12.11.1999

Spärliche Einblicke in das abgeschirmte Nordkorea

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Spärliche Einblicke in das abgeschirmte Nordkorea

Von ILARIA MARIA SALA *

NACH einer weiteren Phase höchster Spannungen zwischen den beiden Ländern hat Washington Mitte September bekanntgegeben, dass das seit sechsundvierzig Jahren andauernde Wirtschaftsembargo gegen Nordkorea teilweise aufgehoben werden soll. Zuvor hatte sich das Regime in Piöngjang bereit erklärt, seine Tests mit Langstreckenraketen auszusetzen. Von einer Entspannung ist allerdings im Lande selbst nicht viel zu spüren; dort kämpfen die Menschen nach wie vor ums nackte Überleben, während das Regime „Normalitt“ simuliert und sich mit einem dicken Wall aus Propanganda und Misstrauen umgibt. Aber auch Südkorea tut sich schwer mit dem Ende des Kalten Krieges.

In Seoul organisieren mehrere Reiseveranstalter Ausflüge in die entmilitarisierte Zone (DMZ), die Nord- und Südkorea voneinander trennt und von der aus man einen Blick auf das feindliche Nachbarland werfen kann. Frühmorgens treffen sich die Touristen beim Hotel Lotte im Stadtzentrum und steigen in einen Minibus, wo sie während der Fahrt von einer Führerin über die Unmenschlichkeit des kommunistischen Systems unterrichtet werden. Diese Unmenschlichkeit, sagt sie, sei auch der Grund, weshalb die Vereinigten Staaten und Südkorea sich weigern, die internationalen Abkommen über das Verbot von Landminen zu unterzeichnen.

Je näher man an die DMZ herankommt, desto häufiger stößt man auf Hindernisse: auf Sandsäcke, Militärkontrollen oder Wachsoldaten. Zunächst können die Touristen durch einen Park spazieren, in dem Standbilder für die Helden des Koreakrieges errichtet sind. Danach fahren sie am „Freedom Village“, dem „Dorf der Freiheit“, vorbei, wo die Bauern nach elf Uhr abends ihre Türen verschließen müssen und sich nach Sonnenuntergang nicht mehr auf den Feldern aufhalten dürfen. Ihre Anwesenheit dient vor allem dazu, den Teleskopen im Norden zu demonstrieren, wie angenehm das Leben im Süden ist. Zum Ausgleich sind die Häuser besonders geräumig und die Bewohner von Steuern befreit.

Nach einer Passkontrolle gelangt man in die Nähe der stark verminten, nicht zugänglichen Zone, die umständehalber zu einem Schutzgebiet für seltene Vögel wie den Mandschurei-Kranich geworden ist. Vom „Observatorium der Wiedervereinigung“ aus, einer Art Hörsaal, der an einer Seite eine große Glasfront aufweist, kann man nach Nordkorea sehen. Vor unseren Augen liegt das „Propaganda-Dorf“, das in Wirklichkeit Kijong-dong heißt; niemand wohnt dort, doch vor den Häusern hängt ständig Wäsche zum Trocknen, und noch vor kurzem rauchten die Fabrikschornsteine. Dass die Fabriken nun stillgelegt wurden, gilt als Bestätigung dafür, dass die Not im Norden mittlerweile so groß ist, dass man selbst die Propaganda-Projekte nicht mehr aufrechterhalten kann.

Alle drängeln, um an die Reihe zu kommen und einen Blick auf die andere Seite zu werfen, in der Hoffnung, dass sich dort etwas oder jemand bewegt. Was man sieht, sind einige verfallene Häuser und Felder, auf denen unzählige Spruchbänder angebracht wurden. Doch der Abstand ist so groß, dass selbst im Sucher des Fernrohrs alles etwas unscharf erscheint.

Veranstaltet werden diese Reisen, um den Menschen die Dimensionen des Konflikts und die Spannungen zwischen beiden Teilen Koreas nahe zu bringen. Doch wie brutal, unüberwindlich und militärisch die Grenze auch erscheint, die erwünschte Wirkung verflüchtigt sich schnell. Da sind die Eingänge jener Tunnels, die die Nordkoreaner in den siebziger Jahren gegraben haben, um in den Süden vorzudringen; um den Tarneffekt zu unterstreichen, wurden sie mit so vielen Farbschichten getüncht, dass die Szene nicht mehr unter die Haut geht.

