12.11.1999

Der Wandel in Osteuropa und die Totgewichte der alten Gesellschaften

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Der Wandel in Osteuropa und die Totgewichte der alten Gesellschaften

Von CATHERINE SAMARY *

MITTE Oktober beschloss die EU-Kommission, die sich bisher für die vorrangige Aufnahme von fünf osteuropäischen Ländern (Estland, Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn) ausgesprochen hatte, in Zukunft mit allen Beitrittskandidaten zu verhandeln. Diese „Öffnung“ könnte für einzelne der fünf bislang bevorzugten Länder bedeuten, dass sich der Zeitpunkt ihrer Aufnahme verzögert, ohne dass die übrigen eine verbindliche Vereinbarung erwarten könnten. Diese Kehrtwende hat mit den Problemen zu tun, die das Euopa der Fünfzehn mit der Osterweiterung hat, sie spiegelt aber auch die Erfahrungen mit dem Transformationsprozess in den Erweiterungsländern. Zwar ist die Demokratie auf dem Vormarsch, aber den Menschen geht es nach wie vor schlecht. Die Begeisterung für die Europäische Union schwindet in dem Maße, wie die Illusionen über eine rasche Verbesserung des Lebensstandards hinfällig werden.

Russland und die anderen Länder des ehemaligen Ostblocks befinden sich angeblich in einem Prozess des „Übergangs zur Marktwirtschaft“. Doch von welchem Markt ist hier die Rede? Von dem Markt, auf dem wir unser Gemüse kaufen? Vom Arbeitsmarkt, der ausgedünnt wird, wenn er sich als „zu teuer“ erweist? Oder vom Kapital- und Wertpapiermarkt, der sich in Russland ausbreitet, während der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung unter die Armutsgrenze abgesunken ist? In der Regel wird schlicht und einfach von „Markt“ geredet, als handle es sich dabei um einen sozial neutralen Mechanismus.

Im „Land der großen Lügen“ musste das Wort „Sozialismus“ dazu herhalten, die Unterdrückung und die Privilegien der Bürokratie zu vertuschen. Dieselbe Funktion erfüllt der Verzicht auf jede nähere Qualifikation des Marktbegriffes. Man befindet sich auf dem Weg zum Markt und nicht etwa zum Kapitalismus. Stalinismus wie Liberalismus leugnen die Existenz von Klassen und Konflikten. Hinter den offiziellen Dogmen der Vergangenheit wie der Gegenwart bleibt verborgen, wie die zwischenmenschlichen Beziehungen, die den verschiedenen Eigentumsformen und Wirtschaftsmechanismen zugrunde liegen, sich tatsächlich darstellen.

Der Parteienpluralismus und der Fall der Berliner Mauer waren für Osteuropa zweifellos ein Gewinn. Dagegen lassen sich die Mauern des Geldes nicht so leicht niederreißen. Die wirklich bedeutsamen Themen – etwa ethische Fragen oder Alternativkonzepte1 –, werden nicht angesprochen. Denn das vorherrschende liberale Denken setzt die Entpolitisierung der Wirtschaft als Notwendigkeit voraus. Als wären die liberalen Wirtschaftsprinzipien nicht politisch, wenn sie Zwangskollektivierung durch Zwangsprivatisierung ersetzen; oder die Diktate des „wissenschaftlichen Sozialismus“ durch die angeblich universell wirksamen „Gesetze“ eines kapitalistischen Marktes, der den gesellschaftlichen Zerfall beschleunigt; oder die Bürokratie und die staatlichen Monopole durch einen privatisierten Staat, der von einer monopolistisch organisierten Mafia abhängig ist; oder die Bevorzung des Sozial- und Kulturbudgets durch Militärausgaben, damit man die zunehmende Unordnung dieser regressiven „Ordnung“ eindämmen kann.

Es lohnt die Mühe, die Verhältnisse zu entschleiern, den Wörtern, der Vergangenheit, den konkreten Utopien ihre Bedeutung zurückzugeben, um uns die gegenwärtigen und zukünftigen Alternativen vor Augen zu führen. Das lässt sich nicht mit ein paar Zeilen erledigen. Es erfordert eine pluralistische Auswertung der Bilanz dieses Jahrhunderts. Diese Bilanz hätte alle Misserfolge, Erfahrungen und Diskussionen der Vergangenheit, auch und gerade der gewaltsam unterdrückten, zu erfassen.2 Denn eine Bilanz des „real existierenden Sozialismus“ ist nicht möglich, ohne auch die globale Entwicklung zu bilanzieren, also die Folgen des kapitalistischen Wachstums für die Menschen und die Ökosysteme.

