Allahs Goldene Horde
Von AHMED RASHID *
ZWANZIG Jahre Chaos und Krieg in Afghanistan haben einen Konflikt über die Landesgrenzen hinausgetragen, der die gesamte Region polarisiert: Pakistan und Saudi-Arabien unterstützen die Taliban, während der Iran, Russland, Indien sowie vier zentralasiatische Staaten (Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan) den zur „Nordallianz“ zusammengeschlossenen Taliban-Gegnern Beistand leisten. Islamisten, die in Afghanistan Stützpunkte unterhalten, ist das sittenstrenge Regime der Taliban ein Vorbild, dem sie nacheifern wollen, sobald sie in ihren Herkunftsländern die Machthaber gestürzt haben. Bei den Taliban finden diese Gruppen nicht nur Zuflucht, sondern auch logistische und militärische Unterstützung.
Die Taliban, die ethnisch überwiegend Paschtunen sind, traten erstmals 1994 auf dem Kriegsschauplatz Afghanistan in Erscheinung. Ihre Bewegung rekrutierte sich aus Koranschülern islamischer Lehranstalten, die in den pakistanischen Flüchtlingslagern eingerichtet worden waren. Es war ihr erklärtes Ziel, den schrecklichen Bürgerkrieg zu beenden, der 1989 nach dem Abzug der sowjetischen Truppen ausgebrochen war und in dem die Paschtunen (die im Süden und Osten die Bevölkerungsmehrheit bilden) seit nunmehr zehn Jahren gegen die ethnischen Minderheiten aus dem Norden (Tadschiken, Usbeken, Turkmenen und Hasara) kämpfen. 1998 gelang es den Taliban, einen großen Teil des afghanischen Nordens zu erobern und die gegnerische Nordallianz auf einen schmalen Gebietsstreifen im Nordwesten zurückzudrängen.
Diese militärischen Erfolge führten zu heftigen Konfrontationen in der Region, vor allem zwischen Afghanistan und dem Iran. Dabei spielt auch der gnadenlose Hass eine Rolle, den das Taliban-Regime gegenüber dem schiitischen Islam zeigt. Obwohl 90 Prozent der Afghanen der sunnitischen Glaubensrichtung anhängen, liegen die Gründe für die Schiitenverfolgung nicht in den sunnitischen Traditionen des Landes. Afghanistan gehörte zwar stets zu den muslimischen Ländern, die zutiefst konservativ geprägt waren, doch der Islam erwies sich auch hier als tolerant. So konnten bis 1992 Hindus, Sikhs und Juden eine bedeutende Rolle in Handel und Wirtschaft spielen.
Das Auftauchen der Taliban ist eng verknüpft mit dem Zerfall Afghanistans in Gebiete, die von einzelnen Warlords kontrolliert wurden. Nach Jahren des inneren Konfliktes und des Verfalls der alten Gesellschaftsstrukturen war die Vorherrschaft der Paschtunen geschwächt, das Land befand sich im Niedergang. Einer alten, in der Geschichte der Muslime immer erneuerten Tradition folgend, traten die Taliban zunächst als Erneuerungsbewegung auf und beriefen sich auf den Dschihad. Diese Pflicht, für den Glauben zu kämpfen, bedeutet jedoch keineswegs, andere Muslime zu töten, nur weil sie einer Sekte oder einer anderern ethnischen Gruppe angehören. Dass die Taliban einen unnachgiebigen Krieg im Innern führten, wurde von zahlreichen islamistischen Organisationen verurteilt und brachte die Nichtpaschtunen zu der Überzeugung, dass es sich um einen Vernichtungsfeldzug handele, bei dem die Religion nur als Vorwand diene.
Die Taliban stützen sich auf eine zugespitzte und abwegige Interpretation des Deobandi-Islam, die vor allem in einer restriktiven und zweifelhaften Auslegung der Scharia besteht. Die Deobandi, eine islamische Reformbewegung, waren in Indien während der Kolonialherrschaft entstanden und mit dem Anspruch aufgetreten, die sunnitische muslimische Gemeinschaft zu stärken. Damals wurden auch in Afghanistan Koranschulen der Deobandi eingerichtet, die jedoch nicht allzu populär waren. Nach der Teilung Indiens, 1947, fanden sie jedoch in Pakistan immer mehr Verbreitung. Hier gründeten die Deobandi die Dschamiat-i Ulema Islami (JUI), die in den neunziger Jahren erheblichen Einfluss erlangte. Die JUI spielte zwar keine aktive Rolle im Afghanistankrieg, aber sie nutzte den Konflikt, um überall in den paschtunischen Siedlungsgebieten Pakistans, in der Nordwestlichen Grenzprovinz und in Belutschistan Hunderte von islamischen Bildungseinrichtungen zu schaffen. Die Mullahs, die diese Deobandi-Koranschulen führten, konnten oft kaum lesen und schreiben und wussten wenig von der ursprünglichen Botschaft ihrer Sekte. Geldmittel und Hilfe aus Saudi-Arabien führten dazu, dass sich ihre Vorstellungen mit der Zeit dem Wahhabismus1 annäherten.
