Liberalismus versus Freiheit
Von SUSAN GEORGE *
DIE am 30. November in Seattle beginnende WTO-Ministerkonferenz präsentiert sich scheinheilig als harmlose Verhandlungsrunde über den internationalen Waren- und Dienstleistungshandel, in der eben jede Seite Zugeständnisse machen müsse. Schon beim Multilateralen Investitionsabkommen (MAI) wollte man uns weismachen, es handele sich bloß um einige juristische und technische Regelungen ohne große Konsequenzen. Doch damit kann man uns heute nicht mehr kommen. Deshalb wird es zu riesigen Demonstrationen kommen, die den Verhandlungsteilnehmern aus 134 Ländern und den Lobbyisten der multinationalen Unternehmen einen angemessenen Empfang bereiten werden.
In Europa stießen bereits der Bananenstreit und die Versuche der US-Industrie, den Markt mit hormonbehandeltem Rindfleisch und genetisch veränderten Organismen zu überschwemmen, auf wenig Gegenliebe. Diese Versuche trugen vielmehr dazu bei, weite Teile der Öffentlichkeit gegen die Tyrannei dieser internationalen Organisation zu mobilisieren, die sich als höchste Instanz über allen begreift.
Wie konnte es dazu kommen? Am Anfang stand das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt), in dessen Rahmen die Unterhändler der Mitgliedstaaten seit 1947 unauffällig an der schrittweisen Senkung der Importzölle arbeiteten. Im April 1994 waren ihre jahrelangen Bemühungen schließlich von Erfolg gekrönt. Zum Abschluss der von 1986 bis 1993 dauernden Uruguay-Runde unterzeichneten die Mitgliedstaaten in Marrakesch die Gründungsurkunde der Welthandelsorganisation,
tion, ein achthundertseitiges Vertragswerk mit mehreren tausend Seiten Anhängen, das mit seinen Sanktionsmechanismen einen weit verbindlicheren Rahmen vorgibt als das schwachbrüstige Gatt-Abkommen.
Die Lobbyisten der transnationalen Unternehmen, die seit Jahren die offiziellen Verhandlungsdelegationen betreuen, rieben sich heimlich die Hände: Mit der WTO verfügen sie nun endlich über das ideale Instrumentarium, um den Globalisierungsprozess voranzutreiben und allen – nunmehr auf Objekte des Handelsverkehrs reduzierten – menschlichen Tätigkeiten neue Regeln, ihre Regeln vorzuschreiben.
Die WTO, die im Unterschied zum Gatt den Status einer internationalen Organisation besitzt, zählt 134 Mitgliedstaaten, etwa 30 weitere Länder haben Beobachterstatus.
Im Vergleich zur Weltbank oder zum Internationalen Währungsfonds (IWF) ist das WTO-Sekretariat mit seinen 650 Mitarbeitern personell eher bescheiden ausgestattet. Es residiert in demselben Genfer Gebäude wie das alte Gatt. Der neue Generaldirektor, dessen Nominierung von ebenso heftigen wie peinlichen Auseinandersetzungen begleitet war, heißt Mike Moore. Der neuseeländische Neoliberale wird in drei Jahren von seinem glücklosen Mitbewerber, dem Thailänder Supachai Panitchpakdi, abgelöst, der die zweite Hälfte der sechsjährigen Amtszeit ableisten wird.
Das weitläufige WTO-Gebäude am Genfer See beherbergt außer dem Gatt-Sekretariat, das nach wie vor für die Liberalisierung des Warenverkehrs zuständig ist, ein gutes Dutzend weiterer Sekretariate für andere Abkommen. Zu den wichtigsten gehören das Abkommen über den Agrarhandel, das Allgemeine Abkommen über den Dienstleistungshandel (Gats), das mehr als 160 Sektoren und Untersektoren umfasst, darunter auch den Bildungs-, Gesundheits- und Umweltbereich1 , das Trips-Abkommen, das „handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ regelt (einschließlich der Patentierung von Mikroorganismen und mikrobiologischen Herstellungsprozessen), sowie das Trims-Abkommen über „handelsbezogene Investitionsmaßnahmen“.