„Wer nachdachte, konnte sich anschaulich davon überzeugen, dass eine Umwälzung in den Eigentumsformen die Probleme des Sozialismus noch nicht löst, sondern erst stellt“, schrieb Leo Trotzki3 , der die UdSSR als Mischgesellschaft mit kapitalistischen und sozialistischen Zügen analysiert hat. Und den apologetisch propagierten Produktionsziffern hielt er entgegen: „Ein in der Sowjetindustrie eigenes Gesetz lässt sich so formulieren: Das Erzeugnis ist in der Regel umso schlechter, je näher es dem Massenverbraucher steht.“

In seiner kritischen Reflexion über das Wesen der sowjetischen Planwirtschaft stand die Frage der Demokratie und des Warenumlaufs und somit des Geldes bereits im Mittelpunkt: „Zwei Hebel müssen der Regulierung und Anpassung der Pläne dienen: ein politischer – die reale Beteiligung der interessierten Massen selbst an der Leitung, die ohne Sowjetdemokratie undenkbar ist – und ein finanzieller, die reale Prüfung der apriorischen Berechnungen mit Hilfe eines allgemeinen Äquivalents, was ohne stabiles Geldsystem undenkbar ist. Die Rolle des Geldes in der Sowjetwirtschaft ist nicht nur noch nicht ausgespielt, sondern soll sich, wie schon gesagt, erst voll entfalten.“

Rosa Luxemburg kommt das Verdienst zu, trotz ihres Eintretens für die Oktoberrevolution bereits 1918 in einer im Gefängnis verfassten Broschüre äußerst klarsichtig auf die Gefahr hingewiesen zu haben, die sich aus der Infragestellung des politischen Pluralismus durch die Bolschewisten ergab. Die könne nämlich das fortschrittliche Potential der Revolution ersticken, statt es zu fördern: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit [...] Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Machtkampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in dem die Bürokratie allein das tätige Element bleibt.“4

In den zwanziger Jahren stand für die Bolschewisten der Begriff „Sozialismus“ für ein Projekt und nicht für die Realität der UdSSR, die sie als Übergangsgesellschaft auf dem Weg zum Sozialismus begriffen. Nach der „physischen Liquidierung der Bourgeoisie als Klasse“ und der Zwangskollektivierung Ende der zwanziger Jahre erklärte Stalin den Sozialismus für verwirklicht. Die Bürokratie der Staatspartei erschien in keiner offiziellen Statistik. Sie herrschte im Namen und auf dem Rücken der Arbeiter, denen eine bessere Zukunft versprochen wurde. Über mehrere Jahrzehnte hinweg verschaffte sie der Bevölkerung trotz der beträchtlichen Kosten für Mensch und Natur eine reale Verbesserung des Lebensstandards und eine (missliche) Vollbeschäftigung – für alle, die zu kuschen bereit waren.

Der bürokratische Konservatismus eroberte den riesigen Staats- und Parteiapparat. Die daraus resultierenden sozialen Beziehungen, in denen die Individuen wie die gesellschaftlichen und nationalen Gruppen im Namen eines vorgeblich kollektiven Wohlstands unterdrückt und jeder Verantwortung entbunden wurden, entwickelten sich in den sogenannten sozialistischen Ländern innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem absoluten Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte. Das führte zu einer revolutionären Situation, um mit Marx zu sprechen.

Keine reale Alternative

HINTER dem Rücken der Einheitspartei konnten sich die unterdrückten Ideen und gesellschaftlichen Fragestellungen in ihrer ganzen Bandbreite entfalten, zum Guten wie zum Schlechten. Zu einer Revolution fehlte allerdings ein entscheidender Faktor: eine aktive soziale Bewegung im Sinne eines kohärenten Projektes. Die Bedeutung dieses historisch einmaligen Phänomens – die fehlende gesellschaftliche Basis für den „Übergang“ – lässt sich erst heute richtig ermessen. Das Fehlen klarer gesellschaftlicher Konzepte ist entgegen anderslautenden Behauptungen nicht darauf zurückzuführen, dass die Bevölkerung nicht rebellieren konnte, weil sie zu „bevormundet“ gewesen wäre. Wiederholt stand das System angesichts eines Aufstandes an einem Scheideweg. Doch wer immer sich individuell oder in einer sozialen und politischen Bewegung im Namen des Sozialismus gegen Bürokratie und Diktatur auflehnte, wurde unterdrückt – wiederum im Namen des Sozialismus. Die „rote Bourgeoisie“ im selbstverwalteten Jugoslawien wurde ebenso bekämpft wie 1956 die Bewegung der Arbeiterräte in Ungarn und Polen und 1968 der Prager Frühling. Auch Wojciech Jaruzelski, der in Polen im Namen der Arbeiterklasse die mehrere Millionen Mitglieder umfassende Gewerkschaft Solidarnosc unterdrückte, war ein „kommunistischer“ General. Bei aller ideologischen Heterogenität hatte Solidarnosc noch 1980 eine „selbstverwaltete Republik“ gefordert, und keine Privatisierungen. Das erklärt, warum Polen beim Umkippen des „Übergangsprozesses“ in einen Privatisierungsprozess eine Schlüsselrolle hatte und immer noch hat. Um diesen Übergang zu erleichtern, konnte Polen denn auch einen Schuldennachlass und einen Fonds zur Stabilisierung des Zloty in Anspruch nehmen.