Auch die Soldaten sind sehr bemüht, den Ernst der Situation zu unterstreichen. Sie werfen den Touristen strenge Blicke zu, können es jedoch nicht lassen, untereinander ebenso wie mit den jungen Führerinnen der Besuchergruppen Witze zu machen. Wäre der Ort wirklich gefährlich, könnte man natürlich unmöglich so viele Touristen hierherführen; Südkorea möchte wohl hauptsächlich demonstrieren, wie notwendig die Präsenz der amerikanischen Soldaten und Landminen auf dem eigenen Territorium nach wie vor ist.

Im „Dorf des Waffenstillstands“ (der 1953 unterzeichnet wurde) sind die Soldaten aus dem Süden mit ihren amerikanisch anmutenden Uniformen etwa zehn Zentimeter größer als die aus dem Norden. Dies gilt als untrügliches Zeichen dafür, dass auf der anderen Seite der entmilitarisierten Zone schon seit mehreren Jahren die Essensrationen zu knapp bemessen sind. Auch das Verhalten der Südkoreaner, die sich locker und unbefangen geben, steht im Gegensatz zur fast verlegenen Reglosigkeit ihrer Kollegen aus dem Norden, die unter ihren großen, runden Ballonmützen noch kleiner erscheinen. Am Abend, auf dem Rückweg nach Seoul, weist die Führerin mehrmals zurück in die Ferne und wiederholt in ernstem Ton: „Dort liegt Nordkorea.“

Dandong, eine kleine Stadt im Norden Chinas, verdankt seinen Ruf der chemischen Industrie sowie seiner Lage, denn vom linken Ufer des Yalu-Flusses aus kann man durch Fernrohre die nordkoreanische Stadt Sinuiju erkennen. Tagtäglich spazieren Dutzende Menschen am Fluss entlang und zeigen mit dem Finger auf nie fertig gestellte Häuser, auf ein verrostetes, sich längst nicht mehr drehendes Karussell oder auf die Schornsteine der stillgelegten Fabriken. „Dort haben sie angefangen, Häuser zu bauen, als man hier schon täglich einen neuen Wolkenkratzer errichtete. Aber dann ist ihnen mitten im Bau das Geld ausgegangen“, erklären die älteren Menschen, die abends am Fluss entlang spazieren gehen und zwischendurch ein paar gymnastische Übungen machen.

Seit mindestens zehn Jahren warten diese alten Menschen, von denen viele im Koreakrieg gekämpft haben1 , mit Ungeduld und Sorge darauf, dass die Regierung in Pjöngjang sich endlich entschließt, wirtschaftliche Reformen einzuleiten. „Die sterben dort vor Hunger. Wenn den Leuten die Flucht auf unsere Seite gelingt, geben wir ihnen, trotz der Polizeikontrollen, was wir können, Lebensmittel, warme Kleider, Geld. Nachdem wir im Krieg unser Leben für sie aufs Spiel gesetzt haben, kann man sie ja nicht jetzt einfach sterben lassen. Aber ihre Regierung geht das nicht richtig an. Wie sollen sie da ohne Wirtschaftsreformen jemals wieder rauskommen?“

Und dabei ist Dandong alles andere als eine reiche Stadt: Die Touristen können gerade mal über die alte Yalu-Brücke promenieren, die allerdings nur noch zur Hälfte steht, da sie während des Krieges von den Vereinigten Staaten bombardiert wurde; oder sie gehen mit ihrer kleinen Zodiac so nah wie möglich heran, um „die andere Seite“ zu sehen und „diesen armen Leuten“ ein Päckchen Zigaretten als Geschenk hinüberzuwerfen. Ansonsten kann man hier nichts unternehmen, außer sich den Magen vollschlagen oder in eines der Bordelle gehen, die hier schamhaft „Massagesalon“ heißen. Nur von Sinuiju aus, auf der anderen Seite des Yalu gelegen, erscheint die schmutzige und chaotische Stadt reich und lebendig.