Die eher unbedeutende und politisch isolierte JUI verbündete sich 1993 mit der Pakistanischen Volkspartei (PPP) von Benazir Bhutto und beteiligte sich nach deren Wahlsieg an einer Koalitionsregierung. Danach spielte die JUI mit ihren diversen Unterorganisationen eine der wichtigsten Rollen bei der Rekrutierung von pakistanischen Studenten und anderen Freiwilligen für die Sache der Taliban. Die Milizionäre werden von Pakistan militärisch und logistisch unterstützt, aber ihr wachsender Einfluss in der Gesellschaft bedeutet zugleich eine Bedrohung der Stabilität des Landes.2
Der Staatsstreich vom 12. Oktober 1999, bei dem Ministerpräsident Nawaz Sharif vom Militär abgesetzt wurde, ist die jüngste einer Reihe von schweren wirtschaftlichen und politischen Krisen, von denen Pakistan immer wieder erschüttert wird. Die staatlichen Institutionen des Landes spielen kaum noch eine Rolle, die Gesellschaft ist durchzogen von Frontlinien zwischen Glaubensrichtungen und ethnischen Gruppen. In den paschtunischen Regionen, in Belutschistan, aber auch in der Nordwestprovinz haben die pakistanischen Nachfolgeorganisationen der Taliban erheblichen politischen Einfluss.
Das pakistanische Militär hält eine afghanische Regierung, die Pakistan freundlich gesonnen ist, für einen wichtigen strategischen Vorteil in der riskanten Konfrontation mit Indien. Außerdem gewähren die Taliban, die Deobandi-Gruppen in Pakistan und das „Bin-Laden-Netzwerk“3 den muslimischen Aufständischen, die in Kaschmir gegen Indien kämpfen, uneingeschränkte Unterstützung.4 Obwohl diese Unterstützung die konfessionellen Konflikte im eigenen Land anheizt, kann Pakistan die Allianz nicht aufgeben, ohne sich Nachteile in der Auseinandersetzung um Kaschmir einzuhandeln.
Usama Bin Laden und der Drogenhandel
MIT ihren durchlässigen Grenzen, wirtschaftlichen Problemen und einem ineffektiven Sicherheitsapparat fürchten die fünf muslimischen Republiken Zentralasiens ein Übergreifen der Unruhen. Mit Ausnahme Turkmenistans, das sich für neutral erklärt hat, unterstützen diese Länder die afghanische Nordallianz. Für deren Führer, Ahmed Shah Massud, ist der Süden Tadschikistans ein wichtiges Hinterland, aus dem er Waffen russischer und iranischer Herkunft bezieht.
Als Reaktion auf diese Politik erlaubten die Taliban dem Führer der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU), Tahir Juldaschew, in der Nähe von Masar-e Scharif, wenige Kilometer von der usbekischen Grenze, ein militärisches Ausbildungslager einzurichten, wo einige hundert Milizionäre aus Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan, aber auch uigurische Unabhängigkeitskämpfer aus der chinesischen Provinz Xinjiang trainiert werden. Juldaschew wird in Usbekistan gesucht, weil er im Februar ein gescheitertes Attentat auf Präsident Islam Karimow organisiert haben soll. Ein Auslieferungsersuchen Usbekistans wurde von den Taliban im Juni abgewiesen, die zugleich behaupteten, die IMU in keiner Weise zu unterstützen.
Enge Beziehungen zu den Taliban unterhalten auch die beiden für den jüngsten Vorstoß nach Dagestan verantwortlichen Rebellenführer, der Jordanier Chattab (ein ehemaliger „Afghane“) und der Führer der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung, Schamil Bassajew. Das Gleiche gilt für iranische Dissidentengruppen, die vom Irak aus operieren.
Die chinesischen Behörden behaupten, die uigurische Guerilla verwende Waffen und Sprengstoff aus Afghanistan. Auch in diesem Fall streiten die Taliban jede Beteiligung ab, es ist jedoch bekannt, dass uigurische Kämpfer an Aktionen von Juldaschew und Bin Laden beteiligt sind. China befürchtet nicht nur die Ausbreitung des Islamismus, sondern auch, dass sich in der Provinz Xinjiang der Handel mit afghanischem Heroin etabliert.