Gleichwohl ist hauptsächlich die „kommunistische“ Unterdrückung dafür verantwortlich, dass die politischen Konzepte so durcheinander gerieten, dass sich in den achtziger Jahren viele Leute in Polen als „rechts“ bezeichneten, wenn sie als fortschrittlich gelten wollten. Oder dass in der Tschechoslowakei 1968 der Begriff „Imperialismus“ nicht die Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato) bezeichnete, sondern die Truppen des Warschauer Paktes. Davon profitiert das Atlantische Bündnis noch heute, während der Warschauer Pakt längst nicht mehr existiert.

Um die ersehnten Freiheiten zu erlangen, wandten sich die Osteuropäer folglich dem Westen zu. Nachdem in den achtziger Jahren ihre mageren sozialen Errungenschaften real abgebaut worden waren, wollten sie schlicht und einfach besser und freier leben. Als konkretes Modell stand ihnen dabei eher Schweden oder die deutsche soziale Marktwirtschaft vor Augen – die heute im Gefolge der deutschen Vereinigung und der Abwanderung der Industrie in Richtung Osteuropa ihrem Abriss entgegensieht. Man versprach ihnen die Erfüllung ihrer Wünsche über den Markt und die Privatisierungspolitik. Die Zeit der ideologischen „-ismen“ gehöre der Vergangenheit an. Nun gehe es um den „Anschluss an die zivilisierte Welt“. Man wollte leben „wie alle anderen auch“. Auf den Fall der Diktaturen und der Berliner Mauer wurde mit Champagner angestoßen. Aber wie sieht es heute, nach einem Jahrzehnt der „systemischen Veränderungen“ aus?

Ist die Russlandkrise eine Ausnahme, die sich im Wesentlichen nur auf Nachbarstaaten der ehemaligen UdSSR wie die Ukraine auswirkt? Die Analysen und Zahlen des „Tableau de bord des pays d'Europe centrale et orientale 1998“5 stimmen zuversichtlich, auch wenn die Schwierigkeiten insbesondere der Balkanländer nicht verschwiegen werden. „Für die Länder Mittel- und Osteuropas haben die marktwirtschaftlichen Methoden relativ gut gegriffen, zumal dort bereits Strukturen und Einrichtungen für den Übergang zum Markt bestanden“, schreibt Jean-Pierre Pagé. „In Russland und der Ukraine, wo Wirtschaft und Bevölkerung unvorbereitet waren, sind dieselben Methoden dagegen gescheitert und waren zum Teil sogar kontraproduktiv.“

Tatsächlich verzeichnen die Länder Zentraleuropas seit 1993/94 wieder ein positives Wachstum ihrer Bruttoinlandsprodukte, während in Russland das Wachstum (am Produktionsvolumen gemessen) gegenüber 1991 auf die Hälfte zurückgegangen ist. Jacques Rupnik unterstreicht, wie überholt mittlerweile das geflügelte Wort sei: Wenn Russland niest, bekomme der Osten die Grippe: „Der demokratische Wandel und der Übergang zur Marktwirtschaft in Zentraleuropa sind nach ihrer inneren Logik und ihrem Rhythmus relativ autonom und deutlich verschieden von der Metropole des ehemaligen Imperiums.“6

Doch diese Urteile sind diskussionsbedürftig. Die Szenarien mögen sich im Einzelnen unterscheiden, was auch für die unterschiedliche Ausgangslage vor dem Übergang gilt, aber die Gemeinsamkeiten sind doch zahlreicher, als man denkt. In keinem Land war die Bevölkerung auf die sozialen Verschlechterungen, die auf sie zukamen, „vorbereitet“. Zudem kommt die Politik des sozialen Zerfalls, die bei Wahlen entsprechend honoriert wird, überall „Mitte-links“-Koalitionen zugute, in denen die ehemaligen Kommunisten – jeweils unterschiedlich etikettiert – eine gewichtige Rolle spielen. Doch die (übereinstimmende) praktische Politik der Regierungen hat regelmäßig früher oder später zur Folge, dass man vor allem auf die Zwänge und Forderungen des westlichen Liberalismus reagiert.

