15.10.1999

Die nächste Bruchlandung kommt bestimmt

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Die nächste Bruchlandung kommt bestimmt

Von IBRAHIM WARDE *

KAUM beachtet gingen vor kurzem zwei Informationen durch die westlichen Medien, die das „amerikanische Wunder“ ins rechte Licht rücken. Zum einen hat sich, entgegen der weltweiten Tendenz, zwischen 1980 und 1997 die durchschnittliche Arbeitszeit in den USA um vier Prozent erhöht. Zum anderen ist die Einkommensdiskrepanz zwischen einem Fabrikarbeiter und seinem Chef vom 42-fachen im Jahr 1980 auf das 419-fache angestiegen. 70 Jahre nach 1929 schlägt die Wall Street sämtliche Rekorde.

Als sich Alan Greenspan am 5. Dezember 1996 besorgt über den „irrationalen Überschwang der Märkte“ äußerte, verursachte diese ungewohnt deutliche Stellungnahme des sonst eher in Rätseln sprechenden Präsidenten der US-Notenbank eine kurze Panik. Heute liegt der Dow-Jones-Index der Industrieaktien um 70 Prozent über dem damaligen Niveau.

Greenspan machte sich nicht grundlos Sorgen. Der Dow-Jones-Index war 1896 geschaffen worden: Man brauchte einen zuverlässigen Indikator für den allgemeinen Stand der Börsenkurse und zog dafür 12 repräsentative Titel der US-Wirtschaft heran (heute sind es 30). Der Anfangsstand des Dow Jones lag bei 41 Punkten, erst zehn Jahre später überschritt er die 100-Punkt-Marke. Am 3. September 1929 erreichte er mit 381 Zählern einen vorläufigen Höchststand, danach ging er langsam zurück, bis er am 28. Oktober an einem einzigen Börsentag dramatische 38 Punkte verlor, ein Rückgang von 13 Prozent, der den Beginn der Großen Depression signalisierte. Am 8. Juli 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, lag er nur mehr bei 41 Punkten – dem Ausgangsniveau von 1896.

Erst nach Ende des 2. Weltkriegs gewann der Markt wieder an Dynamik. Die 500-Punkt-Markte wurde im März 1956 erreicht, die 1 000-Punkt-Grenze im November 1972 überschritten. 1973 kam es erneut zu drastischen Einbrüchen, ein Jahr später war der Dow Jones auf 578 Punkte gefallen, und 1982 hatte er sich erst auf 777 Punkte erholt. Die folgende Hausse wurde durch den Krach vom 19. Oktober 1987 unterbrochen, als der Index um 22,6 Prozent von 2 247 auf 1 739 Zähler fiel.

Nach Ansicht von Börsenfachleuten, die kurzzeitig ein Szenario à la 1929 befürchteten, handelte es sich bei dem Kurseinbruch von 1987 um eine notwendige „Korrektur“ als Reaktion auf die vorangegangene Überhitzung. Doch schon wenig später nahm der Dow Jones seinen Höhenflug wieder auf. Im April 1991 überschritt er die 3 000-Punkt-Marke, im Februar 1995 erreichte er 4 000 Zähler, und im November 1995 lag er bereits bei 5 000 Punkten.

Obwohl der Markt schon damals überbewertet schien, missachtete der Dow Jones auch in den Folgejahren die Gesetze der Schwerkraft und erreichte im Oktober 1996 6 000 Punkte, im Februar 1997 7 000 Punkte, im Juli 1997 8 000 Punkte, im März 1998 9 000 Punkte, im März 1999 10 000 Punkte und im Mai dieses Jahres 11 000 Punkte.

Seit dem Oktober 1990 erlebt Amerika ohne Zweifel die längste ununterbrochene Wachstumsphase seiner Geschichte. Zahlreiche Faktoren haben die Märkte in ihrer Euphorie bestärkt: Der massive Personalabbau (downsizing) in Verbindung mit einer Welle von Fusionen und Übernahmen sowie die explosionsartige Entwicklung neuer Technologien (Internet, Biotechnologie usw.) verschafften den amerikanischen Unternehmen Rekordgewinne. Rückhalt und zusätzliche Anreize bot die staatliche Wirtschaftspolitik (Deregulierung, Abbau des Budgetdefizits, Förderung des Freihandels, Öffnung von Auslandsmärkten usw.)1 Während der Finanzkrisen in Asien und Russland kamen die amerikanischen Titel denn auch ungeschoren davon und dienten der krisengeschüttelten Weltwirtschaft sogar als Fluchtwerte. Auch durch demographische Faktoren wurde der Zufluss von Kapital begünstigt: Die baby-boomers fürchten den Bankrott der Rentenversicherung und investieren, was das Zeug hält. Hinzu kommt die „Demokratisierung der Märkte“: Die neuen Finanzprodukte, die einst den Spezialisten vorbehalten waren, sind nun auch Otto Normalsparer zugänglich; via Internet kann er ohne Zwischenhändler 24 Stunden am Tag sein Spekulationsbedürfnis befriedigen.2

