15.10.1999

Chávez

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Chávez

Von IGNACIO RAMONET

EIN Name geht um in Lateinamerika: Hugo Chávez. Der 45-jährige Admiral, der 1992 einen Putschversuch gegen den damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez unternahm, wurde am 6. Dezember 1998 mit Unterstützung der Linksparteien und den Stimmen der Ärmsten zum neuen Staats- und Regierungschef Venezuelas gewählt. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt initiierte er, wie er angekündigt hatte, eine „friedliche und demokratische Revolution“ – die bei den Propagandisten der Globalisierung für Unruhe sorgt.

Chávez' Entschluss, dass alles anders werden soll, entspricht der Stimmung im Lande. Die Menschen sind verbittert über die Misswirtschaft und Korruption der letzten 40 Jahre, für welche die bisherigen Regierungsparteien ( die sozialdemokratische Acción Democrática [AD] und die christdemokratische Copei) verantwortlich zeichnen. Diese beiden Gruppierungen, deren demokratischen Charakter niemand leugnet, haben Venezuela zu einer der korruptesten und inegalitärsten Gesellschaften der Welt gemacht. So schrieb der Schriftsteller Arturo Uslar Pietri: „Selten wurde ein derart reiches Land so gründlich und nachhaltig von ein paar hundert Familien geschröpft, die schon seit Jahrzehnten und über alle politischen Veränderungen hinweg den sagenhaften Reichtümer unter sich aufteilten.“1

Ein abgrundtiefer Graben trennt eine Handvoll Superreicher vom Rest des Volkes. Diese Situation ist umso schockierender, als Venezuela als zweitgrößter Erdölexporteur der Welt in den zurückliegenden 25 Jahren Einnahmen von rund 300 Mrd. Dollar verbuchte. Gleichwohl lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung noch immer in Armut, ein Viertel der Venezolaner ist arbeitslos, ein Drittel überlebt nur dank des informellen Wirtschaftssektors, und mehr als 200 000 Kinder schlagen sich als Bettler durchs Leben.

Kein Wunder, dass AD und Copei bei den Präsidentschaftswahlen erdrutschartige Verluste hinnehmen mussten (sie erhielten zusammen nur 9 Prozent der Stimmen), während das Programm von Hugo Chávez 57 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigte. Kein Wunder auch, dass sein Vorschlag, eine Konstituierende Versammlung einzuberufen, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll, um mit dem korrupten Regime der traditionellen Parteien Schluss zu machen, im April dieses Jahres von 88 Prozent der Wähler gutgeheißen wurde.

Umgeben von den Porträts der libertadores Bolivar, Miranda und Sucre, die sein Büro im Präsidentenpalast schmücken, führt Hugo Chávez Gramsci im Munde: „Noch zögert das Alte, zu vergehen, und das Neue ist noch nicht greifbar geworden, aber diese Krise wird eine Revolution hervorbringen. “

Welche Ziele verfolgt diese Revolution? „Da die bisherige Regierung die sozialen Probleme vernachlässigt hat, steckt Venezuela abgesehen von der Wirtschaftskrise vor allem in einer moralischen Krise“, erklärt der Luftwaffenkommandant Chávez. „Demokratie heißt aber nicht nur politische Gleichheit; Demokratie heißt auch und vor allem soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gleichheit. Ich will der Präsident der Armen sein. Dabei müssen wir aus dem Scheitern anderer Revolutionen lernen, die diese Ziele zwar proklamiert, dann aber entweder verraten oder nebenbei die Demokratie liquidiert haben.“

TEILE der internationalen Presse2 haben Chávez ohne viel Federlesens des „autoritären Jakobinertums“, des „autokratischen Machtmissbrauchs“ und der „Vorbereitung einer modernen Form des Staatsstreichs“ beschuldigt. Dabei ist die Stimmung im Lande zwar äußerst lebendig und die Leidenschaft, mit der politisch debattiert wird, erinnert an den französischen Mai 68 – doch es hat bislang keine gravierenden gewalttätigen Zwischenfälle gegeben, keine Opfer, keinerlei Zensur der politischen Opposition, der Journalisten oder der Medien.

„Derlei Beschuldigungen sind äußerst bedauernswert“, erwidert Hugo Chávez, „denn unser Ziel ist vielmehr der Übergang von einer repräsentativen Demokratie zur partizipativen, direkten Demokratie. Wir verachten die repräsentative Demokratie keineswegs, doch das Volk soll auf allen Machtebenen ein größeres Mitspracherecht erhalten. So können wir jede Menschenrechtsverletzung besser bekämpfen.“ Der derzeit zur Debatte stehende Verfassungsentwurf enthält in der Tat eine erweiterte Machtbefugnis und mehr Selbstbestimmung für die Kommunen, ferner wird die Möglichkeit eines Bürgerbegehrens eingeführt. Jeder gewählte Volksvertreter (selbst der Staatspräsident) soll sich nach Ablauf der Hälfte seiner Amtszeit einer erneuten Wahl stellen, sofern ein entsprechender Antrag des Volkes ergeht. Darüber hinaus sieht die neue Verfassung, deren endgültiger Text im November vorliegen soll, folgende Regelungen vor: das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, das explizite Verbot, missliebige Personen einfach „verschwinden“ zu lassen, wie es die Ordnungskräfte immer wieder praktiziert haben, die Einrichtung von Bürgerbeauftragten, die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die Schaffung einer „moralischen Machtinstanz“ zur Bekämpfung von Korruption und Machtmissbrauch jeder Art.

Wirtschaftspolitisch möchte Chávez vom neoliberalen Modell Abstand nehmen und der Globalisierung Widerstand entgegensetzen. „Wir müssen ein Gleichgewicht finden zwischen Markt, Staat und Gesellschaft. Wir müssen die unsichtbare Hand des Markts und die sichtbare Hand des Staates in der Wirtschaft zusammenführen, mit der Maxime: soviel Markt wie möglich, soviel Staat wie nötig.“ Das Privateigentum, die Privatisierungen und die Auslandsinvestitionen bleiben unangetastet, soweit sie dem übergeordneten Interesse des Staates nicht zuwiderlaufen. Strategisch wichtige Wirtschaftssektoren, deren Verkauf einen partiellen Transfer von nationaler Souveränität bedeuten würde, sollen weiterhin unter Staatskontrolle bleiben.

Allein die Lektüre dieses Maßnahmenkatalogs macht deutlich, dass die Hauptakteure der Globalisierung Commandante Chávez und seine Revolution gegen den Wirtschaftsliberalismus schlechterdings verteufeln müssen.

Fußnoten: 1 Arturo Uslar Pietri, „Venezuela für Chávez und gegen Korruption“, Le Monde diplomatique, Dezember 1998. 2 Vgl. beispielsweise The New York Times, 21. August 1999, und International Herald Tribune, 1. September 1999.

Le Monde diplomatique vom 15.10.1999, von IGNACIO RAMONET