Die Politik in den einzelnen Ländern wird sich damit immer ähnlicher. Überall scheint die Entwicklung heute auf einen „Regierungswechsel ohne reale Alternativen“7 hinauszulaufen. Bei der wachsenden Enttäuschung der Menschen droht ein Zulauf für die nationalistische und populistische extreme Rechte. Denn in allen Ländern kann sich eine Minderheit auf Kosten der Mehrheit bereichern und ein angenehmes Leben führen, während für die Massen der Schock „so tief sitzt wie nirgendwo in der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg“, wie Jean-Yves Potel feststellt.8 Potel zitiert einen Bericht der Unicef, wonach „Art und Ausmaß der erfolgten Veränderungen – unabhängig von ihrer Ursache – beispiellos und, relativ gesehen, einschneidender sind als derjenigen in Lateinamerika und Afrika während des 'verlorenen Jahrzehnts‘ der achtziger Jahre.“ Zunehmende Armut, Arbeitslosigkeit und enorme Unterschiede im Lebensstandard sind allgegenwärtig. Vor den Geschäften sieht man keine Schlangen mehr, die von einem knappen Angebot künden, dafür gibt es jetzt in den Geschäften eine große Auswahl teurer Waren, die für die meisten Menschen unerschwinglich sind.

Mit dem Wiedereinsetzen des Wachstums hat sich beispielsweise in Polen die Kluft zwischen arm und reich wie auch zwischen den Regionen vertieft. Der Markt soll diese Unterschiede ausgleichen, aber das funktioniert höchstens in den gängigen theoretischen Modellen. Zwar lassen sich bei diesen Ländern (gemessen an Wachstumstempo und Stabilität des Transformationsprozesses) mehrere Gruppen unterscheiden, aber diese sind keinesfalls durch eine Chinesische Mauer getrennt, und zudem sind die Fakten nicht einfach zu interpretieren. So wurden etwa im ehemaligen Jugoslawien die marktwirtschaftlichen Reformen viel früher als in den RGW-Ländern eingeführt, aber die Nachfolgestaaten stehen – mit Ausnahme Sloweniens – keineswegs besser da. In der Tschechoslowakei hielt sich nach dem Prager Frühling eines der autoritärsten Regime, und dennoch ist Tschechien heute eines der fünf Länder, die von der EU-Kommission Anfang 1998 in die Gruppe der „fortgeschrittensten“ Beitrittskandidaten aufgenommen wurden.9 Slowenien weist den höchsten Lebensstandard auf, obwohl es die Privatisierungen langsamer betrieben hat. Und unabhängig von der Parteizusammensetzung und dem erreichtem Übergangsniveau gilt für die Regierungen von Russland bis Tschechien, dass sie ihre Glaubwürdigkeit aufgrund derselben Finanzierungsmethoden und derselben Korruption eingebüßt haben. Erst kürzlich ist in Tschechien ein Skandal aufgeflogen, bei dem ein holländisches Unternehmen Schmiergelder in Höhe von 5,7 Millionen Euro gezahlt haben soll, um bei der Privatisierung der tschechischen Telefongesellschaft zum Zuge zu kommen.10

Es ist keineswegs ausschließlich positiv zu werten, dass sich die mittel- und osteuropäischen Länder massiv auf die Europäische Union (EU) umorientiert haben, mit der sie mittlerweile über 50 Prozent ihres Handels abwickeln.11 Denn damit bekommen sie auch die Kehrseite dieser neuen Abhängigkeit zu spüren. Das ausgesprochen schwache Wachstum der Fünfzehn führte zu einem Exporteinbruch, während die Importe aus der EU stark zugenommen haben. So verzeichnen alle mittel- und osteuropäischen Länder ein beunruhigendes Handelsbilanzdefizit. In Polen wird das Problem zusätzlich durch den Import von (hochgradig volatilem) ausländischem Kapital verschärft, was den Wechselkurs in die Höhe treibt. Die Anpassung an die Kriterien der EU hat bereits zu einer erhöhten Instabilität der Region geführt.

Wo bleibt das Kapital?