Vom Glauben an die neue Wirtschaftsära

DOCH sind dies alles hinreichende Gründe für einen solch schwindelerregenden Kursanstieg? Lässt sich dieser Überschwang wirklich rational begründen? Historiker und Ökonomen verweisen auf die großen spekulativen Episoden der Wirtschaftsgeschichte, insbesondere auf den Krach von 1929, dessen 70. Jahrestag wir dieser Tage begehen.3 Alte Diskussionen über den Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch der Börsenkurse und der Wirtschaftsdepression leben wie7der auf. War der Krach ein Vorzeichen der Depression, ihre Ursache, oder handelte es sich um ein Ereignis, das in keinerlei Zusammenhang mit der folgenden Krise stand, um eine zeitweilige Panik, die sich nur aufgrund falscher wirtschaftspolitischer Entscheidungen zur Depression auswuchs?4 Milton Friedman führt die Depression in seiner bekannten Analyse auf die restriktive Geldpolitik der US-Notenbank zurück.5 Andere Autoren, darunter John Kenneth Galbraith, betrachten die Börsenspekulation als eine wesentliche Ursache des Zusammenbruchs der Realwirtschaft.6

In einer Studie über die großen Episoden finanzspekulativer Euphorie stellt Galbraith fest, dass der Glaube an eine neue Ära jedesmal mit einer Abkehr von bisher gültigen Prinzipien einhergeht.7 So war auch in den zwanziger Jahren vom Beginn einer neuen Ära die Rede, als deren herausragende Kennzeichen die wiederhergestellte Stabilität in Politik und Wirtschaft und der Aufstieg der damals neuen Technologien (Radio, Kino, Automobil, Luftfahrt usw.) galt. Irving Fisher, Ökonomieprofessor an der Yale University, kam am Vorabend des Krachs von 1929 zu dem berühmt gewordenen Schluss: „Der Aktienmarkt hat offenbar einen dauerhaften Höchststand erreicht.“

Auch die heutigen Verfechter der „neuen Ökonomie“ (oder des „neuen Paradigmas“) schreien sich die Kehle wund, um alle Welt davon zu überzeugen, dass die alten Zeiten vorbei seien und die herkömmlichen Wirtschaftszyklen ebenso wie die erprobten Börsenregeln ihre Gültigkeit verloren hätten.8 So verkündet etwa Wayne Angell, ehemaliger Gouverneur der Federal Reserve und einer der meistzitierten Ökonomen der Wall Street: „Es gibt keine spekulativen Blasen. Es ist schlicht und ergreifend so, dass eine neue Wirtschaftsära begonnen hat, in der die Informationstechnologien und eine gesunde Geldpolitik ein langfristiges, nichtinflationistisches Wirtschaftswachstum garantieren.“ Diese neue Ära, die mit der monetaristischen Wende im Oktober 1979 begann, „ist erst 1994 wirklich Realität geworden“, als die „Unternehmen gelernt hatten, wie man durch Kostenreduzierung Wert schöpft“. Und da der Markt per definitionem eine rationale, sich selbst regulierende Instanz sei, „sind für Spekulationsblasen nicht die Investoren, sondern die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Regierung verantwortlich“.9

Andere Analysten vertreten die Ansicht, die derzeitigen Produktivitätszuwächse würden durch die herkömmlichen Statistiken nicht hinreichend widergespiegelt, ja, die Revolution stecke noch in ihren allerersten Anfängen. Was das bedeuten soll, liegt auf der Hand: Der Markt gilt als deutlich unterbewertet. In einem kürzlich erschienenen Buch wird gar behauptet, der Dow Jones werde sich bei 36 000 Punkten stabilisieren.10

Die sakrosankte Regel, wonach sich der Preis einer Aktie nach der Gewinnlage des betreffenden Unternehmens richtet, soll also nicht mehr gelten, zumal bei Unternehmen, die mit dem Internet zu tun haben. Wie soll man auch das Verhältnis zwischen Aktienkurs und Unternehmensgewinn bewerten, wenn das Unternehmen nur unbedeutende Umsätze macht und von Gewinn keine Rede sein kann? Die Antwort führt lediglich auf die Frage zurück: Allein der Markt ist Richter über den Wert eines Börsentitels – eine schöne Tautologie. Der Leitstern der Internet-Ökonomie, die virtuelle Buchhandlung Amazon – die noch immer rote Zahlen schreibt –, soll demzufolge mehr wert sein als alle großen amerikanischen Buchhandelsketten zusammen. Und Priceline.com, ein Internet-Service für Billigflüge, wurde schon kurz nach seinem Börsengang mit 11,7 Mrd. Dollar bewertet, höher als jede Fluggesellschaft.

