hier zitieren, sehnt weder die Zeiten des Kalten Kriegs zurück, noch vertritt er die These von der chinesischen „Bedrohung“. Gleiches gilt für Joseph Nye, Professor an der Harvard School of Government, ehemaliger Berater von Präsident Clinton und Befürworter der „konstruktiven Zusammenarbeit“: „Der Aufstieg einer neuen Macht löst stets Unsicherheit und Unbehagen aus [...]; die Entwicklung der wirtschaftlichen und militärischen Macht Chinas wird für die amerikanische Außenpolitik zu Beginn des nächsten Jahrhunderts zu einem entscheidenden Problem.“12

Joseph Nye möchte – wie die Clinton-Administration – gern glauben, dass sich China durch eine ausgewogene Mischung von Zwängen und Anreizen (jenem doux commerce) zu einer Anpassung an westliche Normen bewegen lässt. Pentagon-nahe Kreise meinen hingegen, Amerika müsse bereit sein, China „einzudämmen“, da „Peking schon bald in der Lage sein wird, die Sicherheit Ostasiens zu destabilisieren und die allgemeinen Interessen der demokratischen Industrieländer zu bedrohen“.13

„Das fundamentale strategische Interesse der USA im 21. Jahrhundert ist die Aufrechterhaltung ihrer Position als mächtigstes Land der Welt; das fundamentale strategische Interesse Chinas ist die erfolgreiche Modernisierung des Landes“, erklärt Liu Ji.14

Deshalb setzten Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Zhu Rongji auf eine friedliche, einvernehmliche Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, um die beschlossenen Modernisierungsvorhaben zu vollenden, das Land letzten Endes wiederzuvereinigen und wieder eine bedeutende Rolle in den internationalen Beziehungen zu spielen. Diesem Ziel ist auch die von Deng 1985 ausgearbeitete und seither verfolgte Militärstrategie verpflichtet: Modernisierung des Arsenals, massiver Truppenabbau, Entwicklung einer Doktrin der begrenzten Kriegführung an der (maritimen) Peripherie des Landes. Doch nun haben der Kosovo-Krieg und die verteidigungspolitische Strategie der USA in der Region die Befürchtung neu erweckt, die in chinesischen Regierungskreisen nie ganz erloschen war: dass die hundertjährigen Bemühungen des Landes um „Reichtum und Macht“ zunichte gemacht werden könnten.

Die eigentliche Gefahr droht jedoch weniger von außen als von innen. Angesichts der ernsten wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes haben die Erben von Deng Xiaoping vorerst keine andere Wahl, als die bisherige Orientierung ihrer Außenpolitik so weit wie möglich beizubehalten. Der Tag, an dem die US-amerikanischen Prophezeiungen hinsichtlich der künftigen weltpolitischen Rolle Chinas in Erfüllung gehen, liegt noch in weiter Ferne.

dt. Bodo Schulze

* Institut d'Etudes européennes, Universität Paris-VIII.

Fußnoten: 1 Dazu David Shambaugh, „A Diplomatic Disaster in the Making“, International Herald Tribune (Paris), 6. April 1999. Zu den Beziehungen vor 1997 vgl. David Shambaugh, „The 1997 Sino-American Summit“, Asia Society (New York), Oktober 1997. 2 Um den Beitritt Chinas zur WTO zu beschleunigen, hat Zhu Rongji erstmals substanzielle Zollsenkungen und die Öffnung des Telekommunikations- und Bankensektors akzeptiert. 3 Russland wird an China 60 Kampfflugzeuge vom Typ Suchoi-30 sowie zwei Atom-U-Boote vom Typ Typhoon liefern. Auf der Wunschliste der Volksbefreiungsarmee stehen auch Kampfflugzeuge vom Typ Suchoi-35. 4 Dazu Willy Wo-Lap Lam, „Zhu Fights Generals on Military Budget“, South China Morning Post (Hongkong), 1. September 1999. Am 26. August dieses Jahres beschloss China den Bau von zwei Flugzeugträgern. Zu den Vorstellungen der chinesischen „Falken“ von einem „grenzenlosen“ Krieg vgl. „China Looks Beyond Old Rules“, International Herald Tribune (Paris), 9. August 1999. 5 United States Strategy for the East Asia-Pacific Region, Departement of Defense (DOD), Washington D.C. 1995. 6 Dazu den „Report to Congress on Theater Missile Defense Architecture: Options for the Asia-Pacific Region“, Departement of Defense (DOD), Washington D.C. 1999. 7 Norman Birnbaum in einem Artikel, den Le Monde am 17. Juni 1999 auf der Seite „Débats“ veröffentlichte. 8 1992 erhob China Hoheitsansprüche auf einen erheblichen Teil des Südchinesischen Meers. Dazu Virginie Raisson, „Objekt der Begierde im Südchinesischen Meer“, Le Monde diplomatique, März 1996. 9 Rede von Liu Ji am John Fairbanks Center der Harvard University, 27. Mai 1997. Henry Kissinger, „Talking with Mao: an Exchange“, New York Review of Books 46 (5), 18. März 1999, S. 56. 10 Edward Gibbons „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“ (Nördlingen 1987) erschien erstmals 1776, als London mit guten Gründen (amerikanischer Unabhängigkeitskrieg) ein Auseinanderfallen seines entstehenden Empires befürchtete. Die „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ von Thukydides (München 1993) beschreibt Ursachen und Verlauf des Kriegs zwischen Athen und Sparta. Paul Kennedys Buch über den „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ (Frankfurt/M 1996) aus den achtziger Jahren, in dem der Verfasser implizit den künftigen Niedergang der Vereinigten Staaten vorhersagte, ist heute nicht mehr in Mode. 11 Chalmers Johnson, „Nationalism And the Market: China as a Superpower“, Japan Policy Research Institute, occasional paper, JPRI, Kalifornien, 1997. 12 Joseph S. Nye Jr., „As China Rises, Must Others Bow?“, The Economist (London), 27. Juni 1998, S. 21 – 24. 13 James Gregor, „Qualified engagement: U.S. China Policy and Security Concerns“. Der Verfasser stellte den Text 1998 ins Internet. Er lehrt als Professor an der University of Berkeley sowie am Command and Staff College, Marine Corps University, Quantico,Virginia.

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von PHILIP S. GOLUB