DER Wettlauf um die Einbindung in die kapitalistische Welt, um die Aneignung von Reichtümern, die gegen Devisen exportierbar sind, kurz: um die Kontrolle über die Territorien und die Staatsmacht, die das Privatisierungsprogramm betreibt, hat den Zerfall der Bundesstaaten grundlegend geprägt. Ein Ende dieses Prozesses ist weder in Russland noch in der jugoslawischen Föderation (Serbien und Montenegro) erreicht. Zwar ging es bei den nationalen und internationalen Konflikten niemals explizit um Forderungen, die sich auf den Zugang zum Meer (Dagestan, Montenegro und Kroatien), auf die Kontrolle über Bergwerke (Kosovo), auf Erdölvorkommen (Kaspisches Meer) oder auf Pipeline-Routen bezogen, aber diesen wird natürlich neue Nahrung gegeben. In der Tschechoslowakei gab es keinen Krieg, und dennoch gehorchte der Zerfall der Föderation derselben sozioökonomischen Logik. Auch Tschechien wollte die Slowakei loswerden, so wie auch Slowenien und Kroatien die weniger entwickelten Regionen Jugoslawiens, deren internationale Marktposition schwächer war, loswerden wollten. Und sehen wir nicht ähnliche Tendenzen auch in der Lombardei und in Flandern?

Zudem ist ein aus dem früheren System mitgebrachtes hohes Entwicklungsniveau günstiger für die Integration in die EU wie auch attraktiver für ausländische Investoren. Das alles verschärft die Unterschiede, zerstört die Solidarität und bestärkt die separatistischen Bestrebungen der reichsten Regionen bzw. Länder. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, dass sich immer mehr Zulieferbetriebe für multinationale Unternehmen, die sich auf den EU-Markt orientierten, in diese Beitrittsländer verlagern. Gewiss mag die Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft die politische und soziale Stabilität vorübergehend fördern. Aber weil diese Perspektive mit der Aussicht auf weitere „Opfer“ verbunden ist, entwickelt sich in der öffentlichen Wahrnehmung ein zunehmend trübes Bild der Union, was heute bereits für Polen12 , Tschechien und Slowenien gilt.

Die Zahlen über den Fortgang der Privatisierungen in Russland, der Tschechischen Republik, Rumänien, Polen und anderswo entsprechen weitgehend den Erwartungen der ausländischen Gläubiger, des IWF und der EU-Kommission. Diese Länder wollen unbedingt „beweisen“, dass man sich auf dem richtigen Weg befindet. Also werden auch Bereiche privatisiert, die im alten Rahmen gut funktioniert haben, wie etwa die ungarische Landwirtschaft und das slowenische Gesundheitswesen; aber auch Bereiche, die gar kein Kapital anziehen. In Wirklichkeit vollzieht sich die kapitalistische Restauration – um das Ding beim Namen zu nennen – in einem historisch einzigartigen Kontext: Obwohl die ehemaligen „kommunistischen“ Bürokraten scharenweise ins Lager der Privatisierer übergelaufen sind, um ihre ehemals funktionsbedingten Privilegien in Privilegien des Eigentums umzuwandeln, fehlt es dem entstehenden Kapitalismus an Kapital und an einer „organischen“ Bourgeoisie. Der Aufbau eines realen Marktes für Produktionsmittel (Arbeit und Kapital) stößt auf zwei Hindernisse: erstens die Widersprüche, die sich aus dem globalen Kontext ergeben (die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Multis), zweitens die erheblichen sozialen Kosten dieser „Transformation“. Der Kapitalmangel ist nur die eine Ursache, die das Privatisierungsprogramm erschwert. Die andere liegt in den sozialen Funktionen, welche die Großunternehmen innerhalb des Systems wahrgenommen haben.

Im Rahmen des früheren Systems hatte das Eigentum einen Zwittercharakter. Es war weder privat noch rein staatlich, was bedeutet, dass es häufig einer rechtlichen Umwandlung bedarf, damit der Staat zum tatsächlichen Eigentümer wird und seinen Besitz verkaufen kann. Das Eigentum war auch nicht wirklich „vergesellschaftet“, geschweige denn von den Arbeitern kontrolliert. Bei dieser Zwitterform eines allen und niemandem gehörenden Eigentums konnte auch das Geld nicht wie „Kapital“ funktionieren, mit dem Produktionsmittel gekauft werden können. So wurden etwa in der Sowjetunion zwei Arten von Rubel unterschieden: Im Warenverkehr (Maschinen, Rohstoffe, Halbfertigprodukte) zwischen den Staatsbetrieben gab es den Verrechnungsrubel, der es erlaubte, einen im Wesentlichen in Naturalien kalkulierten Plan, in dem Stahlmengen, Produktionsvorgaben für Traktoren, Lieferanten usw. durch die Verwaltung festgelegt wurden, in Preisform auszudrücken. Mit diesem Rubel ließen sich aber keine realen Ein- und Verkäufe tätigen. Die Verschleierung von Ressourcen und die Entstehung paralleler Verteilernetze waren einerseits Ausdruck dieser offiziellen Unmöglichkeit, andererseits der Mechanismen, mit dem sich diese Zwänge umgehen ließen.

