Südkoreas harzige Abkehr vom Kalten Krieg
Von DANIEL VALLOT *
SEIT Kim Dae-jung im Februar 1998 das Amt als Präsident Südkoreas antrat, hat er sich aufgrund der Asienkrise im Wesentlichen auf die Wirtschaft konzentriert.1 Seine politische Bilanz ist außerordentlich mager: Die große Verfassungsreform, die er vor der Wahl versprochen hatte, wurde auf bessere Tage verschoben. Der Kampf gegen Korruption und regionalen Klientelismus hat sich gegen seinen Initiator gewandt, denn eine Reihe von Affären hat die Integrität der Regierung ernsthaft erschüttert. Der einstige Dissident, der sich in den siebziger und achtziger Jahren der Diktatur widersetzt und mehrere Jahre im Gefängnis verbracht hatte, büßte damit an Glaubwürdigkeit ein, weshalb die Opposition bei Teilwahlen wieder Boden wettmachen konnte.
Im Vorfeld der Parlamentswahlen vom April 2000 sieht sich Kim Dae-jung daher genötigt, eine etwas gehaltvollere politische Bilanz vorzulegen und zu einem heiklen Thema Stellung zu beziehen: der politischen Repression gegenüber kommunistischen Sympathisanten (Nord- wie Südkoreanern), die der Spionage beschuldigt werden oder als Studenten im Verdacht stehen, Verbindungen zum Regime in Pjöngjang zu unterhalten.
Während seiner zahlreichen Auslandsaufenthalte hat Kim Dae-jung immer wieder die Karte des ehemaligen Oppositionellen, des Verfechters von Menschenrechten und Demokratie ausgespielt. Er will Südkorea durch wirtschaftliche Öffnung und zahlreiche Reformen zum Musterschüler des Internationalen Währungsfonds (IWF) machen und sich als Vorkämpfer für Demokratie und Menschenrechte in Asien präsentieren.
Um das Ansehen seines Landes auf diesem Gebiet zu heben, hat sich Kim Dae-jung eines äußerst flexiblen Instrumentes bedient: des Rechts des Präsidenten, Amnestien zu erlassen.2 So wurden zwischen März 1998 und dem 15. August dieses Jahres etwa 250 politische Gefangene freigelassen, was auf internationaler Ebene nicht ohne Echo blieb: Allgemein ist man der Überzeugung, dass in Südkorea mit der Freilassung der Opfer der ehemaligen Diktatur ein Schlussstrich unter die autoritären Praktiken der letzten vierzig Jahre gezogen wurde.
Die größte Aufmerksamkeit erregte international die Amnestie vom 25. Februar 1999. Damals wurde mit Woo Yong-gak der „am längsten in Haft gehaltene politische Gefangene der Welt“ (amnesty international) freigelassen. Er war im Jahre 1950 wegen Spionage für Nordkorea verhaftet worden und hatte 41 Jahre seines Lebens in Gefangenschaft verbracht. Bei seiner Freilassung lauschten Dutzende Journalisten seinen ersten Worten, doch die große Zahl politischer Gefangener, die nach wie vor hinter Gittern sitzen, wurde dabei übersehen. Laut amnesty international und Mingahyop, der südkoreanischen Vereinigung der Angehörigen, sollen noch heute in Südkorea mehr als zweihundert Gefangene aus Gesinnungsgründen inhaftiert sein.3 Beunruhigender noch ist, dass die willkürlichen Verhaftungen laut Angaben von Bürgerrechtsorganisationen in Südkorea seit der Wahl von Kim Dae-jung zum Präsidenten nicht eingedämmt wurden.4
Dabei beruft sich der Staat auf das Gesetz zur nationalen Sicherheit, das 1948 nach der Teilung der koreanischen Halbinsel verabschiedet wurde und das jedes Anzeichen für eine Unterstützung Nordkoreas oder der kommunistischen Ideologie im weiteren Sinne unter Strafe stellt. Die meisten Inhaftierten sind kommunistisch orientierte Studenten, die der Gruppe Hanchongryon nahe stehen, einer Vereinigung, die vom Justizapparat wegen ihrer Verbindungen mit dem Regime in Pjöngjang aufgelöst wurde. Auch auf gewerkschaftlicher Ebene hat sich die Situation mit der Amtsübernahme von Kim Dae-jung nicht verbessert; noch immer werden viele Arbeiter wegen „illegalen Aufrufs zum Streik“5 festgenommen.