Auf dem Weg zum Welt-Wirtschaftsgerichtshof
EINES der Hauptziele der WTO, die Beseitigung „nichttarifärer Handelshemmnisse“, ist in zwei Übereinkommen festgelegt, die sich nur scheinbar mit technischen Fragen beschäftigen. Mit den Abkommen über technische Handelshemmnisse (TBT) und die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS) verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten zur (wie es im Jargon heißt) „Harmonisierung“ der umwelt-, gesundheits- und verbraucherschutzrechtlichen Normen und Bestimmungen. Praktisch läuft diese Harmonisierung auf die Etablierung von Minimalstandards hinaus, so dass die Mitgliedstaaten ihre nationale Gesetzgebung in absehbarer Zeit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurückschrauben müssen, unter völliger Missachtung des Vorsorgeprinzips. Wer die Einfuhr bestimmter Produkte verweigert, weil sie die Gesundheit der Bevölkerung gefährden oder die Umwelt zerstören, muss seine Befürchtungen wissenschaftlich begründen. Der Hersteller hingegen braucht nicht zu beweisen, dass seine Produkte für Mensch und Umwelt unbedenklich sind. Eine grundsätzliche Streitfrage zwischen WTO und Mitgliedstaaten wird daher sein, wem die Beweislast zufällt und was geschehen soll, wenn die Wissenschaft an ihre Grenzen stößt und nicht alle Zweifel ausräumen kann.
Die Krönung des ganzen Vertragswerks bildet das berüchtigte Streitbeilegungsorgan (Dispute Settlement Body, abgekürzt DSB), aus dem sich sowohl die exekutive als auch die judikative Macht der WTO ableitet. Zu Zeiten des Gatt hatte die Verhängung von Sanktionen gegen ein Land, das gegen die Gatt-Regeln verstoßen hatte, noch einen einstimmigen Beschluss vorausgesetzt, dem auch der vertragsbrüchige Staat zustimmen musste. Kein Wunder, dass es der Organisation an Autorität fehlte. Mit der WTO kehrt sich der Abstimmungsmodus um. Jetzt herrscht eiserne Disziplin: Wenn der DSB Sanktionen verhängt, kann ihre Nichtanwendung nur beschlossen werden, wenn alle Länder zustimmen, einschließlich des Klägerstaates. Daher gibt es keine rechtliche Handhabe gegen den Beschluss der Vereinigten Staaten, Roquefort, Gänseleber, Dijon-Senf und andere französische Spezialitäten mit prohibitiv hohen Strafimportzöllen zu belegen. Und wenn die Europäer sich trotz WTO-Beschluss weigern, hormonbehandeltes Rindfleisch einzuführen, so können sie das zwar tun, müssen den USA und Kanada aber die Gewinneinbußen ersetzen. Dabei bleibt es der Entscheidung des Beschwerde führenden Landes überlassen, gegen welche Erzeugnisse es seine „Vergeltungsmaßnahmen“ richtet, um den widerspenstigen Gegner womöglich zum Einlenken zu bewegen.
Die „Sachverständigen“ der einzelnen WTO-Panels, die bisher über 170 Streitigkeiten beigelegt haben, werden auf undurchsichtige Weise nominiert. Die Namen dieser Expertenrunden, die hinter verschlossenen Türen tagen, bleiben geheim, Fachleute von außerhalb werden nicht hinzugezogen. Über den Fortgang der Verhandlungen erfährt man so gut wie nichts, nur dass sie erstaunlich schnell zum Abschluss kommen: Die Entscheidungsfindung dauert oft nur zwölf Monate, jedoch nie länger als anderthalb Jahre.