Hat man den Fluss über die große Eisenbrücke, direkt neben der bombardierten, überquert, wähnt man sich plötzlich in den Kulissen eines Films über die Nachkriegszeit. Der große Platz neben dem Bahnhof von Sinuiju wird beherrscht von einem riesigen Standbild des 1994 verstorbenen „großen Führers“ Präsident Kim Il Sung, der den Titel „ewiger Präsident“ erhielt.2 Überragt wird die Statue noch von einem gigantischen Porträt, das ebenfalls Kim Il Sung darstellt. Jeder im Land trägt auf der Brust einen Anstecker mit dem Bild des „großen Führers“ – die ob ihrer Farbigkeit in dieser staubigen, farb- und glanzlosen Umgebung umso mehr ins Auge springen, zumal Kälte, Nahrungsmangel und Armut die Haut der Menschen grau und hart werden ließ.

Pjöngjang hält eine wirtschaftliche Öffnung für politisch zu gefährlich. Die unerlässlichen Devisen sollen über den Tourismus ins Land kommen. Auch wenn man sich dies nicht so recht vorstellen kann, sind inzwischen die Gelder des südkoreanischen Hyundai-Konzerns, der seinen Mitbürgern den Besuch des heiligen Bergs Kumgang im Norden ermöglicht, zur wichtigsten Devisenquelle für Nordkorea geworden.3 Außerdem hat Pjöngjang entschieden, das Gebiet von Rajin-Sobong in der Nähe der Grenze zu China und Russland in eine „touristische Sonderzone“ zu verwandeln und dort das erste Kasino zu eröffnen, zu dem ausschließlich Ausländer Zutritt haben sollen. Bereits vor einigen Jahren war das Gebiet zur „wirtschaftlichen Sonderzone“ erklärt worden.

Reisen nach Nordkorea sind streng überwacht. Die Touristen werden am Bahnhof von Pjöngjang stets von zwei Führern in Empfang genommen, ganz gleich, wie viele es sind – auch eine Einzelperson kann eine „Gruppe“ darstellen. Einen einzelnen Führer mit Ausländern allein zu lassen, wäre zu unvorsichtig. Alles ist auf den Millimeter genau geplant. Und es wird alles getan, um den Kontakt mit der Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Der Transport erfolgt in Minibussen, niemals in öffentlichen Bussen oder Taxis. Die einzige Ausnahme bildet eine kurze U-Bahn-Fahrt zwischen zwei Stationen, auf die die Behörden besonders stolz sind. In jedem Wagen hängt hier ein Doppelportrait von Vater und Sohn Kim, das auf die extravagante, in revolutionärem Stil gehaltene Dekoration der Bahnhöfe abgestimmt ist. Selbst bei Museumsbesuchen werden die Touristen von den einheimischen Schulklassen streng getrennt.

Auch bei den Mahlzeiten bleiben die Touristen unter sich. Sie essen entweder in ihren riesigen, leeren Luxushotels oder in einem Nebenraum, abgeschirmt von der Bevölkerung. Denn die üppigen Mahlzeiten, die ihnen serviert werden, kann man sich auf anderen Tischen Nordkoreas kaum vorstellen. In der Hauptstadt gibt es darüber hinaus einige Restaurants, in die man Touristen führen kann. Das bekannteste ist das Okryukwan – Restaurant der kalten Nudeln mit Buchweizenkörnern – das gerade eine Filiale in Seoul eröffnet hat.4 Koreanische Kunden müssen am Eingang einer Dame, die mit unbestechlichem Blick die Tür bewacht, Geldscheine vorzeigen, damit ihnen das Recht erteilt wird, eine Essensration zu sich zu nehmen. Kalte Nudeln kann man auch im Hotel Koryo probieren, wo man mit Devisen zahlt und nur Manager bzw. Personen antrifft, die Kontakte zu Ausländern haben.

Nordkorea, das immer wieder bei den Weltorganisationen um Nahrungsmittelhilfe nachsucht, verbreitet gegenüber den Touristen ebenso wie gegenüber seinen Bürgern das Bild eines Landes, das dank seiner revolutionären Ideen keinerlei Mangel leidet. Im Fernsehen5 sieht man den „lieben Führer“ Kim Jong Il, der unaufhörlich durchs Land reist und zufrieden die „revolutionären“ Kartoffeln und Gurken besieht, dank derer die Probleme der Hungersnot sich gewiss werden lösen lassen. Im Landwirtschaftspavillon, im Palast der „Ausstellung der drei Revolutionen“, wird die mangelhafte Versorgung mit keinem Wort erwähnt, obwohl diese bereits eine beträchtliche, wenn auch schwer zu schätzende Zahl von Opfern gefordert hat.