Kurzum, der Wert einer Aktie hängt offenbar nicht mehr von objektiven Fundamentaldaten ab, sondern von der subjektiven Begeisterung des Publikums. Da wird es schon fast verlockend, Verluste auszuweisen, mag der geneigte Investor daraus doch schließen, dass das Unternehmen investiert, um seine Marktnische gegen Eindringlinge zu schützen, dass es den Innovationsprozess vorantreibt, um seinen Mitbewerbern immer eine Nasenlänge voraus zu sein, kurz, dass es alles daran setzt, ein künftiger Amazon zu werden.

Für Gurus und Scharlatane ist dieser neuerliche Goldrausch natürlich genau das Richtige. Manipulationen jeglicher Art sind an der Tagesordnung. Schamlose Übertreibungen, große Versprechen und adjektivische Protzerei treiben das Spekulationsfieber in die Höhe. Infolge eines falschen Gerüchts, das über das Web verbreitet und von den Medien aufgegriffen wurde, legte eine bestimmteAktie um 31 Prozent zu: In der virtuellen Welt zählen Worte eben mehr als Realitäten. Ein Unternehmen braucht an seinen Handelsnamen nur das Suffix .com oder das Präfix „e-“ anzuhängen, und schon schießt der Kurs in die Höhe.11 Das so genannte Marken- und Domain-Grabbing – man lässt sich die Internet-Adresse eines vielgekauften Produkts, eines bekannten Unternehmens oder einer berühmten Persönlichkeit reservieren, um sie den eigentlichen Interessenten teuer zu verkaufen – macht Furore. Die Adresse „drugs.com“ erzielte einen Preis von 824 000 Dollar, weil der Käufer unter diesem Namen ein Web-Portal für pharmazeutische Produkte einrichten möchte.

Junge Internet-Firmen nutzen die horrende Notierung ihrer Aktien, um kapitalschwere Übernahmen zu finanzieren. Yahoo!, dessen Kurs in einem Jahr auf das 250-fache gestiegen ist, hat vor kurzem für 5,7 Mrd. Dollar Broadcast.com aufgekauft, ein Unternehmen, das einen Umsatz von nur 22 Mio. Dollar und Verluste von 16 Mio. Dollar ausweist. Dass es sich hierbei um eine „Transaktion auf dem Papier handelt, die sich auf einen virtuellen Wert in einer virtuellen Industrie bezieht“12 , versteht sich.

Gerüchteküche im Kartenhaus

FRAGT sich nur, ob das gigantische Kartenhaus nicht jeden Moment einstürzen kann. In regelmäßigen Abständen setzt der Präsident der US-Notenbank eine besorgte Miene auf, während der Internationale Währungsfonds in seinem Jahresbericht zur Wirtschaft der Vereinigten Staaten die Möglichkeit eines „abrupten und substantiellen Kurseinbruchs“ an der Börse nicht ausschließen möchte. Die vergleichbare Kursentwicklung des derzeitigen Börsenstars America Online und der Radio Corporation of America (RCA) in der Zwischenkriegszeit – zwischen 1921 und 1929 stieg der Wert der RCA-Aktie von 1 auf 573 Dollar – gibt durchaus zu denken. In beiden Fällen handelt es sich um führende Vertreter der neuen Technologien ihrer Zeit.13

Steuern wir auf ein erneutes Szenario à la 1929 zu? Optimistische Stimmen versichern, die zahlreichen Sicherheitsvorkehrungen seien verlässlich. Damals existierten hingegen noch kaum börsenrechtliche Vorschriften, denn die US-Börsenaufsichtsbehörde Securities and Exchange Commission (SEC) wurde erst 1934 gegründet. Beim Kauf einer Aktie reichte beispielsweise eine Anzahlung von 10 Prozent des Aktienwerts. Heute liegt diese Mindestanzahlung bei 50 Prozent, doch infolge der neuerlichen Deregulierung der Märkte können Spekulationsfonds wie der Long Term Capital Management-Fonds (LTCM) mit einer Eigenkapital/Schulden-Quote von sage und schreibe 1:100 kalkulieren.14 Und was die Verbreitung falscher Gerüchte angeht: Sie ist seit den 30er Jahren zwar gesetzlich verboten, aber das Internet sprengt auch hier alle Rekorde.