Kanada als weltgrößter Hersteller von Asbestprodukten durfte dank dieses Arbeitstempos hoffen, die Europäer alsbald wieder zur Einfuhr der Krebs erregenden Substanz zwingen zu können: Die Entscheidung sollte Anfang Dezember fallen, pünktlich zur Eröffnung der Ministerkonferenz von Seattle. Nun wurde sie seltsamerweise auf März 2000 verschoben.
Mit ihrem Streitbeilegungsorgan hat die WTO einen veritablen internationalen Wirtschaftsgerichtshof geschaffen, dessen Rechtsprechung und Gerechtigkeitsvorstellung die bestehenden nationalen Gesetzgebungen immer nur als Handelshemmnisse betrachtet und alle umwelt-, sozial- und gesundheitspolitischen Rücksichten als sachfremde Kriterien verwirft.
Damit hält sich die WTO freilich nur an die Grundprinzipien, die ihr ganzes Handeln bestimmen. Die Meistbegünstigungsklausel etwa fordert, ähnliche Erzeugnisse aus verschiedenen Ländern gleich zu behandeln. Auf diese Bestimmung stützte sich die WTO bei ihrer Entscheidung zum Bananenstreit und bestritt der Europäischen Union damit faktisch das Recht auf eine eigenständige Außenpolitik. Eine Banane sei eine Banane, ob sie nun aus Lateinamerika komme oder aus den ehemaligen europäischen Kolonien, den so genannten AKP-Staaten. Das Lomé-Abkommen ist nur noch Makulatur.
Die „Bananenklage“ hatten – auf Rechnung von Chiquita Brands, Ex-United Fruit – die Vereinigten Staaten eingereicht (in diesem Land gibt es bekanntermaßen riesige Bananenplantagen!). Ähnliches droht bei Rum und Zucker, die ebenfalls Gegenstand des Lomé-Abkommens sind.
Das WTO-Prinzip der Inländerbehandlung untersagt jede Diskriminierung ausländischer Erzeugnisse, auch wenn das Empfängerland mit den menschlichen oder ökologischen Bedingungen ihrer Herstellung nicht einverstanden ist. Anders gesagt, die „Produktionsprozesse und -methoden“ dürfen kein Kriterium der Importverweigerung sein. Einzige Ausnahme bilden Erzeugnisse, die von Gefangenen hergestellt werden. Kriterien wie nachhaltige Entwicklung oder Einhaltung der Menschenrechte sind hingegen rechtswidrig: Ob der Handelspartner diese Normen beachtet oder nicht, darf ihm nicht zum Vor- bzw. Nachteil gereichen. Artikel IX über die „Beseitigung mengenmäßiger Beschränkungen“ bestraft Quotenregelungen ebenso wie den Vorbehalt von Einfuhr- und Ausfuhrbewilligungen. Es liegt auf der Hand, dass sich mit dieser Bestimmung zahlreiche multilaterale Abkommen im Bereich des Umweltschutzes und der sozialen Rechte aushebeln lassen.
Wie soll man unter diesen Umständen noch den Handel mit bedrohten Arten oder mit giftigen Abfällen unterbinden, wie in Zeiten der Nahrungsknappheit den Export von Getreide beschränken, oder angesichts zerstörter Wälder die Ausfuhr von Holz verbieten? Mit den Abkommen über die Beseitigung „technischer Handelshemmnisse“ und über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen wird dies immer schwieriger werden. Eine Unmenge von nationalen Normen, Regeln und Gesetzen könnten so zum bloßen „Handelshindernis“ abqualifiziert werden.
Dies sind nur einige der Fallen, die uns auf dem Weg zum nächsten Treffen der höchsten WTO-Entscheidungsinstanz erwarten, der Ministerkonferenz von Seattle. Die Tagesordnung der anstehenden Verhandlungen – eine Überprüfung der Abkommen zum Agrar- und Dienstleistungshandel sowie zum Schutz des geistigen Eigentums – wurde bereits auf den Ministerkonferenzen von Marrakesch 1994, Singapur 1996 und Genf 1998 festgelegt. Darüber hinaus steht in Seattle die Entscheidung an, was in der Millenium-Runde – den pompösen Titel hat Sir Leon Brittan der nächsten Verhandlungsetappe verliehen – konkret erreicht werden soll.