Nach Ansicht von Kwak Nohyun, Jura-Professor und Mitglied der Koalition der Menschenrechtsvereinigungen, wird die Bilanz von Kim Dae-jung hauptsächlich durch Widerstand von Seiten der Justiz beeinträchtigt. „Es ist nicht leicht, bei Staatsanwaltschaft und Polizei einen Wandel herbeizuführen, doch mit etwas mehr Entschlossenheit hätte die Regierung bessere Ergebnisse erzielen können.“ Ursache der fehlenden Entschlossenheit ist möglicherweise auch die Tatsache, dass die Regierung aus einer Koalition besteht. Unterstützt vom Nationalen Kongress für eine neue Politik (NCNP), aber nur dank eines Wahlbündnisses mit den Vereinigten Liberaldemokraten (ULD) von Kim Jong-pil knapp gewählt6 , muss Kim Dae-Jung auf seinen konservativen Partner in der Regierungskoalition Rücksicht nehmen.
Auf diese Weise blieb das von der Diktatur übernommene rechtliche Instrumentarium bislang unangetastet. Das Gesetz zur nationalen Sicherheit sieht in Artikel 7 für jede „gegen den Staat“ gerichtete Handlung Gefängnisstrafen ohne Bewährung vor. Bereits der Besitz eines marxistischen Schriftstücks oder einer Broschüre, in der zur Annäherung an Nordkorea aufgerufen wird, kann eine mehrjährige Gefängnisstrafe nach sich ziehen.
Ein eklatantes Beispiel für solche Auswüchse, die von den Menschenrechtsorganisationen aufgedeckt werden, ist die Verhaftung des pjöngjangfreundlichen „Internauten“, der auf seiner Homepage erklärte: „Ich bin Südkoreaner, aber ich liebe den Kommunismus.“ Nachdem bereits 4 000 Mal auf seine Seite zugegriffen worden war, wurde sie im November 1998 von der Polizei verboten und gegen den Verfasser Anklage wegen Verstoßes gegen das Gesetz zur nationalen Sicherheit erhoben.
Die Forderung nach einer Aufhebung dieses Gesetzes, in dessen Namen auch Kim Dae-jung in den siebziger und achtziger Jahren mehrmals verurteilt wurde, spaltet die politischen Entscheidungsträger. Als der Präsident am 15. August 1999 für seine Abschaffung eintrat, provozierte dies eine außerordentlich heftige Polemik: Die Große Nationalpartei (GNP, die wichtigste Oppositionspartei) sah in der Ankündigung bereits einen deutlichen Hinweis auf das „Abdriften der Regierung nach links“. Problematischer jedoch dürfte sein, dass der Vorstoß auch bei den Vereinigten Liberaldemokraten wütende Reaktionen hervorrief, die sich einer grundlegenden Gesetzesreform offiziell widersetzen. „Die politischen Konflikte innerhalb der Regierungskoalition könnten die Reform letztlich zum Scheitern bringen“, vermutet Lee Joo-young, der für die Sarabang, eine Menschenrechtsvereinigung mit Sitz in Seoul, aktiv ist. „Aber selbst innerhalb der Partei von Kim Dae-jung gibt es in diesem Punkt große Meinungsverschiedenheiten.“ Solte Kim Dae-jung allerdings im April 2000 einen Wahlsieg erringen, mutmaßt Kwak Nohyung, dann dürfte er in der Lage sein, die Reformen durchzusetzen.
Die Schwierigkeiten, auf die der ehemalige Oppositionelle stößt, wenn er das rechtliche Instrumentarium aus den Zeiten des Kalten Krieges reformieren will, haben damit zu tun, dass für viele Südkoreaner der Kalte Krieg heute noch Realität ist, weshalb Südkorea nach Ansicht der Reformgegner nach wie vor eine härtere Gangart in der Frage der Menschenrechte einschlagen muss. Sechsundvierzig Jahre nach Unterzeichnung des Waffenstillstands von Panmunjom haben die beiden Länder immer noch keinen Friedensvertrag unterzeichnet.