Der andere Rubel zirkulierte mehr recht als schlecht als Zahlungsmittel. Er wurde in Form von Löhnen ausgezahlt, für die man Konsumgüter kaufen konnte. Mit diesem Rubel ließen sich jedoch weder Betriebe noch Rohstoffe kaufen. Und natürlich gab es auch keinen Wertpapiermarkt. Die Bürokraten konnten keinerlei Aktienbesitz an ihre Nachkommen übertragen, denn auch das Bankensystem funktionierte nur als ein Instrument des Plans.

Die Privilegien der Bürokratie beschränkten sich also im Wesentlichen auf den Konsum (Exklusivläden, Reisen, Zugang zu einer hochwertigen Krankenversorgung etc.). Das hat ganz entscheidende Folgen: Eine „ursprüngliche Kapitalakkumulation“ findet im Grunde erst heute statt, im Zuge der Monetarisierung dieser Volkswirtschaften. Sie ging dem kapitalistischen Wandel nicht voraus, konnte ihn also nicht vorbereiten. Selbst die mafiosen Verbindungen und Parallelstrukturen, die es im alten System schon gab, können sich erst heute voll entfalten.

Was die auf Sparkonten liegenden Gelder betrifft, so besagen die Schätzungen, dass sie allenfalls 20 Prozent des Wertes der zu privatisierenden Güter abdecken. In der Praxis hat eine Privatisierung durch Direktverkäufe vor allem in Ungarn stattgefunden, wo sich das ausländische Kapital die besten Stücke herauspicken konnte, da es über die nötige Kaufkraft verfügt. Deshalb zog Ungarn auch rund die Hälfte aller direkten Auslandsinvestitionen an, die in den gesamten Ländern Zentral- und Osteuropas und der ehemaligen UdSSR getätigt wurden. In den anderen Ländern wurden die Unternehmen auf verschiedene Weise in die Rechtsform der Aktiengesellschaft umgewandelt, deren Hauptaktionär der Staat war und meist noch immer ist. Danach kam es dann zu verschiedenen Formen von „Massenprivatisierungen“ der Aktienmehrheit. An die Bevölkerung oder an die Belegschaften wurden Gutscheine verteilt, die zum Kauf von Aktien berechtigten. Die Besitzer konnten ihre Gutscheine weiterverkaufen, in Aktien anlegen oder Investitionsfonds anvertrauen. Oft hofften die zu Aktionären gewordenen Arbeiter, sich damit gegen die ausländischen Eigentümer schützen und ihre Arbeitsplätze erhalten zu können. Dagegen versprachen sich die „Experten“ eine Eigentumskonzentration mit „echten Besitzern“, die in der Lage wären, die Verwaltung zu straffen, also Entlassungen durchzusetzen. Für sie hatten diese Massenprivatisierungen eine doppelte Funktion: Erstens sollte die Bevölkerung dazu gebracht werden, die Privatisierungen zu schlucken, und zweitens sollten die liberalen Prinzipien umgesetzt werden, obwohl es an realem Kapital mangelte.

Ob und in welchem Grade sich das Management tatsächlich verändert hat, hängt von einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Faktoren ab. Die Schlüsselrolle spielt dabei das neue Bankensystem. Wenn sich dieser Sektor dem Auslandskapital öffnet, wie es vor allem in Ungarn und Polen der Fall ist, tendiert dieses zu einem „harten“ Durchgreifen. Sind die Banken dagegen, wie in Tschechien, die wichtigsten nationalen Aktionäre der umzustrukturierenden Unternehmen und gleichzeitig ihre Kreditgeber, finden keine Umstrukturierungen statt. Das neue Bankensystem ist überall mehr oder weniger stark durch „zweifelhafte Forderungen“ an Unternehmen belastet, die nach wie vor unterstützt werden. Anders sieht es aus, wenn die neuen Banken versuchen, Profit zu machen. Dann gewähren sie, wie es in Russland in großem Stil passiert, den Unternehmen keine Kredite mehr und engagieren sich lieber im Ausland, etwa in spekulativen Geschäften mit Staatspapieren.