Nach den bisherigen Planungen soll innerhalb der nächsten drei Jahre ein allgemeines Abkommen zur Unterzeichnung kommen. Die Verhandlungen sollen den Liberalisierungsprozess vorantreiben und – das ist oberstes Gebot der WTO – jeden Rückfall hinter den bisher erreichten Stand verhindern. Aus diesem Grund zögern die Vereinigten Staaten, das Trips-Abkommen und die kontroverse Frage der genetisch veränderten Organismen erneut auf den Verhandlungstisch zu bringen, zumal sich die afrikanischen Länder in einem beispiellosen Antrag an das WTO-Sekretariat gegen die Patentierfähigkeit von Lebewesen ausgesprochen haben.
Zwischen der Cairns-Gruppe, einem Zusammenschluss der Hauptagrarexportländer unter Führung der Vereinigten Staaten, und dem als „zu protektionistisch“ geltenden Tandem Europa-Japan bahnt sich ein hartnäckiges Seilziehen an. Nach Ansicht der Cairns-Gruppe sind landwirtschaftliche Erzeugnisse nichts anderes als Waren und müssten daher, wie alle anderen Waren auch, dem freien Wettbewerb ausgesetzt werden. Die Europäische Union besteht dagegen auf der „Multifunktionalität“ der Landwirtschaft, die neben ihrer Produktionsfunktion auch die Artenvielfalt, die Umwelt und das bäuerliche Leben zu schützen habe.2 Die amerikanischen Produzenten wiederum drängen ihre Regierung zu „energischem Widerstand gegen jeden Versuch, das Konzept der Multifunktionalität einzuführen“3 .
Noch ist nicht bekannt, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Bereiche des Dienstleistungs-Abkommens auf den Tisch kommen. Bei dem Wort „horizontal“ sollten jedoch die Alarmglocken schrillen, denn im WTO-Jargon bedeutet dies, dass jede in einem Bereich angenommene Liberalisierungsmaßnahme auch in allen anderen Sektoren anzuwenden ist. Eine Bestimmung zur Liberalisierung im Banken- und Versicherungsgewerbe etwa würde demnach auch für den Bildungs- und Gesundheitsbereich gelten.
Abgesehen von den unterschiedlichen Zielen der WTO-Staaten hat die Wirtschaft ihre eigenen Prioritäten. Die Amerikanische Vereinigung der Dienstleistungsindustrien (USCSI) will schwerpunktmäßig die Bereiche Vertrieb, Finanz, Informationstechnologien, Telekommunikation, Tourismus und Gesundheit behandelt wissen. Die Europäische Gruppe führender Dienstleister (ESLG) unter Leitung des Chefs der Barclays Bank beschäftigt sich hingegen mit 21 Sektoren des Dienstleistungsgewerbes. Zu ihrer Unterstützung hat die Brüsseler Kommission eigens ein elektronisches System eingerichtet, mit dessen Hilfe die „europäischen Verhandlungspartner rasch die Meinung der Industrie einholen können“4 .
Die Amerikanische Vereinigung der Energie-Dienstleister hat die US-Handelsbeauftragte und Verhandlungsführerin Charlene Barshevsky aufgefordert, darauf hinzuwirken, dass der Energiebereich in das Dienstleistungs-Abkommen aufgenommen wird. Angesichts eines Gesamtumsatzes von mehreren hundert Milliarden Dollar steht zu befürchten, dass sich die 27 Mitglieder der Vereinigung in Seattle durchsetzen werden. Als „potentielle Gegner“5 wurden bereits Brasilien, Frankreich und Norwegen ausgemacht, die die Energieversorgung weiterhin in staatlicher Hand belassen wollen.