Grund zur Besorgnis besteht aber vor allem aufgrund des wachsenden Übergewichts der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft. Seit 1988 ist der Wert der Börsenkapitalisierung von 50 auf 150 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts angestiegen. 25 Prozent des Privatvermögens der Amerikaner ist heute in Börsentiteln angelegt, gegenüber nur 8 Prozent im Jahr 1984.15 Der Anteil der erwachsenen Amerikaner, die in Aktien investieren, hat zwischen 1990 und 1997 von 21 auf 43 Prozent zugenommen. 1990 hatten sie insgesamt 13 Mrd. Dollar in Investmentfonds angelegt, heute sind es 231 Mrd. Dollar.16

Die Medien sind voll von schönen Erfolgsgeschichten. Ein Straßenkehrer lässt sich in Aktien eines start-up auszahlen und findet sich am Tag des Börsengangs als Millionär wieder. Eine kleine Sekretärin sieht dank ihrer Aktienoptionen einem goldenen Ruhestand entgegen. So verlockend erscheint die Börse, dass manche Amerikaner ihren Beruf an den Nagel hängen, um sich voll und ganz der Börsenspekulation widmen und die Kursentwicklung bestimmter Titel von Minute zu Minute verfolgen zu können. Taxifahrer und Friseure teilen ihre Theorien und Kaufempfehlungen mit ihren Kunden, und die Sängerin Barbara Streisand enthüllt in Finanzzeitschriften die Geheimnisse ihres Börsenerfolgs.

Eine ähnliche Welle der Börsenbegeisterung machte vor Jahren Joseph Kennedy, den Vater des ermordeten Präsidenten, stutzig – und bewahrte ihn vor dem sicheren Bankrott. Eines Morgens im Jahr 1929 gab ihm sein Schuhputzer einen Börsentipp. Der gewitzte Spekulant sagte sich: „Wenn mein Schuhputzer mehr weiß als ich, kann in der Finanzwelt etwas nicht stimmen.“ Noch am selben Tag stieß er sein gesamtes Aktienpaket ab.

dt. Bodo Schulze

* Professor an der University of California, Berkeley. Autor von „Le Monde anglo-saxon en question“, Paris (Economica) 1997 (in Zusammenarbeit mit Richard Farnetti).

Fußnoten: 1 Vgl. Bob Woodward, „The Agenda: Inside the Clinton White House“, New York (Simon and Schuster) 1994. Dazu „Maison blanche et mur d'argent“, Le Monde diplomatique, Oktober 1994. 2 Dazu Joseph Nocera, „A Piece of the Action: How the Middle Class Joined the Money Classe“, New York (Simon and Schuster) 1994. 3 Edward Chancellor, „Devil Takes the Hindmost: A History of Financial Speculation“, New York (Farrar, Straus and Giroux) 1999. 4 Paul Krugman, „Die große Rezession: Was zu tun ist, damit die Weltwirtschaft nicht kippt“; aus dem Engl. von Herbert Allgeier, Frankfurt/M (Campus) 1999. 5 Milton Friedman u. Anna Jacobson Schwartz, „A Monetary History of the United States 1867 bis 1960“, Princeton University Press, 1963. 6 John Kenneth Galbraith, „Der große Crash 1929“; aus dem Engl. von Rudolf Mühlfenzl u. Helmut Roesler, München (Heyne) 1989. 7 John Kenneth Galbraith, „A Short History of Financial Euphoria“, New York (Viking) 1990. 8 Dazu Martin Wolf, „Not so New Economy“, Financial Times (London), 4. August 1999; James Surowiecki, „Is the New Economy Over?“, Slate (Ort), (www.slate.com), 5. August 1999. 9 Wayne D. Angell, „The Bubble Won't Burst“, The Wall Street Journal (New York), 3. Februar 1999. 10 James K. Glassman u. Kevin A. Hassett, „Dow 36 000: The New Strategy for Profiting from the Coming Rise in the Stock Market“, New York (Times Books) 1999. 11San Francisco Examiner, 17. August 1999. 12Financial Times, 8. April 1999. 13 Robert Sobel, „Mania Milestone“, Barron's (New York), 22. Februar 1999. 14 Dazu Ibrahim Warde, „Als der LTCM-Fonds noch über jeden Verdacht erhaben war“, Le Monde diplomatique, November 1998. 15The Wall Street Journal, 30. März 1999. 16The Washington Post, 2. Februar 1999.

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von IBRAHIM WARDE