Das Haupthindernis, das den Umstrukturierungen im Wege steht, sind jedoch die damit verbundenen sozialen und somit politischen Kosten. Diese Kosten werden durch ein weiteres Erbe des alten Systems erhöht: Das Existenzniveau der „Werktätigen“ sowjetischen Typs war nicht nur vom Geldeinkommen abhängig. Um die Vorgaben des Plans zu erfüllen und die dafür nötige Arbeitskraft zu mobilisieren, boten die Unternehmensleiter neben den mageren Löhnen bestimmte elementare Gratifikationen wie Kinderkrippen, Wohnungen, Spezialkliniken, Ferienlager und Firmenläden. Ein Großbetrieb war damit ein Ort der „Sozialisierung“ der Arbeiter, der manchmal die soziale Grundstruktur für eine ganze Region darstellte.

Heute weiß man, dass sich im Schatten der russischen Krise viele dieser nichtmonetären Leistungen erhalten haben, wenn auch mit reduzierter Qualität. Für die Direktoren sind sie ein Mittel zur Abfederung der sozialen Härten, die entstehen, wenn sie die Löhne nicht auszahlen können – wobei die einbehaltenen Lohnsummen zuweilen auch für einträgliche Finanzgeschäfte eingesetzt werden. Phänomene wie Tauschhandel und das Nichtbezahlen von Schulden zwischen den Unternehmen, von Löhnen und von Steuern haben in Russland beträchtliche Dimensionen angenommen.13

Auch in Tschechien verbirgt sich hinter den Privatisierungen der Großbetriebe und der relativ geringen Arbeitslosigkeit die Tatsache, dass enorme Rechnungssummen nicht bezahlt werden und die Betriebe nicht nach kapitalistischen Rentabilitätskriterien umstrukturiert wurden. In Polen gibt es zwischen den einzelnen Regionen und Branchen je nach Betriebsgröße und Produktionsform erhebliche Unterschiede. Die Probleme der Transformation werden aber auch drastisch durch das Wohnungsproblem verschärft, wenn Wohnungen nicht privatisiert und „externalisiert“, also vom Arbeitsplatz entkoppelt wurden.

Als Puffer, die mögliche soziale Unruhen abfedern, funktionieren in all diesen Ländern die verbreitete Schattenwirtschaft, die Beibehaltung alter Formen von nichtmonetären (wenngleich verschlechterten) Leistungen und die Krise selbst. Letztere zwingt die Menschen, mehrere kleine, nicht registrierte Jobs anzunehmen oder auf ihren kleinen Privatparzellen Gemüse anzubauen, um ein Arbeitslosengeld zu ersetzen oder, wie in Russland, aufzubessern. Die früheren Gewerkschaften sind zwar immer noch sehr bürokratische Gebilde, verfügen aber noch über die Macht, nichtmonetäre Leistungen zu verteilen. Die neuen „unabhängigen“ Gewerkschaften mit ihren rasch korrumpierten Führungen sind oft zu Transmissionsriemen der neoliberalen Politik geworden.

Der wirtschaftliche, gesellschaftliche, ökologische und politische Schaden, den das ehemalige System angerichtet hat, wird unentwegt registriert und bemessen. Aber mit welchem Maßstab und nach welchen Kriterien? Und wer hat das Recht, Art und Ausmaß der notwendigen Veränderungen zu bestimmen? Wenn die alte Vollbeschäftigung schlecht war, soll dann die neue Arbeitslosigkeit gut sein? Was ist gewonnen, wenn es keine Schlangen mehr vor den Geschäften gibt, aber unerschwingliche Waren in den Schaufenstern liegen? Wenn die Ausweitung von Markt und Geld letzten Endes nicht dazu führt, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich besser mit Waren und Dienstleistungen versorgen kann, sondern nur einer Minderheit zugute kommt, die sich noch mehr Wertpapiere und Luxusgüter kaufen kann, dann steuern wir auf soziale Unruhen zu, die energische Rechtsextremisten, die der „kosmopolitischen“ Globalisierung feindlich gegenüberstehen, zu ihren Zwecken ausnutzen könnten.

Solche Probleme gibt es allerdings nicht nur in den Ländern der „Transformation“, sie stellen sich weltweit. Wir alle sitzen im gleichen Boot der neoliberalen Globalisierung. Durch „Euroland“ wird dieser Prozess zur Zeit beschleunigt. Die Integration von Währungen und Armeen vor dem Hintergrund einer strengen Haushaltspolitik und der Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen ist nicht unbedingt das Rezept, um ein offenes Europa aufzubauen. Ein Europa, dessen Stabilität darauf beruht, dass sich die Lebensstandards annähern, dass sich gleichberechtigte Formen der Kooperation entwickeln und das Recht der Völker gewahrt bleibt, über ihre Zukunft zu bestimmen.

