15.10.1999

Verkannte Möglichkeiten des Völkerrechts

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Verkannte Möglichkeiten des Völkerrechts

DIE verspätete Reaktion des UN-Sicherheitsrates auf die schrecklichen Ereignisse, die Osttimor seit 25 Jahren erschüttern und die in den letzten Wochen wieder aufgeflammt sind, hat erneut zum negativen Image der Weltorganisation beigetragen. Dass man so lange auf die Zustimmung Indonesiens zur Entsendung einer multinationalen Truppe wartete, während das timoresische Volk ums Überleben kämpft, könnte den Eindruck erwecken, das internationale Recht sei zu wenig anpassungsfähig. Dem muss entschieden widersprochen werden: Das internationale Recht verfügt über nützliche Instrumente, selbst wenn diese uneinheitlich, wenig bekannt und erst ansatzweise vorhanden sind. Doch die tugendhaften Nationen (sprich: die Westmächte), die diese Instrumente ursprünglich geschaffen haben, ließen sie in Vergessenheit geraten, wenn es um ihre eindeutigen strategischen und wirtschaftlichen Interessen ging.

Es fehlt also nicht an internationalen Rechtsbestimmungen, um angesichts einer Tragödie wie der timoresischen zu verhüten, einzugreifen oder zu strafen. Was fehlt, ist der politische Wille. Die Konvention vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes verpflichtet die Staaten, ein solches Verbrechen „zu verhüten“ und gegebenenfalls die „zuständigen Organe“ der Vereinten Nationen anzurufen. Im Fall von Osttimor, wo seit 1975 200 000 Menschen und damit ein Drittel der Bevölkerung umgekommen sind, aber auch im Fall Kosovos und Ruandas, war bekannt, dass ein Massaker vorbereitet wurde – Grund genug zu handeln.

Das Argument, im Namen der Wahrung der staatlichen Souveränität habe man ohne Einwilligung Indonesiens nicht eingreifen können, ist dagegen unannehmbar. Im Fall Osttimors gibt es keine indonesische Souveränität zu respektieren, die hat Djakarta nur usurpiert. Eine rechtzeitige Strafintervention in Osttimor, das rechtlich nicht zu Indonesien gehört, hätte die indonesische Souveränität in keiner Weise verletzt.

Abgesehen davon sind auf dieses Volk, das seit 25 Jahren Widerstand gegen einen ausländischen Eingriff leistet, die Bestimmungen von Resolution 2625 (1970) der UN-Vollversammlung anwendbar, in denen es heißt: „Bei ihren Maßnahmen und ihrem Widerstand gegen solche Gewaltmaßnahmen [seitens anderer Staaten] im Bemühen um die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts sind die Völker berechtigt, im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der Charta Unterstützung zu erbitten und zu erhalten.“1

Das Zögern des Sicherheitsrates und der Staaten, die sich während der entscheidenden Tage um die Zustimmung Indonesiens bemühten, ist folglich zu verurteilen, denn ein rechtliches Hindernis lag nicht vor.

Man kann sogar weiter gehen und feststellen, dass zum Handeln entschlossene Staaten im Falle eines Vetos des Sicherheitsrates unter Berufung auf Artikel 12 der UN-Charta die Vollversammlung hätten anrufen können, die ermächtigt gewesen wäre, den Sicherheitsrat zu übergehen. Es wäre also durchaus möglich gewesen, initiativ zu werden und den Ereignissen zuvorzukommen, aber auch Sanktionen zu ergreifen (was nach wie vor aussteht). Die indonesischen Milizen und die Armee haben in Osttimor zahllose Kriegsverbrechen begangen. Artikel 146 der Vierten Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten sieht vor, die Verantwortlichen den Gerichten aller Mitgliedstaaten zu überantworten, bis ein eigenes internationales Gericht eingerichtet wird, das eine zwingende Notwendigkeit ist. In Kambodscha, in Liberia, in Sierra Leone, in Somalia, in Bosnien, in Ruanda, im Irak, im Kosovo und nun in Osttimor haben sich nacheinander vor unseren Augen Tragödien abgespielt, ohne dass wir sie verhindern konnten. Wenn wir nicht nur zuschauen und darüber spekulieren wollen, wer den nächsten Völkermord begehen wird, müssen wir ab sofort die strikte Anwendung des Rechts einfordern.

MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU

Fußnote: 1 siehe H. v. Mangold und V. Rittberger, „Das System der Vereinten Nationen und seine Vorläufer“, Bd. I, Die Vereinten Nationen, München (Beck'sche Verlagsbuchhandlung) 1995.

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU