17.12.1999

Denunzieren statt rehabilitieren

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Denunzieren statt rehabilitieren

Von LOÏC WACQUANT *

In den Vereinigten Staaten hat es der Strafverfolgungsapparat, der auf den Trümmern des einstigen Wohlfahrtsstaates wächst und gedeiht, besonders auf Sexualstraftäter abgesehen.1 Wer wegen Sittlichkeitsdelikten verurteilt wurde, war in der puritanisch geprägten US-amerikanischen Kultur schon lange besonders stigmatisiert und Objekt zahlreicher Ängste wie Spezialmaßnahmen. So muss sich beispielsweise in Kalifornien seit 1947 jeder Sexualstraftäter fünf Tage nach der Freilassung aus dem Strafvollzug in der Polizeidienststelle seines Wohnortes melden und dies alljährlich zum gleichen Zeitpunkt wiederholen. Seit 1995 wird dort jeder Sexualdelinquent, der dieser Pflicht nicht nachkommt, mit Freiheitsentzug zwischen 16 und 36 Monaten bestraft (nach seiner dritten Verurteilung droht ihm lebenslange Haft). Bislang konnte ein Sexualstraftäter nach Verbüßung der Strafe wie jeder ehemalige Häftling im Schutze der Anonymität ein neues Leben beginnen. Dies ist nun nicht mehr möglich, seit der Kongress im Jahre 1996 das so genannte Megan’s Law verabschiedete, wonach Sexualstraftäter von den Behörden auf den Index gesetzt, unter permanente Überwachung gestellt und öffentlichen Aggressionen preisgegeben werden.2

Als Folge des neu erwachten Moralismus in der Politik und der exzessiven Berichterstattung über Sexualstraftaten in den Medien hat sich in den letzten zehn Jahren die öffentliche Meinung zum Thema sexuelle Übergriffe gegen Kinder und Bestrafung dieses Tätertyps polarisiert. Aus dieser Stimmungslage heraus wurde die Überwachung aller einschlägig Verurteilten, selbst bei geringfügigen Sittlichkeitsdelikten, dahin gehend verschärft, dass man die Täter nicht mehr als gestört und mithin therapiebedürftig, sondern als unheilbare Triebtäter ansieht, die – unabhängig von Strafmaß, Verlauf der Wiedereingliederung bzw. Verhalten nach der Entlassung – als dauerhafte Gefahr gelten.

In einigen Bundesstaaten müssen öffentliche Personen über die Gegenwart ehemaliger Sexualstraftäter informieren, in anderen Staaten ergreifen die Behörden die Initiative. Während dies mancherorts nur jene Kategorien betrifft, die besonders rückfallgefährdet sind – im Gesetz als „Sexualbestien“ bezeichnet –, gilt dies anderswo unterschiedslos für alle wegen Sittlichkeitsdelikten Verurteilten. In Alabama wird die Liste der wegen Vergewaltigung, Sodomie, sexueller Misshandlungen oder Inzest Verurteilten in den nächstgelegenen Bürgermeisterämtern und Polizeidienststellen ausgehängt. Zudem werden dort in den Großstädten Birmingham, Mobile und Huntsville alle Bewohner persönlich davon unterrichtet, wenn sich in ihrer Nachbarschaft, im Umkreis von etwa 300 Metern, ein Sexualstraftäter niederlässt. In den ländlichen Gemeinden gilt dies für einen Umkreis von 600 Metern.

In Louisiana muss der ehemalige Sexualstraftäter selbst per Post seinen Wohnungseigentümer, seine Nachbarn sowie die Verantwortlichen von Schulen und Parks seines Wohnviertels von seinem Fall unterrichten, ansonsten drohen ihm Freiheitsentzug von einem Jahr und eine Geldstrafe von 1 000 Dollar. Außerdem muss er innerhalb von dreißig Tagen auf eigene Kosten in einer Lokalzeitung eine Anzeige veröffentlichen, mit der die „Gemeinschaft“ über seinen Zuzug informiert wird. Das Gesetz unterstützt ferner „jegliche Art der öffentlichen Bekanntmachung“, auch in Form von Pressemeldungen, Anschlagtafeln, Flugblättern oder Aufklebern an der Stoßstange des einschlägig vorbestraften Autobesitzers. Auch können die Gerichte von einem wegen Sittlichkeitsdelikten Verurteilten verlangen, dass er durch besondere Kleidung seinen Status eines solcherart Verurteilten kundtut – so wie einst die Juden den gelben Stern oder in den Fürstentümern des europäischen Mittelalters den Judenhut tragen mussten.