Zumindest sollten wir so viel Anstand wahren, uns der neokolonialen Heuchelei und Arroganz unserer Regierenden und ihrer Institutionen zu verweigern, die unweigerlich eine Art von Verbitterung provoziert, die in der Klage des kroatischen Schriftstellers Predag Matvejevic zum Ausdruck kommt: „Wir wollten, dass sich unsere Grenzen nach Europa öffnen, und nun ist es Europa, das die Öffnung der Grenzen in Frage stellt; wir haben für eine gewisse Würde in den Beziehungen zwischen Menschen und Völkern plädiert [...], aber was wir heute sehen, ist entweder die Verachtung der westlichen Welt für die Armseligkeit der östlichen Länder oder aber die Demutshaltung des Ostens, der zum Bittsteller gegenüber dem Westen wird.“14

dt. Birgit Althaler

* Dozentin an der Universität Paris-Dauphine, assoziierte Forscherin am Roses-Zentrum (Centre Reformes et Ouvertures des systèmes économiques [post]socialistes) des staatlichen Forschungsinstitutes CNRS, Autorin von „Die Zerstörung Jugoslawiens. Ein europäischer Krieg“, aus dem Franz. von B. Althaler, Köln (Neuer Isp-Verlag) 1995.

Fußnoten: 1 Die letztjährige Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an den indischen Ökonomen Amartya Sen, der wiederholt die vorherrschende Trennung von Ethik und Wirtschaft kritisiert hat, war ein erfreuliches Ereignis. Könnte es sein, dass sich die Jury nach der asiatischen, russischen und brasilianischen Finanzkrise geniert hat, denselben Preis für 1997 an zwei Männer verliehen zu haben, die für die Computersimulation von Börsenspekulationen ausgezeichnet wurden, die wenige Monate später fast zum Crash des Unternehmens Long Term Capital Management (LTCM) geführt hätte? 2 Catherine Samary, „Propriété, Etat, démocratie. Du Manifeste communiste à la crise de l'URSS“, La Pensée, Nr. 317, Januar/Februar/März, Paris 1999. Siehe auch Ramine Mohamed-Nejad (Hg.), „URSS et Russie. Rupture historique et continuité économique“, Paris (PUF, coll. „Actuel Marx Confrontation“) 1997. 3 Leo Trotzki, „Verratene Revolution“, in Trotzki, „Schriften“, Bd. 1.2, Hamburg (Rasch und Röhring) 1988, S. 715, 699 und 761. 4 Rosa Luxemburg, „Politische Schriften“, Bd. III, hg. von Ossip K. Flechtheim, Frankfurt/M. (Europäische Verlagsanstalt) 1986, S. 134 und 136. 5 Jean-Pierre Pagé (Hg.), „Tableau de bord des pays de l'Europe centrale et orientale – 1998“, Paris (Les Etudes du Ceri, Fondation nationale des sciences politiques) 1998; darin: Jean-Pierre Pagé, „Panorama économique“, S. 5. Siehe ebenfalls Edith Lhomel und Thomas Shreiber (Koord.), „L'Europe centrale et orientale“, Paris (Etudes de la Documentation française) 1999; sowie Roberte Bertonj-Hogge und Marie-Agnes Crosnier (Koord.), „Les pays de la CEI“, Paris (Etudes de la Documentation française) 1998. 6 Jacques Rupnik, „Paysage est-européen après la crise russe“, in „Tableau de bord“, a.a.O., S. 15. 7 Siehe Bruno Drewski, „Les paysages politiques du post-communisme“, in Violette Rey (Hg.), „Les territoires centre-européens. Dilemmes et défis – L'Europe médiane en question“, Paris (La Découverte) 1998. 8 Siehe Jean-Yves Potel, „Les Cent portes de l'Europe centrale et orientale“, darin der Artikel über die Armut, S. 214ff., Paris (Editions de l'Atelier) 1998. 9 Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowenien und Estland (das sechste Beitrittsland der ersten Runde, die Republik Zypern, ist kein Transformationsland). 10 „L'Europe centrale et orientale“ – 1999, Etudes de la Documentation française, a. a. O., S. 173. 11 Nicolas Meunier, „L'inquiétant creusement des déficits commerciaux de l'Europe de l'Est“, Flash, Nr. 99-02, 11.1.1999, CDC. 12 Siehe Robert Soltyk, „In Polen hadern alle mit Europa“, Le Monde diplomatique, Februar 1999. 13 Siehe Yves Zlotowski, „La crise des paiements en Russie“, Les Etudes du Ceri, Nr. 43, August 1998, Paris (Fondation nationale des sciences politiques). 14 Predag Matvejevitch, „Entre asile et exil: Epistolaire russe“, Bibliothèque cosmopolite, Paris (Stock) 1995.

Le Monde diplomatique vom 12.11.1999, von CATHERINE SAMARY