Wie Cho Sihyum, Professor für internationales Recht an der Universität Sungshin, erklärt, sind Mentalität und politisches Leben in Südkorea immer noch tiefgreifend von der Idee der militärischen Bedrohung durch den Norden geprägt – unabhängig davon, ob dies vom Süden instrumentalisiert wird oder nicht. „Aufgrund ihrer Vergangenheit, als Folge des Koreakrieges und der japanischen Besatzung, ist die südkoreanische Gesellschaft immer noch sehr monolithisch und wenig tolerant. Im Allgemeinen misstraut man neuen Ideen, vor allem wenn sie links erscheinen. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst, die sich die Militärdiktatur lange Jahre zunutze gemacht hat, wobei ihr wichtigstes Instrument das Gesetz zur nationalen Sicherheit war.“
Junge Südkoreaner, die nach dem Koreakrieg geboren wurden, haben schon in der Grundschule das Feindbild präsentiert bekommen: „Ich erinnere mich“, berichtet Frau Lee Joo-young, „dass in einem meiner Schulbücher die Nordkoreaner als Wölfe, die Südkoreaner als Schafe abgebildet waren.“ Trotz des wirtschaftlichen Debakels und der internationalen Isolierung ruft der Norden bei den Menschen südlich des 38. Breitengrads immer noch Angst hervor.7
Immer wieder führen die Gegner einer nachgiebigeren Linie die innerkoreanischen Spannungen als Argument selbst gegen eine begrenzte Reform des Gesetzes zur nationalen Sicherheit ins Feld. „Es wäre verfrüht, die geltende Gesetzgebung zu revidieren“, erklärt der Wortführer der Großen Nationalpartei, Lee Sa-cheol. „Darf der Süden in seiner Wachsamkeit nachlassen, wenn Nordkorea immer wieder U-Boote und bewaffnete Agenten über den 38. Breitengrad schickt?“
Dieses Argument erhielt im Juni 1999 Rückenwind, als nach dem Zwischenfall im Gelben Meer die Spannungen wieder zunahmen.8 Für die Große Nationalpartei ist dieser Vorfall ein Beweis für das Scheitern der Entspannung, die Kim Dae-jung seit seiner Wahl propagiert hat, jene berühmte „Politik des Sonnenstrahls“, die Willy Brandts Ostpolitik zum Vorbild nimmt.
Auch wenn einige bedeutende Erfolge erzielt wurden, hat die südkoreanische Regierung auf diplomatischem Gebiet letztlich kaum Fortschritte erzielt. So hat Seoul im April 1999 ohne Gegenleistung mehrere hunderttausend Tonnen Düngemittel nach Nordkorea geliefert, dennoch aber nicht erreichen können, dass Pjöngjang die Gespräche zwischen beiden Regierungen über eines der sensibelsten Themen in Korea wieder aufnimmt, nämlich die Zusammenführung der Familien, die durch den Bürgerkrieg getrennt wurden.
Nach Kim Dae-jungs Vorstellungen könnte jedoch eine Reform des Gesetzes zur nationalen Sicherheit die feindliche Stimmung dämpfen. Der zweite Artikel dieses Gesetzes nämlich qualifiziert Nordkorea als „gegen den Staat gerichtete Organisation“. Das steht im direkten Widerspruch zur „Politik des Sonnenstrahls“, welche die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen entwickeln9 und auf Dauer zum Tauwetter in den Kontakten mit der herrschenden Elite in Nordkorea führen soll.
Doch das Gesetz zur nationalen Sicherheit stellt noch ein zweites, eher diplomatisches als juristisches Hindernis dar: Seine Aufhebung zählt zu den Bedingungen, die Pjöngjang für eine Aufnahme des direkten Dialogs mit Seoul und die Unterzeichnung eines Friedensabkommens gestellt hat. Wenn Kim Dae-jung dieses hybride Gesetz, ein Produkt des Kalten Kriegs und der Diktatur, antastet, könnte ihm ein Doppelschlag gelingen, nämlich den innerkoreanischen Friedensprozess in Gang zu bringen und zugleich seinem Bild als Reformer neuen Glanz zu verleihen.
dt. Erika Mursa
* Journalist, Seoul.