In Texas hat die Abgeordnetenversammlung 1997 eine Ergänzung zum bundesweit geltenden Megan-Gesetz verabschiedet. Danach sind alle seit 1970 wegen Sittlichkeitsdelikten Verurteilten in einer elektronischen Datenbank zu speichern, die der Öffentlichkeit über die Strafverfolgungsverwaltung zugänglich ist. „Dies bedeutet, dass sich unsere Bürger so mühelos wie noch nie über die relative Sicherheit eines Wohnviertels hinsichtlich potentieller Sittlichkeitsverbrechen informieren können. Auch ist es damit für Arbeitgeber, Schulen und Jugendclubs leichter, Sexualbestien ausfindig zu machen“, erklärt Oberst Dudley Thomas, Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit. Er freut sich, dass nun „ein neues Instrument der Spitzentechnologie dazu beiträgt, Texas noch sicherer zu machen“. Für die bescheidene Summe von 35 Dollar können Privatleute oder Organisationen diese Datenbank auf CD-ROM erwerben: „Die Sexualverbrecher sollen wissen, dass wir wissen, wer sie sind. Und von nun an wissen wir auch, besser als je zuvor, wo sie sich aufhalten.“3

In Kalifornien informiert die örtliche Polizei weitreichend über 64 000 wegen Sexualdelikten Verurteilte (von insgesamt 82 600), die als „schwere Fälle“ oder „stark rückfallgefährdet“ eingestuft werden. Auf Flugblättern und Plakaten, Pressekonferenzen, Stadtteilversammlungen und, in der unmittelbaren Nachbarschaft des Täters, mittels direkter Informationen an der Haustür werden Personenbeschreibung, Vorstrafenregister und Aufenthaltsorte bekannt gegeben. Zudem kann das gesamte Register der Sexualstraftäter über eine kostenlose Telefonnummer und über CD-ROMs bei den zentralen Polizeidienststellen, den Stadtbüchereien und bei den jährlichen Volksfesten in den Counties abgerufen werden.

DER unaufhörliche Medienrummel um Sexualdelikte kreiert eine derartige Hysterie, dass jene Staaten, die sich bei der Verbreitung erkennungsdienstlicher Daten von Sexualstraftätern noch zurückhalten, von den Counties und Städten überholt werden, die ihre eigenen Listen veröffentlichen. In Michigan hat Senator David Jaye die Sache selbst in die Hand genommen und im Internet eine Karte mit den Sexualstraftätern seines Distrikts veröffentlicht. Damit wollte er die Justizverwaltung seines Bundesstaates zwingen, die elektronische Verbreitung des Megan-Registers zu beschleunigen und „diese Sexualbestien, die tollwütigen Hunden gleichen, an die Leine zu nehmen“. In Alaska hat ein Privatmann eine Webseite eingerichtet, die gegen eine Zahlung von 5 Dollar pro Suche, den Zugang zu 500 000 Fotos von verurteilten Sexualstraftätern in den fünfzig amerikanischen Bundesstaaten und auch in Mexiko verspricht.

Diese Politik des Öffentlich-Machens zeitigt entsprechende Folgen: Die Sexualstraftäter werden gedemütigt, beschimpft und belästigt und manchmal sogar gezwungen, fortzuziehen. Viele verlieren ihre Wohnung oder ihren Arbeitsplatz. Andere müssen erleben, dass Jahre oder Jahrzehnte nach der Tat ihr Ruf, ihre Familie, ihr ganzes Leben vernichtet werden, wenn die Verfehlung plötzlich öffentlich gemacht wird. Besorgt beobachten Kriminologen bereits ein neues Phänomen, das sie „Megan’s flight“ nennen, nämlich zum einen die ziellose Flucht der einstigen Sexualstraftäter, die dem hasserfüllten Druck der Bewohner ihrer Gegend nachgeben4 , zum anderen das Abtauchen in den Untergrund derer, die verzweifelt dem öffentlichen Pranger zu entgehen versuchen.