Ob zu den angeblich schon feststehenden Verhandlungsthemen von Seattle (Agrarhandel, Dienstleistungen, geistiges Eigentum) noch weitere hinzukommen, bleibt abzuwarten. Die Europäer drängen auf möglichst umfassende Verhandlungen und wollen auch die Punkte Investitionen, öffentliches Beschaffungswesen, „Handelserleichterungen“, Wettbewerbspolitik, Umweltschutz, Arbeitsrecht und den Sonderstatus der südlichen Länder auf den Tisch bringen. Sie erhoffen sich davon eine ausgewogenere Kräftebalance, um den Druck Washingtons im Agrarbereich reduzieren zu können.
Eine Agenda ohne die Länder des Südens
DIE amerikanischen Unterhändler hingegen möchten über die Investitionen vorerst nicht debattieren – offenbar aus Vorsicht, oder vielmehr aus Angst, die Bürgerbewegung zu neuem Leben zu erwecken, die im Oktober 1998 das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) zu Fall gebracht hat. Auch mit einem gut geschnürten Dienstleistungs-Abkommen, das ein Recht auf umfassende geschäftliche Präsenz vorsieht, lassen sich für die Investoren beachtliche Vorteile herausschlagen. Den Markt der elektronischen Datenübermittlung möchten die Amerikaner ebenfalls ausklammern: In diesem Bereich gibt es noch keinerlei Regulierungsmaßnahmen und keinerlei Zollschranken, und so soll es ihrer Meinung nach auch bleiben. Das öffentliche Beschaffungswesen, das in den meisten Ländern rund 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, ist natürlich eine profitträchtige Angelegenheit, die man von US-Seite gern auf der Tagesordnung sehen würde. Möglicherweise werden sich die USA jedoch mit der Einrichtung einer Arbeitsgruppe zufrieden geben müssen. Aber auch für die Liberalisierung gilt: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Nicht nachgeben werden die USA bei der so genannten ATL-Initiative, die über einen „beschleunigten Zollabbau“ für acht verschiedene Warensorten einen Nulltarif anstrebt. Neben Schmuck, Spielzeug und medizinischen Apparaturen enthält die Liste beunruhigenderweise auch forstwirtschaftliche und Fischereierzeugnisse. In den letztgenannten Bereichen würden Nulltarife die Zerstörung nicht erneuerbarer Ressourcen beschleunigen. Washington wird in dieser Angelegenheit von sämtlichen Mitgliedern des Asien-Pazifik-Forums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Apec) unterstützt, deren Anteil am Welthandel bei 60 Prozent liegt. Da verwundert es nicht, dass die ATL-Initiative zur Gründung einer weiteren Unternehmensvereinigung Anlass gab: der „ATL Coalition“, die zu ihren Mitgliedern unter anderen Dow, Dupont, Kodak, General Electric und die American Forest and Paper Association zählt.6
Und wo bleiben bei alledem die Länder des Südens? Die Europäische Union wird nicht müde zu wiederholen, dass diese Länder besondere Aufmerksamkeit verdienen. Ob diesen edlen Worten auch Taten folgen werden, bleibt abzuwarten. Vorerst jedenfalls sind viele Länder des Südens noch nicht einmal durch einen Handelsbeauftragten bei der WTO vertreten. Bedauerlich ist auch, dass sie für ihre Konzessionen oft keinerlei Gegenleistung erhielten, etwa im Bereich der Textil- und Bekleidungsindustrie. Ihr vorrangiges Ziel ist daher, dass die Industrieländer ihre in der Uruguay-Runde eingegangenen Verpflichtungen erfüllen. Danach wäre es an der Zeit, weitere Sachfragen zu erörtern. Die zaghaften Ansätze der Vereinigten Staaten und der EU-Länder, über ökologische und soziale Klauseln – insbesondere die Achtung grundlegender ILO-Konventionen – zu sprechen, machen die südlichen Länder misstrauisch. Sie sehen darin nur einen versteckten Protektionismus, der die einzigen realen Vorteile der armen Länder zunichte machen könnte.