In den achtziger Jahren war Usama Bin Laden entscheidend an der Anwerbung jener etwa 35 000 militanten Islamisten aus arabischen, afrikanischen und asiatischen Ländern beteiligt, die dann an der Seite der afghanischen Mudschaheddin gegen die Rote Armee kämpften. Wie zahlreiche andere arabische Aktivisten, die sich in diesem Krieg engagierten, genoss er die Unterstützung US-amerikanischer Stellen, vermutlich der Geheimdienste. Die Regierung Reagan unterstützte, in Abstimmung mit ihren Verbündeten Pakistan und Saudi-Arabien, die radikalsten Mudschaheddin-Bewegungen mit Geld, Logistik und Ausbildung. Doch am Ende des Krieges kam es zum Bruch zwischen diesen „Afghanen“ und den Vereinigten Staaten.
Als Bin Laden 1996 nach sechsjähriger Abwesenheit nach Afghanistan zurückkehrte, knüpfte er freundschaftliche Beziehungen zu Mullah Mohammad Omar, dem obersten Führer der Taliban. Bin Laden stellte die Kontakte zwischen den Taliban und den arabischen „Afghanen“ her und schwor sie auf seine panislamistische Ideologie ein. Offenbar geriet Mullah Omar immer stärker unter den Einfluss Bin Ladens, was sich in der zunehmenden Verhärtung seiner Haltung den USA, den Vereinten Nationen, den Saudis und anderen muslimischen Regimes gegenüber ausdrückte. Die jüngsten Erklärungen der Taliban enthalten panislamistische Parolen, die vorher nicht üblich waren.
Nach Angaben des UN-Drogenbekämpfungsbüros (UNDCP) hat Afghanistan 1999 4 600 Tonnen Opium erzeugt, doppelt so viel wie 1998. Und die Anbaugebiete liegen zu 97 Prozent in den von den Taliban kontrollierten Zonen.5 Wurde das Opium in den achtziger Jahren noch über Pakistan ausgeführt, so verlaufen die Schmuggelrouten heute durch den Iran, die Golfstaaten, Zentralasien und den Kaukasus. Durch diesen Drogenhandel hat Usama Bin Laden seine Aktivitäten finanziert, nachdem man seine Guthaben auf internationalen Banken eingefroren hatte. Nach chinesischer Auffassung wird auch der uigurische Widerstand aus diesem Geschäft finanziert, und auch die usbekische Regierung glaubt, dass Drogengelder in die Kassen des IMU fließen. Der Rauschgiftschmuggel hält den Bürgerkrieg in Tadschikistan in Gang, Tschetschenien wiederum ist zu einem wichtigen Durchgangsland für das afghanische Heroin geworden.
Zum Drogenhandel kommen noch die Einnahmen aus der illegalen Einfuhr von Gütern, Nahrungsmitteln und Benzin auf dem Weg über Afghanistan. In einem riesigen Gebiet, das von Russland über den Kaukasus, Zentralasien und Iran bis Pakistan reicht, wird dieses Geschäft von pakistanischen und afghanischen Lastwagenfahrern betrieben. Das hatte vor allem zur Folge, dass die Entwicklung der lokalen Produktion stagnierte: Die Erzeuger vor Ort können mit dem Angebot von ausländischen unversteuerten Produkten nicht konkurrieren. Für die Staaten wiederum bedeutet diese Schmuggelware gewaltige Steuereinbußen, die allein für Pakistan auf 30 Prozent geschätzt werden. Wie bei den Drogen erheben die Taliban auch Abgaben auf Schmuggelgut, die mittlerweile zu ihrer zweitwichtigsten Einnahmequelle geworden sind.
Die amerikanische Politik seit dem Ende des Kalten Krieges hat keineswegs dazu beigetragen, die Interessenlagen in dieser Region zu klären. Die USA streben vor allem nach wirtschaftlichem Einfluss in einem Gebiet, das reich an Öl- und Gasvorkommen ist. So ließ der US-Multi Unocal eine Pipeline von Zentralasien nach Pakistan durch afghanisches Gebiet bauen – Unternehmungen, die auch dazu beitragen, die Macht der Taliban zu festigen. Darüber hinaus spielten die Taliban als Verbündete Saudi-Arabiens und Pakistans in der anti-iranischen Politik Washingtons eine Rolle. Aber diese Einbindung zeigte nicht die gewünschte Wirkung. Die Taliban mäßigten weder ihre Propaganda noch ihre Praktiken, sei es die Demütigung der afghanischen Frauen oder der Terror gegen die Zivilbevölkerung.6
In jüngster Zeit haben die Vereinigten Staaten einen politischen Kurswechsel vollzogen und im UN-Sicherheitsrat gefordert, in Kabul auf der Ausweisung Usama Bin Ladens zu bestehen. Gleichwohl haben die USA erheblichen Anteil daran, dass diese Bewegung überhaupt entstehen konnte.
dt. Edgar Peinelt
* Journalist, Kabul. Sein Buch „Taliban: Islam, Oil and the New Great Game in Central Asia“ soll im Februar 2000 in London (I. B. Tauris) erscheinen.