Die Logik der allgegenwärtigen Überwachung durch die Justizbehörden, der in den Vereinigten Staaten allenthalben die benachteiligten, abweichenden und gefährlichen Kategorien von Menschen unterliegen, wird gegenüber Sexualstraftätern besonders unerbittlich eingesetzt; denn ihre Verfehlung ist schändlicher, und zudem erschüttert sie die Grundlagen der familiären Ordnung just in einer Zeit, da die Familie einen Ausgleich für das zunehmende Versagen des Staates in Fragen des sozialen Schutzes bilden soll. Niemand mehr will jene 150 000 Menschen, die alljährlich Sittlichkeitsdelikte begehen, rehabilitieren, es geht nur noch darum, sie „in Schach zu halten“, um „die öffentliche Sicherheit und den Schutz der Opfer zu erhöhen“5 .

Diese allumfassenden Überwachungsmaßnahmen führen jedoch keineswegs dazu, dass sich die Bevölkerung sicherer fühlt. Statt dessen schüren sie die Angst vor sexuellen Angriffen. In Virginia, wo es gerade mal 4 600 registrierte Sexualstraftäter gibt, wurde die entsprechende Webseite innerhalb von fünf Monaten 830 000 Mal mit nahezu fünf Millionen Suchbegriffen aufgerufen. In Kalifornien nutzen tausende Familien, die keinerlei besonderen Anlass haben, sich über einschlägig Verurteilte in ihrer Nachbarschaft Sorgen zu machen, die Jahrmärkte in ihrem County, um in einer Art Cyber-Safari Jagd auf „Perverse“ zu machen. (vgl. Kasten).

Die Register der Sexualstraftäter sind im Übrigen äußerst fehlerhaft. So musste die Justizverwaltung in Michigan zugeben, dass zwischen 20 und 40 Prozent der Namen und Adressen in ihrer Datenbank ungenau sind. Zudem wird auf der Megan-CD-ROM weder der Zeitpunkt der Verfehlungen angegeben (die teilweise bis ins Jahr 1944 zurück reichen), noch wird darauf hingewiesen, dass viele der Delikte längst keine Straftaten mehr sind. Dies gilt beispielsweise für homosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen, die in Kalifornien seit 1976 nicht mehr strafbar sind, aber dennoch unter demselben Code registriert werden wie der sexuelle Missbrauch von Kindern, weshalb sich bis zum letzten Jahr tausende älterer homosexueller Männer regelmäßig bei ihrer Polizeidienststelle melden mussten. Die Situation ist ebenso erniedrigend wie absurd, schließlich kann ein ehemaliger Sexualstraftäter, der pflichtgemäß registriert ist und seinen Wohnsitz korrekt gemeldet hat, ebenso gut außerhalb seines Wohnviertels eine Straftat begehen.

Für die Verurteilten hat das Megan-Gesetz eine zweite Bestrafung eingeführt: die öffentliche Schande, die vor allem in jenen Staaten, die sich als Pioniere bei der Verschärfung des Strafvollzugs hervorgetan haben, eine lebenslängliche Strafe sein kann.6 Damit ist den einschlägig Verurteilten das Recht auf Schutz des Privatlebens verwehrt. Die Brandmarkung der Täter durch Registrierung und öffentliche Bekanntgabe gilt zudem rückwirkend, wobei der Zeitpunkt der Verurteilung dem Ermessen der örtlichen Gesetzgeber überlassen bleibt. In Louisiana gilt das Stichjahr 1992, in Wyoming 1985, in Texas 1970 und in Kalifornien 1947. Jeder einschlägig Verurteilte, auch wenn er sich bewährt und ein neues Leben begonnen hat, muss ständig damit rechnen, „aufgespürt“ und vor seiner Familie, seinen Freunden, Kollegen und Nachbarn an den (symbolischen) Pranger gestellt zu werden, weshalb ehemalige Delinquenten ihren Wohnort immer häufiger verheimlichen und damit in die Illegalität geraten.

Der gesamte politisch-journalistische Rummel um die Überwachungsmaßnahmen, die mit dem Megan-Gesetz eingeführt wurden, scheint die Behörden der Verpflichtung zu entheben, Sexualdelikte durch eine Kombination von Prävention und Behandlung einzudämmen. Es ist offensichtlich kurzfristig billiger und wahltaktisch lohnender, eine Internetseite einzurichten oder der Öffentlichkeit Sterilisationen mittels Hormoninjektion oder Hodenentfernung vorzuführen (so geschehen in Texas oder Wisconsin), als ein Programm für psychiatrische Behandlung während des Strafvollzugs und ein Netz von Therapieeinrichtungen außerhalb der Gefängnisse ins Leben zu rufen. Paradoxerweise ist unter allen Delinquenten die Rückfallquote bei den wegen Triebstörungen Verurteilten besonders niedrig, sofern sie die erforderliche Therapie erhalten: In Fällen von Exhibitionismus, Pädophilie und sexuellen Angriffen gegen Frauen liegt die Quote bei 10 Prozent, im Fall von Pädophilen, die das gesamte Programm der Sexual Disorders Clinic der Medizinischen Fakultät der Johns Hopkins Universität absolviert haben, bei 3 Prozent.7 Doch die Rehabilitation ist längst kein selbstverständliches Ziel der Inhaftierung mehr: Weniger als 10 Prozent der Sexualstraftäter erhalten während ihrer Gefängniszeit eine Behandlung, und ein noch geringerer Prozentsatz wird nach der Entlassung weiterhin therapeutisch betreut.