Die internationale Bürgerbewegung, die das MAI zu Fall brachte, hat schon kurz nach diesem Erfolg die Welthandelsorganisation in ihr Visier genommen – als eine grundsätzlich undemokratische Institution, die unter dem Generalverdacht der Freiheits- und Umweltzerstörung steht. Von den Verfechtern des Freihandels wurde diese Bewegung immer wieder beschuldigt, sie wolle die Welt in die dreißiger Jahre, in die Zeit der Handelskriege, wenn nicht des militärischen Kriegs zurückprotestieren. Dem hielten die Protestierer stets entgegen, dass der internationale Handel zwar durchaus Regeln brauche, aber eben nicht die der WTO. Das Wirtschaftsvölkerrecht habe sich anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen – der Erklärung der Menschenrechte, den multilateralen Umweltschutzabkommen und den internationalen Arbeitsschutz-Konventionen – unterzuordnen. Die Wirtschaft müsse im Dienst der Bürger und ihrer natürlichen Umwelt stehen, und nicht umgekehrt. In einem Satz: Wer die Liberalisierung zu weit treibt, vernichtet die Libertas.
Mehr als 1 200 Organisationen aus 85 Ländern fordern, die Rechtsprechungsbefugnisse der WTO nicht auf neue Bereiche auszudehnen und die laufenden Verhandlungen so lange einzufrieren, bis Arbeitsergebnisse und Funktionsweise der Organisation untersucht und offen gelegt sind – und zwar unter gleichberechtiger Beteiligung der Bürger. Eine historische Wende im Prozess der „Globalisierung“ bahnt sich an: Millionen Menschen beschäftigen sich, auf nationaler wie internationaler Ebene, mit einem Thema, das nur scheinbar rein technisch, überkompliziert und für ihren Alltag folgenlos ist. Mehrere tausend von ihnen werden in Seattle sein, wo die größte Demonstration in den USA seit dem Demokratischen Parteitag von Chicago im Jahr 1968 erwartet wird.
Die Verhaltensmaßregeln, die die Organisatoren den Demonstranten mit auf den Weg geben, sind klar und deutlich: keine Gewalt gegen Personen oder Sachen, keine Drogen, kein Alkohol, immer in der eigenen fünf- bis zwanzigköpfigen „Bezugsgruppe“ bleiben, klare Verantwortlichkeiten im Fall von Verhaftungen und Provokationen. Ein Rechtsanwaltskollektiv steht bereit, um bei Verhaftungen einzugreifen, was angesichts der Mobilisierung der Ordnungskräfte durchaus nötig erscheint. Die Geheimdienste, das FBI, diverse sonderpolizeiliche Organe und die örtlichen Polizeikräfte wollen ein gigantisches Aufgebot gegen diesen fröhlich lärmenden Umzug auffahren, die nur mit Teach-ins und Straßentheater, mit Spruchbändern und dem Erklettern von Gebäuden operieren wollen.
Und alle werden sich in dem Gefühl einig sein: Wir müssen füreinander einstehen und kämpfen, wenn wir nicht alle am Ende die Verlierer sein sollen. Der Bauer wird sich deshalb nicht nur für seine Landwirtschaft interessieren, der Filmemacher nicht nur für seine Filme, der Verbraucher nicht nur für seine Gesundheit. Es gibt kein isoliertes Problem, seien es hormonbehandelte Rinder oder Bananenimporte, gefährdete kulturelle Vielfalt oder Patentierbarkeit von Lebewesen. Es gibt nur ein Problem namens WTO.
dt. Bodo Schulze
* Präsidentin des Observatoire de la mondialisation (Paris), assoziierte Direktorin des Transnational Institute (Amsterdam), neueste Veröffentlichung: „The Lugano Report. On Preserving Capitalism in the Twenty-first Century“, London (Pluto Press) 1999.