Im ersten Supermarkt der Hauptstadt, den man nach tagelangem Insistieren betreten darf, gibt es nur sehr wenige Artikel: drei verschiedene Schuhmodelle, eine einzige Form von rosafarbenen Schüsseln; in der Spielwarenabteilung als einziges eine Holzpistole, und in der Lebensmittelabteilung kaum mehr als eine Kekssorte und getrocknete Nudeln. In der Stadt wie auf dem Land sind die Leute stets mit einem Sack über der Schulter unterwegs; darein stecken sie, was die Erde hergibt: essbare Wurzeln, Pflanzen oder essbare Blätter. Fragt man den Führer, ob die Menschen sich davon ernähren, antwortet er mit leicht gezwungenen Lachen: „Natürlich nicht! Das ist für die Kaninchen.“ Und fügt mit vollem Ernst hinzu: „In Korea halten viele Leute Kaninchen.“

Der Mangel erschüttert die Ideologie der Machthaber nicht.6 Im Gegenteil, seit dem Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 und dem Zusammenbruch des Sowjet-Reiches hat die Hauptstadt ohne Rücksicht auf die Kosten verstärkt Bauwerke zur Verherrlichung der Revolution errichtet – so das Monument zu Ehren der Gründung der Arbeiterpartei oder das Monument zu Ehren des Siegs zur Befreiung des Vaterlands. Alle wurden nach 1993 erbaut. Laut Analyse aus Pjöngjang liegt das „Problem“ des kommunistischen Blocks in Europa darin, dass man der politischen Erziehung nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt hat. Hier scheut man dagegen keinerlei Mühe. In den Schulen sieht man an den Wänden auf Zeichnungen rattenköpfige US-Soldaten, die von einem jungen, starken und schönen Koreaner zertreten werden. In der Stadt propagieren Spruchbänder sowie revolutionäre Plakate die jeweils neueste politische Kampagne (die in den letzten Jahren dem „revolutionären Kampf für die Landwirtschaft“ galten) und das Bild von Kim Il Sung oder Kim Jong Il.

Nachdem im Sommer noch militärische Spannungen und Drohgebärden vorherrschten, haben Nordkorea und die Vereinigten Staaten inzwischen den Dialog wieder aufgenommen. Es erscheint nunmehr vorstellbar, dass die beiden Länder in naher Zukunft Botschafter austauschen – ein Schritt, den Seoul begrüßen würde, da man Pjöngjang in den Kreis der „internationalen Gemeinschaft“ zurückführen möchte. Unterdessen umgibt sich das Land trotz aller Öffnung mit einem dicken Wall aus Propaganda und Misstrauen.

dt. Erika Mursa

* Korrespondentin, Hongkong.

Fußnoten: 1 Während des Krieges (1950 bis 1953) kämpften China und die SU an der Seite des Nordens, während die USA an der Spitze einer UNO-Mandatstruppe den Süden unterstützte. China schickte Hunderttausende Freiwillige, die an der Seite der Nordkoreaner kämpften. 2 Kim Jong Il, Sohn und Nachfolger von Kim Il Sung in einem System, das oft als einzige kommunistische Erbdynastie bezeichnet wurde, ist Chef der Armee und Generalsekretär der koreanischen Arbeiterpartei; der Titel des Präsidenten bleibt jedoch für immer, selbst im Jenseits, seinem Vater vorbehalten. 3 Bis Ende Juli waren nahezu 100 000 südkoreanische Touristen auf die Kumgang-Berge gekommen. Der Erfolg dieser Kampagne scheint anzuhalten, selbst nachdem eine südkoreanische Touristin im letzten Juni der Spionage beschuldigt und von den nordkoreanischen Behörden drei Tage lang festgehalten wurde. Nachdem die Reisen sechs Wochen lang unterbrochen waren, wurden sie seither wieder ganz normal fortgesetzt. 4 Ein solcher Austausch findet zum ersten Mal statt. 5 Es gibt nur einen Fernsehsender, und die Radio- und Fernsehgeräte, die in Nordkorea verkauft werden, können selbst in Grenznähe zu China oder zu Südkorea keine anderen Sender empfangen. 6 Vgl. Selig S. Harrison, „Letzte Ausfahrt Marktreform“, Le Monde diplomatique, Februar 1997 und „Hunger, Handel und Wandel in Nord-Korea“, Le Monde diplomatique, September 1998.

Le Monde diplomatique vom 12.11.1999, von ILARIA MARIA SALA