Das Megan-Gesetz ist kennzeichnend für die allgemeine Tendenz in den USA, Probleme der Armut mit strafrechtlichen Methoden anzugehen. Dabei werden zum einen kostbare Mittel in Form von Geld, Personal und Programmen vom sozialen und medizinischen Sektor des Staates abgezogen und zu Polizei und Justiz umgeleitet. Zum anderen wird die justitielle Aufsicht über jene sozialen Gruppen ausgeweitet, die in der Öffentlichkeit Angst und Abscheu hervorrufen. Und aus dem Interesse heraus, die allgemeine Feindseligkeit gegenüber den „sex offenders“ möglichst schnell in eigene politische Lorbeeren umzumünzen, versprechen die gewählten Volksvertreter bereits, sich künftig für noch strengere Gesetze einzusetzen.

dt. Erika Mursa

* Professor an der University of California, Berkeley, Autor von „Prisons de la misère“, Paris (Raisons d’agir) 1999.

Fußnoten: 1 Vgl. „In den USA wird die Armut bekämpft, indem man sie kriminalisiert“, Le Monde diplomatique, Juli 1998. Zum Import dieses amerikanischen Modells nach Europa vgl. „Die Armen bekämpfen“, Le Monde diplomatique, April, 1999. 2 Das so genannte Megan’s Law (Megan-Gesetze) ist nach Megan Kanka benannt, einem Mädchen aus New Jersey, das von einem unter bestimmten Auflagen freigelassenen Pädophilen vergewaltigt und getötet wurde, der ohne deren Wissen in der Nachbarschaft der Eltern wohnte. Das Gesetz verpflichtet die Polizeibehörden der 50 Bundesstaaten, ehemalige Sexualstraftäter zu „registrieren“ und deren Niederlassung „öffentlich bekannt zu machen“. 3 Presseerklärung des Texas Department of Public Safety vom 13. Januar 1999, auf der Internetseite der texanischen Strafvollzugsverwaltung (http://records.texdps.state.tx.us) verfügbar. Bis zum Mai 1999 hatten fünfzehn Bundesstaaten ihr Register der wegen Sittlichkeitsdelikten Verurteilten ins Internet gestellt. 4 Dies geht so weit, dass die Strafvollzugsverwaltung beabsichtigt, eine Art „Justizreservat“ in einem entlegenen Gebiet einzurichten, wo Verurteilte wohnen, die unter bestimmten Auflagen freigelassen wurden, von der Bevölkerung aber abgelehnt werden. 5 Kim English u.a. „Managing Adult Sex Offenders in the Community: A Containment Approach“, National Institute of Justice, Washington, Januar 1997. Im Jahre 1997 befanden sich etwa 234 000 „sex offenders“ unter Aufsicht der Justiz, davon nahezu zwei Drittel in „überwachter Freiheit“ unter der Aufsicht von Bewährungsbehörden. 6 Die Pflicht zur Registrierung und öffentlichen Bekanntgabe gilt bis zum 90. Geburtstag des Verurteilten in Arizona, sie gilt ein Leben lang in 15 Bundesstaaten, darunter Kalifornien, Texas, Florida und Nevada. Die Akten der Verurteilten bleiben in Florida selbst nach deren Tod im Megan-Register (das im Internet abrufbar ist), unter dem Vorwand, dass dies den Opfern helfen könne, „die Trauer über ihr Leid zu Ende zu bringen“. 7 Vgl. Fred S. Berlin u. a., „A Five-Year Follow-Up Survey of Criminal Recidivism Within a Treated Cohort of 406 Pedophiles, 111 Exhibitionists and 109 Sexual Aggressives: Issues and Outcomes“, American Journal of Forensic Psychiatry, Washington, 12. März 1991.

Le Monde diplomatique vom 17.12.1999, von LOÏC WACQUANT